Читать книгу Mundtot auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 6
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ОглавлениеEs waren zwei Tage vergangen, ohne dass es einen Hinweis auf den verschwundenen Opferstock gab. Der Diebstahl hatte zwar auf der Insel für großes Aufsehen gesorgt und wurde heiß diskutiert, aber ein Ermittlungsfortschritt war nicht erkennbar. Heute frühstückte Petersen in seiner Dienstwohnung. Onno hatte einen Arzttermin, Günter Naumann wegen seiner Nachtbereitschaft den Vormittag frei und Rieke Hinrichs wollte am Strand Joggen gehen. Gestern Abend hatte Mona angerufen, um sich nach der neuen Anwärterin zu erkundigen. Als Petersen wahrheitsgetreu den Begriff „Kampflesbe“ gebrauchte, bekam er von ihr sogleich einen Einlauf.
„Was soll denn dieser Chauvispruch?“
„Das hat sie wirklich als erstes zu mir gesagt“, hatte Petersen beteuert.
„Vielleicht wollte sie gleich einen Riegel vorschieben, damit du sie nicht angräbst.“
„Quatsch, ich grabe keine Anwärterinnen an.“
Lachen in der Leitung.
„Stimmt, ich habe mich dir zu Füßen geworfen.“
Jetzt hatten beide gelacht. Das Verhältnis zu Mona hatte sich verändert. Irgendwie war beiden klar, dass auf die Distanz eine Beziehung nicht funktionieren würde. Hinzu kam der große Altersunterschied. Wenn sie sich trafen, kam es zwar immer zu einem erotischen Knistern, aber Besitzansprüche wurden nicht mehr erhoben.
Petersen blickte sich in seiner Dienstwohnung um. Er hatte Poster und Bilder aufgehängt, aber es war immer noch eine Dienstwohnung mit dem Charme der 60iger Jahre. Eigentlich suchte er, nachdem er sich für ein Bleiben auf der Insel entschieden hatte, nach einer eigenen Wohnung. Hier aber saß er nun, genauso wie andere Inselbewohner, in der Falle. Bezahlbarer Wohnraum war rar. Die finanzstarken Investoren vom Festland hatten die Insel im Würgegriff. Es wurde zwar auf der Insel viel gebaut, aber eben nur Ferienwohnungen, die die Hälfte des Jahres leer standen. In den dunklen Monaten glich die Insel einer Geisterstadt, dunkle Wohnungen ohne Ende. Hausmeisterdienste und Ferienwohnungs-Vermittlungen hatten Hochkonjunktur. Sogar die Menschen, die dort arbeiteten, besaßen selbst keinen bezahlbaren Wohnraum. Auf dem Weg nach unten in die Diensträume begegnete er Rieke Hinrichs, die völlig außer Atem vom Jogging kam.
„Dass der Deich da hinten erhöht wird, das hätten Sie mir ja mal sagen können. Ich wollte so schön vom Strand über den Deich zurücklaufen.“
„Hallo, Sie haben mich ja nicht gefragt. Woher soll ich denn wissen, wo Sie joggen?“
„Ist ja gut, war nicht ganz ernst gemeint. Ich springe schnell unter die Dusche und melde mich dann dienstbereit.“
„Aye, Aye!“
Fast hätte er ‚Sir‘ gesagt. Das Wort war ihm aber im Halse stecken geblieben. Die weibliche Form kannte er nicht. Dann lieber nichts sagen, bevor er böse Blicke kassiert hätte. Nachdem er seinen PC hochgefahren hatte, studierte er das Reviertagebuch. In der vergangenen Nacht war es ruhig geblieben, keine Ruhestörungen, wie sie sonst in den langen Sommernächten üblich waren. Das Telefon läutete, die Nummer verhieß nichts Gutes, Notrufzentrale Oldenburg. Jemand auf der Insel musste die 110 gewählt haben.
„Moin Kollege, nichts Schlimmes, keine Leiche oder ähnliches. Wir haben eben einen anonymen Anruf bekommen. Bei euch ist doch in der Kirche was geklaut worden. Ich spiel dir das mal vor.“
Inzwischen hatte Rieke Hinrichs das Dienstzimmer betreten. Petersen drückte die Mithörtaste.
