Читать книгу Mundtot auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 8

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Am nächsten Morgen war Petersen sehr zeitig aufgestanden. Eine innere Unruhe hatte ihn erfasst. Auf seinen Instinkt konnte er sich bisher immer verlassen. Er spürte, dass sehr viel Arbeit auf sie zukommen würde. Gegen 7 Uhr hatte er bereits Brötchen geholt. Seine alte Bekannte Rita Kolbow hatte ihn bedient. Sie bat ihn um ein halb dienstliches Gespräch, wobei er mit dem Begriff halb dienstlich nichts anfangen konnte. Steckte sie in Schwierigkeiten? Auf alle Fälle wollte sie nicht auf die Wache kommen. Sie verabredeten sich auf einen Kaffee am „Hangar 7“ am Bahnhof. Auf dem Rückweg joggte Rieke Hinrichs an ihm vorüber.

„Bis gleich Chef“, rief sie ihm zu.

Petersen musste sich immer wieder wundern über die Energie, die in dieser Frau steckte. Ihre Grundgeschwindigkeit war für seine Begriffe enorm hoch. Eigentlich war er sehr froh, dass er eine topfitte Kollegin an seiner Seite hatte. Nachdem er den Tisch für die Kollegen gedeckt hatte, fuhr er seinen PC hoch, in der Erwartung eines Obduktionsberichtes aus Oldenburg. Gespannt öffnete er sein E-Mail-Postfach. In der Tat, der sechsseitige Bericht lag vor. Zu seinem Bedauern wurde er gestört. Günter Naumann betrat das Dienstzimmer mit einem kräftigen „Moin“. Da Petersen seinen flauen Magen spürte, entschloss er sich, zuerst mit den anderen Kollegen zu frühstücken. Mit leerem Magen konnte er nicht vernünftig denken. Onno frühstückte sowieso immer zu Hause. Inzwischen war auch Rieke Hinrichs in der Wache eingetroffen, frisch geduscht und gegelt. Ihre kurzen roten Haare standen ihr leicht punkig vom Kopf.

„Der Obduktionsbericht aus Oldenburg ist da. Ich hab‘ ihn noch nicht gelesen“, referierte ein kauender Petersen. „Ich möchte, dass jeder ihn für sich liest, und wir dann unsere Eindrücke vergleichen. Die Rechtsmediziner schreiben ja immer so ein Fachchinesisch.“

Alle Anwesenden nickten zustimmend. Nach einer halben Stunde war das Frühstück beendet. Auch Onno war inzwischen eingetroffen und die Beamten widmeten sich jetzt dem Obduktionsbericht. Nach der Lesepause rückten sie ihre Stühle zu einem Kreis zusammen. Petersen musste innerlich lachen. Im Praktikum seines Lehramtsstudiums wurde sowas Stuhlkreis genannt. Onno unterbrach das Stühlerücken.

„Dübel ok, jetzt haben wir einen Mord am Hals.“

Alle nickten zustimmend.

„Wobei der Schlag auf den Kopf nicht die Todesursache ist, die Atemwege haben sich mit dem Schlick vollgesogen, der ist elendig erstickt“, erläuterte Petersen.

Auf Riekes Wangen zeigten sich deutlich rote Flecke. Die Aufregung, es war ja ihre erste Mordsache, konnte man ihr deutlich anmerken.

„Ja, aber, wenn ich auch etwas dazu sagen darf?“ Alle nickten

„So viel Schlick, wie unsere Leiche in den Atemwegen hatte, kommt da nicht von alleine rein. So habe ich es jedenfalls verstanden.“

„Dem hat jemand das Maul gestopft“, bemerkte Günter Naumann trocken.

Petersen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, obwohl der Tatbestand in keinem Fall witzig war. Ihre Gedanken wurden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Petersen ahnte, dass das nur sein Vorgesetzter Kriminalrat Wilbert aus Wilhelmshaven sein konnte, der inzwischen auch den Obduktionsbericht auf seinem Rechner hatte. Wilbert war vor einiger Zeit vom 1. Hauptkommissar zum Kriminalrat befördert worden.

