Читать книгу Mundtot auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 5

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Am nächsten Morgen saßen alle Beamten des Polizeipostens Wangerooge bei einem gemeinsamen Frühstück zusammen. Rieke Hinrichs hatte zu ihrem Einstand für Brötchen und Aufschnitt gesorgt, was bei ihren neuen Kollegen gut ankam. Zwanglos wurden die Abläufe des Dienstalltags beraten. Die junge Anwärterin bekam auf diese Art und Weise schon einen kleinen Einblick in die Polizeiarbeit auf Wangerooge. Gerade als Onno Siebelts, der formal immer noch der Dienststellenleiter war, über die Verteilung der künftigen Nachtbereitschaften referierte, klingelte das Telefon. Günter Naumann nahm das Gespräch entgegen und aktivierte sogleich die Mithörtaste. Am Apparat war der Küster der St. Nikolai Kirche, Fokko Janssen.

„Als ich heute Morgen die Kirche aufgeschlossen habe, fehlte der Opferstock im Vorraum. Der Kasten ist fest an die Wand gedübelt. Jetzt ist er nicht mehr da. Könnt ihr euch das mal ansehen? Wer macht denn sowas hier?“

„Bleiben Sie bitte in der Kirche. Wir kommen gleich und nichts anfassen.“

Naumann legte den Telefonhörer zurück auf die Station. Onno, als alteingesessener Insulaner, war fassungslos.

„Haben die denn vor nichts mehr Respekt? Jetzt wird schon Spendengeld geklaut und das auf unserer kleinen Insel. Ich fasse es nicht.“

Betretenes Schweigen in der Runde. Lars Petersen beendete die Sprachlosigkeit.

„Es hilft ja nichts. Es gibt Arbeit. Ich gehe mit der Kollegin Hinrichs zur Kirche. Wenn wir mehr Informationen haben, müssen wir einen Aufruf starten. So unter dem Motto, wer hat den Opferstock gesehen? Sachdienliche Hinweise usw. Günter, machst du das?“

Naumann nickte. Petersen hatte, wie immer in letzter Zeit, schon die Chefrolle übernommen. Onno protestierte nicht. So kurz vor der Pensionierung hatte er nicht mehr die Kraft für solche Aktionen.

„Wo ist eigentlich unser Spurensicherungskoffer?“, fragte Petersen.

Onno ging an den hinteren Schrank und stellte einen metallic silbernen Koffer auf den Tisch.

„Hier is‘ he.“

In letzter Zeit brachte Onno immer häufiger wieder plattdeutsche Redewendungen an den Mann. Petersen musste dann immer schmunzeln. Es erinnerte ihn an seine Großeltern, die ausschließlich plattdeutsch miteinander sprachen.

Ohne zu murren, nahm Rieke Hinrichs den Spurensicherungskoffer. Nachdem Petersen sich die Uniformjacke angezogen hatte, zogen beide in Richtung St. Nikolai Kirche los.

Die St. Nikolai Kirche war die evangelische Kirche der Insel und befand sich in der Nähe des Bahnhofs. Sie lag auf einer leichten Anhöhe. Der geklinkerte Kirchenbau war an seiner Rückseite von alten Bäumen umringt. Durch die ständige Ostwanderung der Insel musste die alte Kirche aufgegeben werden. 1866 wurde an gleicher Stelle eine kleine Kapelle errichtet, die dann durch den heutigen Bau, errichtet im Jahre 1910, abgelöst worden war. Petersen, der selbst nicht gläubig war, hatte die Kirche einmal anlässlich eines Gospelkonzertes besucht und sich danach über die Geschichte der Kirche informiert. Er hütete sich, sein geballtes historisches Wissen bei Rieke Hinrichs an die Frau zu bringen. Bei solchen Sachen musste er sich immer etwas zurücknehmen, um wegen seines historischen Interesses nicht oberlehrerhaft rüberzukommen.