„Kasten von Kirche liegen bei stables, Container“, stammelte die Stimme.
Der Anrufer sprach augenscheinlich nur gebrochen Deutsch und benutzte dann eine englische Vokabel.
„Kannst du mir das Gespräch als Datei auf meinen PC senden. Ihr archiviert die Gespräche doch immer“, bat Petersen.
„Okay, wird gemacht, noch schönen Tag bei euch da oben.“ Dann beendete der diensthabende Beamte in der Notrufzentrale Oldenburg das Gespräch. Petersen und Rieke schauten sich ratlos an.
„Was war das denn?“ Rieke verzog ihr Gesicht.
„Warten wir mal auf die Datei, stables heißt doch Stall auf Deutsch, oder hab‘ ich in der Schule nicht aufgepasst?“
Rieke nickte. Ein kurzer Ton aus dem PC signalisierte, dass die Datei angekommen war. Dreimal hörten sich die beiden Beamten den Anruf an. Dann ging Petersen an den Inselplan, der an eine Wand neben den Schreibtischen geheftet war.
„Der Anrufer will uns sagen, dass der Opferstock bei einem Stall liegt.“
„Gibt es denn auf der Insel Ställe?“
„Ja, ich glaube wir haben drei Reitställe. Ich such‘ die gerade mal hier auf der Karte.“
Petersen fuhr mit dem Zeigefinger über den Lageplan.
„Notieren Sie mal eben!“
„Einmal Richthofenstraße, dann Am Alten Deich und hier haben wir noch einen in der Rösingstraße, einen Ponyhof.“
Rieke legte den Zettel mit den Straßennamen auf Petersens Schreibtisch.
Petersen nahm den Zettel, legte ihn dann aber wieder weg, und kratzte sich seinen Dreitagebart.
„Welche Nationalität hatte der Anrufer, haben Sie eine Vermutung?“
Rieke kräuselte ihre Stirn.
„Ich tippe auf Osteuropa.“
Petersen nickte. Er vermutete in die gleiche Richtung.
Rieke fiel noch etwas ein.
„Auf der Polizeischule haben die uns erzählt, dass es jetzt Assistenzprogramme gibt, mit denen man Dialekte und Sprachen entschlüsseln kann, wurde für das BAMF entwickelt. Sie wissen schon Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Damit soll die Identität von Flüchtlingen festgestellt werden, die keine Papiere dabeihaben.“
Petersen grinste seine junge Kollegin an.
„Sehr gut aufgepasst. Sie bringen es noch bis zur Kriminalrätin.“
„Verarschen kann ich mich alleine“, giftete Rieke zurück.
„Ein bisschen Spaß muss sein“, intonierte Petersen.
Jetzt musste Rieke lachen.
„Schreckliche Schlagermucke, Ihre Altersklasse.“
„Moment Mal, Schlager werden doch im Moment vor allem von jungen Menschen gehört. Wer feiert denn heute im Dirndl und in Lederhosen? Aber nun mal Schluss mit der Alberei. Für so eine Lappalie, wie unseren Opferstock, setzten die doch nicht solche aufwändigen Programme ein. Vor allem, was bringt uns das? Wir müssen die Kiste erst einmal finden.“
Auch Rieke wurde jetzt wieder ernst.
„Wie gehen wir vor, Chef?“
„Jetzt kommt gute alte Polizeiarbeit, abklappern und suchen.“
In diesem Moment betraten Onno Siebelts und Günter Naumann die Wache. Petersen brachte sie kurz auf den neuesten Stand. Sie beschlossen, sich aufzuteilen. Der Hinweis auf die Container sprach für den Stall an der Richthofenstraße. Onno und Günter übernahmen den Ponyhof, Petersen und Rieke die beiden anderen Ställe. Die Besitzerin des Reiterhofs am Alten Deich verhielt sich sehr kooperativ und half beim Suchen. Aber nach einer halben Stunde gaben sie die Suche auf. Über den Teilabschnitt des neu erhöhten Deichs gingen Petersen und Rieke zur Richthofenstraße. Hier war das Gelände etwas unübersichtlicher, überall Büsche und hohes Gras. An der Grenze zum Betriebshof der NLWKN (Niedersächsischer Landesbetrieb Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz) meinte Rieke, ein Blinken in der Sonne gesehen zu haben. Sie fluchte über das Dornengestrüpp, das ihren Händen rote Striemen zufügte. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Da lag er, der schwarzbraune Kasten, etwas verbeult. Die Vorderklappe war aufgerissen. Da sie nichts falsch machen wollte, rief sie nach Petersen.