„Moin, Kollege Petersen, jetzt haben wir wieder den Salat. Ich hab‘ den Bericht gelesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer jemand von der Insel ist, scheint mir recht groß zu sein. Bevor wir hier mit dem großen Besteck aus Wilhelmshaven anrücken, möchte ich vorerst die Ermittlungen in Ihre Hände legen. Wenn Sie wissen, wer das Opfer ist, bekommen Sie Unterstützung von uns. Und Petersen denken Sie daran, jeder Täter gibt bei seinen Verbrechen etwas über sich preis.“

„Ach was“, konterte Petersen in der Manier von Loriot.

Wilbert neigte in letzter Zeit dazu, seine Weisheiten, die er in Coaching- und Supervisionssitzungen vermittelt bekommen hatte, an seine Untergebenen weiterzureichen. In der Regel waren es Binsenweisheiten, die zu jeder Polizeiausbildung gehörten. Nach Ende des Gesprächs starrten alle Anwesenden Petersen in gespannter Erwartung an. Es entstand eine kurze Pause. Petersen lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück.

„Ich brauch‘ eine Seekarte“, kam es aus seinem Mund.

Fassungslos starrten ihn seine Kollegen an.

„Willst du jetzt segeln gehen? Das lass man lieber. Das ist schon beim letzten Mal schief gegangen“, orakelte Onno.

„Ich denke, der Chef will rauskriegen, von wo die Leiche angeschwemmt sein könnte“, meldete sich Rieke Hinrichs.

„Exakt“, bestätigte Petersen Riekes Vermutung, „die Frage ist doch, ob da jemand von Bord gestoßen wurde oder von einer anderen Stelle ins Watt geworfen wurde. Personalien waren laut Bericht nicht bei der Leiche. Der Mann trug Arbeitskleidung, war also in keinem Fall ein Tourist.“

„Ich rufe Heinz Siel, unseren Vormann von den Seenotrettern, an, vielleicht hat der eine Seekarte zu Hause. An Bord vom Rettungsboot haben die sowas in jedem Fall. Sonst müssen wir uns an die Hafenmeister oder die Leute vom Segelverein wenden.“

Onno nahm das Telefon in die Hand.

„Falls er die Karte hat, soll er vorbeikommen, der kann uns vielleicht helfen.“

Petersen packte jetzt das Ermittlerfieber.

Eine Viertelstunde später betrat Heinz Siel die Wache. Unter seinem linken Arm trug er eine aufgerollte Karte. Siel war von großer Statur, hatte weiße Haare und war von der Sonne gebräunt. Er entsprach in etwa dem Klischee eines Seebären. Die Seekarte wurde an die Korkwand im Dienstzimmer gepinnt und alle versammelten sich vor ihr.

„Wie kann ich euch helfen?“, fragte Siel in die Runde.

Petersen nahm eine Stecknadel mit einem roten Kopf und stach sie in die Karte.

„Hier ist in etwa der Fundort gewesen, am Rande des Priels. Wie verläuft die Strömung hier? Woher kann die Leiche gekommen sein?“

Heinz Siel fuhr mit seiner Hand auf der Karte entlang.

„Hier seht ihr die rote Backbordtonne T 14. Das T steht für Telegraphenbalje, ein Priel oder Wattstrom südlich von Wangerooge, der bei Hochwasser auch als Fahrwasser genutzt werden kann. Das Wasser läuft hier je nach Gezeitenlage rein oder raus.“

Siel kratze sich am Kinn und blickte dann Petersen an.

„Wenn da jemand über Bord gefallen oder gestoßen worden wäre, hätten wir eine Seenotmeldung bekommen. Ich kann das für die letzten Tage ausschließen. Aber habt ihr schon mal an den Deichbau gedacht?“

Bei diesen Worten bildeten sich bei Petersen auf der Stirn Schweißperlen. Er musste an die gestrige Unterhaltung mit dem Magister denken.