Am Eingang der Kirche wurden sie schon von Küster Janssen erwartet. Dieser hatte die Kirche wieder abgeschlossen, um zu verhindern, dass normale Besucher das Gotteshaus betraten. Petersen bat ihn, die Kirchentür noch nicht zu öffnen.

„Wann haben Sie den Diebstahl bemerkt?“

„Heute Morgen als ich aufgeschlossen habe.“

„Ist denn die Kirchentür gewaltsam geöffnet worden?“

„Nein, ich glaube nicht. Ich erkenne keine Aufbruchspuren.“

Petersen begutachtete das Schloss.

„Mmh, ich erkenne auch nichts, schließen Sie mal auf.“

Vorsichtig betraten sie den Eingangsbereich der Kirche. Petersen musterte die Wände. Das Außenfenster war mit einer schönen Glasmalerei versehen. Auf der linken Seite hing ein Regal mit Postkarten, die Naturmotive darstellten. Janssen zeigte auf die Stirnwand.

„Hier sind noch die Löcher der Dübel zu erkennen. Sie sind ausgefranst, wahrscheinlich durch das Aushebeln.“

Petersen nickte. Rieke Hinrichs wurde aufgefordert, Fotos von der Wand zu machen.

„Wenn Sie das heute Morgen bemerkt haben, und die Tür nicht aufgebrochen wurde, dann muss das doch schon gestern passiert sein?“, wandte sich Petersen an den verunsicherten Küster, der bei Petersens Frage einen leicht roten Kopf bekam.

„Ja, darüber denke ich die ganze Zeit schon nach. Ich habe gestern gegen 20 Uhr die Kirche abgeschlossen, aber nichts bemerkt. Wahrscheinlich habe ich den Diebstahl übersehen im alltäglichen Trott. Mir ist das richtig peinlich.“

„Okay, kann passieren. Wer hat denn noch einen Schlüssel?“

„Der Pastor.“

„Den müssen wir dann auch noch sprechen. Jetzt lassen Sie meine Kollegin und mich mal unsere Arbeit machen. Ach, noch was, was war denn da so immer für eine Summe drin, wenn sie den Kasten geleert haben?“

Küster Janssen verzog seinen Mund und wiegte seinen Kopf.

„Ich habe den Opferstock wöchentlich geleert. Mehr als 30 Euro lagen da nie drin.“

Rieke Hinrichs räusperte sich.

„Für so wenig Geld so ein Aufwand, unfassbar.“

Petersen nickte.

Als die beiden Beamten allein waren, öffnete Rieke Hinrichs den Spurensicherungskoffer.

„Fotografieren Sie mal alles aus allen Perspektiven, das reicht. Fingerabdrücke auf der porösen Wand werden wir nicht finden. Wir brauchen den Kasten. Vielleicht kann uns der Janssen ein Bild besorgen.“

Petersen kratzte sich seinen Bart und ging in das Kirchenschiff. Die Schlichtheit des Raumes beeindruckte ihn. Hinter dem Altar sah er das schlichte Holzkreuz, rechts hing ein Segelschiffsmodell an der Decke, und an der Wand war ein Rettungsring angebracht. Der maritime Charakter dieses Raumes gefiel ihm. Langsam ließ er sich auf eine der Kirchenbänke nieder und vergaß einen Moment seine Umwelt und den Grund, warum er hier war. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass Rieke Hinrichs im Gang der Kirche vor ihm stand.

„Sind Sie gläubig, Chef?“, fragte sie vorsichtig. Er schüttelte den Kopf.

„Nee, aber ich finde Kirchen als Orte der Besinnung und als bauhistorische Denkmäler immer wieder interessant.“

„Oha, Sie sind ja ein richtiger Intellektueller“, Rieke grinste ihn schelmisch an.

„Sind Sie fertig mit den Fotos?“

Petersen ignorierte ihre Bemerkung und wurde dienstlich.

„Wer macht so etwas, Täterprofil?“

Er forderte sie mit einer Handbewegung auf, sich hinzusetzen.

Nach kurzer Pause des Nachdenkens versuchte sie zu erklären.