„Chef, ich hab‘ ihn!“
Nachdem Petersen sich stöhnend durchs Gestrüpp durchgekämpft hatte, fingerte er seine Plastikhandschuhe aus der Uniformjacke und nahm den Opferstock unter den Arm.
Im Besprechungsraum wurde der Opferstock auf den Tisch gestellt. Petersen holte den Spurensicherungskoffer aus dem Schrank und wandte sich an seine Auszubildende.
„Nun zeigen Sie mal, was Sie auf der Polizeischule gelernt haben.“
Rieke rollte zwar mit den Augen, aber ohne zu murren, begann sie, den Metallkasten mit dem schwarzen Tonerpulver einzupinseln, um mögliche Fingerabdrücke sichtbar zu machen. Onno und Günter waren inzwischen auch vom Ponyhof zurückgekommen, nachdem Petersen ihnen den Fund des Opferstocks gemeldet hatte.
Gerade als alle eine Kaffeepause machen wollten, betrat eine Frau das Dienstzimmer. Sie hatte eine Kurzhaarfrisur und um ihren Hals ein regenbogenfarbenes Tuch gewickelt. Das mit Nordseemotiven bedruckte T-Shirt passte farblich zu dem fußlangen seidenen Rock. Petersen, der gerade am Tresen der Wache stand, musterte die Frau aufmerksam. Freundlich fragte er:
„Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Ich möchte Anzeige erstatten“, kam es in einem etwas ärgerlichen Ton zurück. Petersen nahm aus der Ablage ein Anzeigenformular.
„Was möchten Sie denn nun anzeigen?“
„Das Schiff da draußen.“
„Ich verstehe Sie nicht. Sie wollen ein Schiff anzeigen?“
Ihm stand das Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Die anderen Beamten drehten neugierig ihre Köpfe in Richtung Tresen. Selbst Rieke im Nebenraum hörte auf zu pinseln und versuchte, die Unterhaltung zu belauschen.
„Ich hab‘ mich wohl falsch ausgedrückt“, korrigierte die Frau.
„Da draußen vor der Insel fährt ein relativ großes Schiff auf und ab und stößt schwarzen Rauch aus. Ich denke, die verbrennen da etwas. Das ist doch illegal, Müllverbrennung oder etwas Ähnliches. Diesen Vorgang möchte ich untersucht wissen.“
Petersen entgleisten die Gesichtszüge. Hinter seinem Rücken spürte er die grinsenden Blicke seiner Kollegen. Sie alle warteten gespannt, wie er wohl reagieren würde.
„Ich glaube Sie sind hier falsch, da müssen Sie sich an die Umweltbehörde wenden.“
„Ich lass‘ mich hier nicht abwimmeln. Sie sind die Polizei und verpflichtet, mögliche Straftatbestände aufzuklären.“
Wo sie Recht hat, hat sie Recht, dachte Petersen und versuchte es andersherum.
„Wie sieht das Schiff denn aus? Können Sie es beschreiben?“
Die Frau kramte in ihrem Leinenbeutel, auf dem etwas von Nordseeheimat geschrieben war.
„Gelber Schornstein, schwarzer Rumpf und die Umrandung des Schiffes ist rot angestrichen.“
„Mmh, das sieht nach einem Behördenfahrzeug aus.“
„Wonach das aussieht, ist mir völlig egal. Ich möchte, dass das geklärt wird.“
Der Ton verschärfte sich. Die Stimme der Beschwerdeführerin wurde schriller. Petersen begann leicht zu schwitzen. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Zum Glück schaltete sich jetzt Onno ein.
