Читать книгу Mundtot auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 3
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ОглавлениеEs hatte aufgehört zu regnen. Der Asphalt glänzte noch nass und schwarz. Dieser Montagmorgen, Mitte des Monats August, sollte ein schöner Tag werden. Die Bedienung der Back-Factory begann damit, die Tische und Stühle auf den Bürgersteig zu stellen. Nebenan vor dem Handy-Shop stand schon eine Gruppe von Männern, die darauf wartete, Platz nehmen zu können. Der Wind hatte aufgefrischt. Die gelben Säcke für die Müllabfuhr wurden auf die Fahrbahn geweht und dort von den vorbeifahrenden Autos niedergewalzt. Der Plastikmüll verteilte sich auf Fahrbahn und Bürgersteig. Mittlerweile hatte die Gruppe von Männern an den Tischen der Back-Factory Platz genommen. Einige von ihnen hatten sich bereits mit Kaffee und belegten Brötchen versorgt. Es war noch nicht einmal 6 Uhr und die letzten Übriggebliebenen der vergangenen Nacht wankten nach Hause. Bremen-Gröpelingen ist ein Stadtteil, wie es ihn in so vielen deutschen Großstädten gibt: Abgehängt und von den Regierenden vernachlässigt. Knapp 40 % der Wahlberechtigten gingen überhaupt noch an die Urnen. In den hier existierenden Parallelgesellschaften herrschen eigene Regeln und Gesetze, ein abgeschotteter Mikrokosmos.
Die Zahl der Männer, die sich an der Back-Factory aufhielten, war gestiegen. Jeden Morgen spielten sich hier die gleichen Szenen ab. Nicht umsonst wurde diese Ecke auch „Arbeiterstrich“ genannt. Eine Bezeichnung, die das, was sich hier abspielte, durchaus treffend charakterisierte. Die Männer, die an den Tischen saßen oder daneben vor dem Handy-Shop standen, warteten auf „Kunden“, die ihnen für einen oder mehrere Tage schlecht bezahlte Jobs anboten. Für die meist aus Osteuropa stammenden Männer war das in der Regel die einzige Möglichkeit, an Arbeit zu kommen.
Stanimir Yordanov und Radomil Zankov schoben ihre Reisetaschen unter den Plastiktisch und begannen, ihre belegten Brötchen zu essen. Die beiden aus dem bulgarischen Varna stammenden Männer hatten am Vortag per WhatsApp die Nachricht erhalten, dass sie für mehrere Tage auf einer Baustelle außerhalb Bremens gebucht waren. Mehrere Tage bedeutete für sie eine begrenzte Zeit lang eine sichere Einnahmequelle, wenn auch der Lohn, den sie bekamen, bei weitem nicht dem entsprach, was ihnen in Varna von dem Arbeitsvermittler versprochen worden war. Über die Art der Arbeit hatten sie keine Informationen bekommen. Bisher hatten sie auf einer Werft in Bremerhaven Tankreinigungen vorgenommen, eine äußerst schmutzige und gesundheitsgefährdende Tätigkeit. Dann waren sie auf Baustellen in der Bremer Überseestadt zum Einsatz gekommen. Unter anderem hatten sie als Trockenbauer bei der Errichtung eines Übergangswohnheimes für Flüchtlinge gearbeitet. Neidisch hatten sie die Ausgestaltung der Räumlichkeiten beobachtet. Sie selbst wohnten in einer der Nebenstraßen in Bremen-Gröpelingen in einer sogenannten Schrottimmobilie. Ein findiger Immobilienunternehmer hatte dort sanierungsbedürftige Häuser aufgekauft und diese mit rumänischen und bulgarischen Arbeitern vollgestopft. Stanimir und Radomil selbst wohnten mit vier anderen Männern in einem 35 m² großen Raum. Eine Dusche und eine Toilette mussten sie sich mit insgesamt zwölf Männern teilen. Deutschland und die dortige Arbeit war ihnen von ihrem Arbeitsvermittler völlig anders beschrieben worden. Sie seien EU-Bürger und als solche stände ihnen das Tor für eine auskömmliche Arbeit weit offen. Umso größer war nach den ersten Monaten die Enttäuschung. Lohn und Unterkunft stimmten mit ihren Erwartungen bei weitem nicht überein. Radomil drohte des Öfteren, in die Kleinkriminalität abzugleiten. Stanimir war in dieser Hinsicht gefestigter und machte sich so seine Gedanken. Sein Vater war Lehrer in Varna gewesen und ein aktiver KP Funktionär. Nach den Umwälzungen im Ostblock hatte er seinen Job verloren. Sein Sohn Stanimir hatte sein Studium an der Universität Sofia abgebrochen, um seine Familie zu unterstützen. Und so hatte Stanimir gezwungenermaßen das Angebot der Arbeitsvermittlung in Varna angenommen. Bremen war genauso wie Varna eine Hafenstadt. Der Arbeitsvermittler vor Ort hatte ihm von anspruchsvollen Tätigkeiten im maritimen Bereich vorgeschwärmt. Mit diesen Aussichten war Stanimir geködert worden. Maschinenbau, mit dem Schwerpunkt Schiffbau, war seine Fachrichtung im Studium gewesen.
Gerade hatten Stanimir und Radomil ihren zweiten Kaffee getrunken, als ein weißer Ford Transit auf den Bürgersteig vor dem Handy-Shop vorfuhr. Für die beiden Bulgaren war das das Signal zum Aufbruch. Sie griffen sich ihre Taschen und bewegten sich in Richtung Fahrzeug. Der Fahrer des Fords war ihnen wohlbekannt. Ismail Ellek war ihr örtlicher Ansprechpartner der Arbeitsvermittlungsagentur. Ellek betrieb in Bremen eine Art Agentur für ausländische Arbeitskräfte. Er half bei Behördengängen oder beantragte Sozialleistungen bei der Agentur für Arbeit. Ellek galt bei der Bremer Politik als „Vorzeigetürke“, der sich sozial engagierte und sich als gutes Vorbild für gelungene Integrationsarbeit eignete. Nach kurzer Begrüßung stiegen die beiden Bulgaren in den Ford Transit. Auf der letzten Rückbank saßen bereits drei Männer, deren nationale Herkunft für Stanimir auf den ersten Blick nicht erkennbar war. Bisher hatte Ellek auch nichts über das Ziel der Fahrt verlauten lassen, da er pausenlos mit dem Handy Telefonate führte. Stanimir fühlte sich dabei nicht sehr wohl, da Ellek den Kleinbus ausschließlich mit einer Hand fuhr, während er mit der anderen das Handy an sein Ohr hielt. Nach einer halben Stunde hatten sie die Autobahn erreicht. Stanimir, der kaum Deutsch lesen konnte, entzifferte dennoch das Schild, Oldenburg 28 Kilometer. Danach döste er vor sich hin. Ein Ruckeln ließ ihn wieder wach werden. Augenscheinlich hatten sie die Autobahn verlassen. Sie fuhren jetzt auf einer Art Allee, wobei die Bäume alle eine leichte Neigung gen Osten hatten. Nach etwa 20 Minuten tauchte eine Hinweistafel auf: Carolinensiel 8 Kilometer.