„Normale Inselbewohner würde ich ausschließen. Da gibt es immer noch Respekt vor der Kirche und den gesammelten Geldern, die ja für einen guten Zweck bestimmt sind. Touristen würde ich auch mal ausschließen.“

„Schulklassen?“, unterbrach Petersen.

„Ja, Mutproben, Dumme-Jungs-Streiche, das halte ich für möglich. Na ja, und dann der Klassiker, Drogis, die kennen keine Hemmungen, um an Kohle für die Befriedigung ihrer Sucht zu kommen.“

Petersen nickte.

„Einverstanden. Ich denke noch an Personen, die emotional mit der Insel nichts zu tun haben und hier nur kurzfristig arbeiten, schlecht bezahlte Leute. Okay, viel hilft uns das auch nicht weiter. Wir brauchen ein Foto von dem Opferstock, das geben wir dann an die Zeitungen.“

„Bei so einer Lappalie?“, warf Rieke Hinrichs ein.

„Stimmt, in der Großstadt würden wir bei so einem Delikt keinen Finger krumm machen und gleich einen Brief rausschicken, Verfahren eingestellt. Hier hat das aber eine andere Bedeutung. Die Kirche auf einer kleinen Nordseeinsel wird beraubt, das hat symbolische Bedeutung. Na ja, es könnte sein, dass wir durch die Bilder in der Zeitung ja tatsächlich Hinweise bekommen.“

„Vielleicht sollten wir in den Geschäften Aushänge machen“, schlug Rieke vor.

„Sehr guter Vorschlag, viele Leute lesen ja heute keine Zeitung mehr.“

Sie freute sich über das Lob ihres Chefs. Langsam erhoben sie sich, packten die Sachen zusammen und gingen in Richtung Gemeindehaus. Dort hatten sie Glück, ein Bild des Opferstocks war vorhanden. Küster Janssen versprach, es zur Wache zu mailen. Auch Pastor Jensen trafen sie an. Den Kirchenschlüssel hatte er immer am Schlüsselbund, somit konnte hier ein Diebstahl des Schlüssels ausgeschlossen werden.

In der Wache wurde sofort ein kleiner Zeitungstext mit Bild aufgesetzt und an die NWZ und an das Jeversche Wochenblatt weitergeleitet. Rieke Hinrichs kümmerte sich um die Gestaltung eines Flugblatts.

„Wo wollen wir das austeilen bzw. aushängen?“, fragte Günter Naumann.

Onno Siebelts der Noch-Leiter des Reviers und Urgestein der Insel meldete sich.

„Das übernehme ich. Es reichen die beiden Bäckereien und Supermärkte, da kommen alle vorbei.“

Er nahm sich ein paar Blätter, die gerade aus dem Kopierer rauschten und zog ab. Petersen war froh, dass Onno sich nicht ausgeschlossen fühlte und ab und an noch Aufgaben übernahm. Naumann meldete sich zu einer Streifenrunde ab. Eigentlich wollte er Rieke Hinrichs mitnehmen, aber Petersen wiegelte ab.

„Wir haben noch etwas vor, wir beide.“

Naumann grinste. Rieke sah ihren Chef zweifelnd an.

„Wir haben noch jemandem einen Besuch abzustatten.“

Rieke Hinrichs konnte mit diesem Hinweis nichts anfangen, wollte aber auch nicht weiter nachfragen. Nach etwa einer halben Stunde blickte Petersen auf die Zeiger seiner alten analogen Uhr.

„Okay, wir können jetzt los.“

„Wohin los?“

„Abwarten.“

Mit einem verschmitzten Lächeln forderte er Rieke auf, ihm zu folgen. Über die Kapitän-Wittenberg-Straße bogen sie in die Friedrich-August Straße ein. Als Rieke die grünen Jever Sonnenschirme sah, ahnte sie, was jetzt kommen würde. Ein grünes Schild hing über dem Eingang der Kneipe. „Zum Störtebeker“ stand dort geschrieben. Die Leuchtreklame war noch nicht eingeschaltet. Im Fenster neben der Eingangstür sah sie eine Fotografie von einem Bierglas. An dem Bierglas befand sich Grünzeug, sieht irgendwie nach Basilikum oder Minze aus, dachte sie sich. Über dem Bild stand: „Cocktail des Tages.“ Petersen öffnete die Kneipentür. Hinter der Theke war niemand zu sehen.