„Heinz, kannst du uns das bitte mal näher erläutern.“

Siel nickte.

„Er zeigte wieder auf die Karte. Für den Bau des nächsten Bauabschnitts des Dorfgrodendeichs haben die hier eine Wattfahrstraße eingerichtet. Bei Niedrigwasser wird dort der Kleiboden, den man für den Deichbau braucht, von einem Ponton geholt. Dieser Ponton wird in Harle mit Kleiboden aufgefüllt und dann durch die Telegraphenbalje hierhergeschleppt.“

Wieder tippte Siel auf die Seekarte. Alle folgten gespannt seinem Zeigefinger.

Nun meldete sich Günter Naumann.

„Wenn bei der Baustelle jemand ins Watt geworfen worden wäre, gäbe es doch auch wohl eine Vermisstenmeldung oder?“

„Theoretisch schon, aber die führen da ja in ihrem Containerdorf fast ein isoliertes Leben. Aber das ist nicht mehr meine Sache, da seid ihr am Zug.“

Petersen bedankte sich bei Siel und wandte sich wieder an seine Kollegen.

„So, jetzt beginnt unsere Arbeit, legen wir los.“

Petersen wies Onno und Günter Naumann an, alles, was über die Deicherhöhungsarbeiten zu erfahren war, zusammenzustellen. Er selbst würde mit Rieke Hinrichs zum Containerdorf fahren. Für ihre Tour wählte er nicht den kürzesten Weg aus, sondern den Umweg über den Deich. Beim Deichschart fuhren sie auf die Deichkrone. Dieser Abschnitt war schon im letzten Jahr fertiggestellt worden. Der Deichfuß war mit Wasserbausteinen befestigt und die Lücken zwischen den Steinen ausgegossen worden, um den Deich gegen den Wellenangriff zu schützen. Auf der Innenseite des neuen Deichs war ein Deichverteidigungsweg angelegt. Die Massivität des neuen Deichs war beeindruckend.

„Junge, Junge, was die hier alles für Material verbaut haben, gewaltig“, sinnierte Petersen, als sie kurz von den Rädern abstiegen. Da im Watt Ebbe herrschte, konnten sie die Wattfahrstraße erkennen. Petersen reichte Rieke sein Fernglas rüber.

„Genauso wie er es beschrieben hat, da hinten liegt das Ponton oder so eine Art Landungsboot.“

Durchs Glas beobachtete sie das Geschehen im Watt.

„Wenn man da jemanden umbringen will, geht das nur nachts. Da sind zu viele Fahrzeuge unterwegs, am Tag würde das auffallen.“

Petersen nickte. An der Ecke, wo der Deich in Richtung Schöpfwerk abbog, fuhren sie hinunter in die Richthofenstraße. Am Reitstall stellten sie die Fahrräder ab und gingen am Zaun des Betriebshofes des Niedersächsischen Landesbetriebes für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) in Richtung Containerdorf. Die Container mit den grünen Dächern waren dicht aneinander aufgestellt. Petersen und Rieke zwängten sich durch die engen Gänge. Durch die Fenster konnten sie die Etagenbetten erkennen, die an den Seitenwänden aufgestellt waren. Endlich hatten sie einen Container gefunden, an dem das Schild „Bauleitung“ stand. Petersen klopfte an die Tür. Nachdem ein lautes „Ja“ aus dem Container zu vernehmen war, traten beide Beamten ein. Sie staunten nicht schlecht. Vor ihnen waren mehrere Schreibtische aufgebaut und die Wände waren mit Bauzeichnungen drapiert. An dem mittleren Schreibtisch saß ein großer, stämmiger, bärtiger Mann. Er trug eine orangene Warnweste über einem Heavy Metal T-Shirt. Die langen blonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Beide Oberarme waren mit diversen Tattoos übersät. Misstrauisch musterte er die Beamten.