„Ich lebe jetzt schon über 30 Jahre auf der Insel. Ich tippe auf ein Baggerschiff.“
„Worauf Sie tippen, ist mir völlig egal. Ich möchte Gewissheit!“
Ihre Stimme überschlug sich jetzt. Günter Naumann, der ja nur im Hochsommer auf der Insel seinen Dienst tat und sonst in Cuxhaven beheimatet war, machte einen Vorschlag.
„Wir rufen jetzt die Revierzentrale in Wilhelmshaven an und fragen nach, um welches Schiff es sich handelt.“
Die Frau zeigte durch ein kurzes Nicken ihr Einverständnis. Naumann nahm sich das Telefonbuch vor und Petersen googelte nach der Nummer der Revierzentrale. Petersen war schneller und griff sofort zum Telefonhörer. Der wachhabende Beamte schien ihn nicht ernst zu nehmen.
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, seit wann interessiert sich denn die Polizei auf Wangerooge für den Schiffsverkehr?“
Petersen versuchte, ihm die Situation möglichst unkompliziert zu erklären. Nachdem der Mann verstanden hatte, welches Problem Petersen hatte, warf er einen kurzen Blick auf die Marine Traffic Karte.
„Das ist die ‚Nordsee‘, unser Saugbagger, der bearbeitet die Fahrrinne. Und damit die Dame beruhigt werden kann, das Schiff kann auch zur Ölbekämpfung eingesetzt werden.“
Ironisch fügte er noch an.
„Mann, oh, Mann, eure Probleme möchte ich haben, einmal Polizist auf Wangerooge sein.“
Petersen ersparte es sich, den letzten Spruch zu kommentieren. Freundlich erläuterte er die neu gewonnen Erkenntnisse der besorgten Bürgerin. Sie schien sich mit der Erklärung zufrieden zu geben. Petersen war erleichtert. Im Rausgehen gab sie aber noch einen Hinweis.
„Sie können den Behörden ruhig empfehlen, im Schornstein dieses Schiffes einen Rußfilter einzubauen.“
Die Außentür fiel ins Schloss. Erleichtert ließen sich die Beamten in ihre Bürosessel fallen.
Von Onno kam nur, „wat ist denn nun mit Tee?“
Als alle gegangen waren, überkam Lars Petersen der Blues. Hier saß er nun im Dienstzimmer und ließ den Tag Revue passieren. Kleinkram, die Suche nach dem Dieb des Opferstocks, Inhalt maximal 30 €, dann eine Frau, die ein Schiff anzeigen wollte. Er zweifelte an seiner Entscheidung, auf der Insel zu bleiben. Er verbrachte die Tage in einer öden möblierten Dienstwohnung, keine Beziehung in Sicht. Die Frau, die er begehrte, war zu jung und viel zu weit weg. Der Inselkleinkram begann, ihn zu langweilen. Er hatte für seine letzten Dienstjahre die Ruhe gewollt, aber jetzt ging sie ihm gehörig auf die Nerven. Eigentlich müsste er jetzt zum Magister gehen und sich volllaufen lassen. Allerdings warnte ihn seine innere Stimme. Frust Saufen nahm meistens kein gutes Ende. Er hatte diesbezüglich auf der Insel schon einschlägige Erfahrungen gemacht. Mona anrufen? Keine Option. Ihre Stimme zu hören, würde den Blues verstärken. Also blieb ihm nur der wirkliche Blues. Er raffte sich auf, schloss alle Türen ab und ging in seine Wohnung. Um sicher zu gehen, dass er unbegrenzt den Verstärker aufdrehen konnte, klopfte er bei Rieke, die aber nicht zu Hause zu sein schien. Er schnappte sich seine Gitarre und freute sich, mal wieder ohne Kopfhörer spielen zu können. Diesmal spielte er nicht die gängigen Gitarrenriffs der Rockgeschichte, sondern improvisierte sich seinen eigenen Blues zusammen. Nicht ahnend, dass mittlerweile Rieke nach Hause gekommen war und sich als stille Zuhörerin auf die Treppe gesetzt hatte.