Petersen brüllte ein lautes „Moin“ in den Raum. „Polizei hier.“

Rieke Hinrichs musterte den Kneipeninnenraum. Überall hingen Fischernetze, Reusen und Fischkisten von der Decke. Links auf der Empore saß der große Mann, der sie gestern auf der Straße angepöbelt hatte, Kurzhaarfrisur, dunkle Brille. Er zog langsam an seiner Zigarette, verzog keine Miene und starrte aus dem Fenster. „Der hat Gag Tourette“, hatte Petersen gestern zu ihr gesagt. Dieser Gedanke ging ihr durch den Kopf, als Petersen und sie auf die Empore kletterten.

„Die Kneipe ist noch zu. Musst du jetzt schon trinken, Sheriff? Dann machst du es nicht mehr lange“, wurde Petersen angeblafft.

„Wir sind dienstlich hier“, antwortete Petersen sehr förmlich. „Es liegt eine Anzeige gegen dich vor.“

Dem Magister entgleisten die Gesichtszüge.

„Die Musik war doch gestern gar nicht laut. Ich glaub‘, ich spinne. Deutschland ist ein Land von Querulanten geworden.“

Jetzt war es vorbei mit seiner Coolness. Etwas zittrig fingerte er eine neue Zigarette aus der Packung.

„Welches Arschloch war das?“

„Darum geht es doch gar nicht. Es liegt uns eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung vor.“

Langsam verstand Rieke, welches Spiel Petersen mit dem Wirt trieb. Krampfhaft versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen.

„Beamtenbeleidigung, du hast ja ein Rad ab. Wen soll ich denn beleidigt haben?“

„Du hast meine junge Kollegin als Pumuckl bezeichnet.“

„Wer will das denn angezeigt haben?“

Petersen kramte aus seiner Uniformjacke ein Anzeigenformular heraus.

„Gäste vom Café Treibsand.“

„Ich glaub mein Schwein pfeift, das war doch ein Spaß. Ich wollte das junge Mädchen doch nicht beleidigen.“

„Vorsicht, dünnes Eis, junges Mädchen geht gar nicht.“ Petersen blieb ernst. Der Magister wandte sich jetzt an Rieke.

„Ich wollte dich nicht beleidigen. Erst einmal willkommen auf Wangerooge. Ich bin der Magister, Nachfahre des einzigen akademischen Seeräubers, Magister Wygbold.“

Petersen rollte mit den Augen.

„Es gibt nur eine Möglichkeit, aus der Sache glimpflich rauszukommen, ein Bußgeld in Form zweier Getränke.“

Rieke konnte sich nicht mehr halten. Der Magister verlor die Fassung.

„Du Halunke hast mich verarscht. Das sind Mafiamethoden, die Polizei erpresst sich die Zeche. Das kenn‘ ich nur von St. Pauli, wo die Bullen im Puff umsonst vögeln durften. Also gut, was wollt ihr trinken?“

Jetzt nicht, wir sind hier in Uniform. Es wird sich noch eine Gelegenheit ergeben. Die Stimmung war jetzt entspannt.

„Und auf sowas fall‘ ich rein“, murmelte der Magister.

Dann sprach er Rieke an.

„Wo kommst du denn her?“

Brav, wie eine Schülerin, antwortete sie:

„Aus Delmenhorst bei Bremen.“

„Das ist bitter.“

Petersen konnte sich kaum halten vor Lachen. Auch Rieke musste grinsen, obwohl der Gag auf ihre Kosten ging. Danach machten die beiden Polizisten den Abgang. Vor der Kneipe lache Rieke. „Geile Nummer, Chef.“

Mundtot auf Wangerooge

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