„Moin, mein Name ist Petersen, das ist meine Kollegin Hinrichs“, eröffnete Petersen das Gespräch, „wir sind von der örtlichen Polizeidienststelle in Wangerooge. Wir ermitteln im Falle einer vermissten Person und wollten uns erkundigen, ob auf Ihrer Baustelle jemand fehlt?“

Petersen vermied es, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen bzw. mit einer Leiche.

Die Miene des vermeintlichen Bauleiters verfinsterte sich.

„Hat er was angestellt?“

„Moment, erst stelle ich die Fragen“, konterte Petersen, „ist bei Ihnen ein Mann abgängig?“

Der Bauleiter räusperte sich. Die Sache schien ihm sehr unangenehm zu sein.

„Seit vorgestern fehlt Stani.“

„Hat der auch einen richtigen Namen?“

Es entstand eine Pause, in der der Bauleiter einen Karteikasten aus seinem Schreibtisch zog und in den Karteikarten blätterte.

„Stanimir Yordanov.“

„Und warum haben Sie das nicht gemeldet, wenn Ihnen ein Mann auf der Baustelle fehlt?“

„Wir arbeiten hier viel mit Leiharbeitern, da kommt das schon mal vor, dass einer abhaut. Ich hab‘ erst in Bremen angerufen, ob die was wissen. Aber da wusste auch keiner was.“

„Ich bräuchte mal die genauen Personalien und eine Personenbeschreibung.“

Nun machte sich leichte Nervosität beim Bauleiter bemerkbar. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, gab Petersen die Karteikarte, die dieser dann mit seinem Handy fotografierte.

„Was ist denn nun mit Stani?“

„Wir haben eine Leiche im Watt gefunden“, bemerkte Petersen trocken.

Sein Gegenüber erblasste.

„Stani?“

„Das wollen wir ja gerade rausfinden. Wie sah der aus? Was hatte der an?“ Petersen holte seinen Notizblock raus.

Nur zögerlich stotterte der Bauleiter eine Beschreibung zusammen. Petersen und Rieke sahen sich an. Das, was der Bauleiter da als Beschreibung abgab, deckte sich mit ihren Bildern von der Leiche. Anschließend führte sie der Bauleiter in die Unterkünfte. Petersen und Rieke packten einige persönliche Sachen von Stanimir ein. Vielleicht ließ sich damit ein DNA-Abgleich durchführen. Petersen ließ sich noch die Personalien des Bauleiters geben und kündigte für die nächsten Tage weitere Besuche an.

Als beide wieder zu ihren Fahrrädern gingen, blickte Rieke ihren Chef fragend an.

„Warum haben Sie nichts vom Mord gesagt, Chef?“

„Nicht gleich am Anfang die Karten aufdecken, der war schon ganz schön nervös, der Herr Bauleiter. Ich setze ja immer auf spontane Reaktionen, die haben den höchsten Erkenntniswert.“ Rieke verzog das Gesicht. Er wusste warum.

„Scheiße, jetzt rede ich schon wie Wilbert.“

Petersen und Rieke mussten beide lachen. In dieser Stimmung fuhren sie zurück zur Wache und gaben einen ausführlichen Bericht von ihrem Besuch im Containerdorf ab. Rieke erhielt den Auftrag, die persönlichen Sachen von Stanimir nach Oldenburg zu schicken. Petersen schaute auf die Uhr. Er hätte fast seinen Termin mit Rita vergessen. Hastig verabschiedete er sich.

„Ich hab‘ noch einen Außentermin.“

Seine Kollegen schauten sich fragend an. Eigentlich würden sie jetzt zusammenkommen, um ihre Erkenntnisse abzugleichen. Stuhlkreis, wie Petersen es nannte, aber diesmal ohne ihn, weil er eilends verschwand.


Als er die Zedeliusstraße in Richtung Bahnhof hinunterfuhr, sah er von weitem schon Rita vor dem „Hangar 7“, dem Bahnhofskiosk, sitzen. Als er näherkam, tippte sie auf ihre Uhr, ein deutliches Zeichen dafür, dass er unpünktlich war.

„Na, da sieht man mal wieder, welchen Stellenwert ich für dich habe“, flötete sie ironisch.

„Entschuldigung, bei uns ist wegen der Leiche im Watt die Hölle los. Darf ich dir als Friedensangebot denn einen Cappuccino ausgeben?“

Rita nickte lächelnd, und er holte zwei Tassen von der Theke.

„So, was hast du auf dem Herzen? Hast du bei deinem Bäcker in die Ladenkasse gegriffen?“

Petersen wollte witzig sein, kassierte dafür aber sofort einen strafenden Blick.

„Ich weiß gar nicht, ob es richtig ist, mit dir über ein solch sensibles Thema zu sprechen.“

Petersen ärgerte sich jetzt selbst über sich. Er spürte langsam, dass Rita ein ernstes Anliegen hatte.

„Okay, ich nehme alles zurück. Nochmal von vorne, was bedrückt dich?“

Rita warf ihre blonden Haare in den Nacken und setzte eine ernste Miene auf.

„Ich hab‘ da in dieser Saison ein Zimmermädchen kennengelernt, das genauso so wie ich aus dem Osten kommt. Die hat sich im letzten Jahr von ihrem Typen getrennt, muss wohl ein richtiges Arschloch gewesen sein, gewalttätig und mit merkwürdigen sexuellen Vorlieben. Jedenfalls hat sie sich aus diesem Grund aus dem Osten abgesetzt und hat hier in einer Pension eine Stelle angenommen. Du weißt ja, hier wird händeringend Personal gesucht. Sie fühlte sich auch bisher ganz wohl auf der Insel, bis vor einigen Wochen.“

Petersen, der aufmerksam zugehört hatte, ahnte schon langsam, was jetzt kommen würde.

„Das ging los damit, dass sie merkwürdige WhatsApp-Nachrichten bekommen hat, mit eindeutigen sexuellen Anspielungen. Dann aber auch so Sprüche, wie ‚niemand darf mich ungestraft verlassen‘ und so weiter. Jetzt kommt‘s aber, vor drei Tagen lag ein unfrankierter Brief mit Penisbildern in ihrem Briefkasten.“

Petersen spürte, wie schwer es Rita fiel, über diese Vorfälle zu sprechen. Mittlerweile hatte sie einen hochroten Kopf und griff unvermittelt zu ihrer Tasse, die aber schon lange leer war. Petersen stand auf und bestellte zwei Wasser. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurde es jetzt unruhig. Viele Touristen rollten ihre Koffer zur Gepäckaufgabe. Die Abfahrt eines Zuges stand bevor. Nachdem Rita einen Schluck Wasser genommen hatte, normalisierte sich ihre Gesichtsfarbe wieder.

„Kann ich denn mit der Frau mal reden, wie heißt die denn überhaupt?“

„Mandy, ihren Nachnamen kenn ich gar nicht, muss ich leider gestehen. Aber das Problem ist, dass sie Angst hat und mit niemanden darüber sprechen will.“

„Warum nicht?“

„Ihr ist das alles peinlich und sie hat Schuldgefühle, was natürlich völliger Quatsch ist, und die Angst vor dem Typen spielt bestimmt auch eine Rolle.“

„Das mit den Schuldgefühlen ist ein gängiges Muster. Gequälte Frauen aus Frauenhäusern kehren manchmal zurück zu ihren Peinigern. Aber was können wir machen? Die unfrankierten Briefe deuten darauf hin, dass der Typ auf der Insel ist. Wir brauchen Kontakt zu deiner Mandy, damit wir ihr helfen können.“

„Nichts gegen dich, aber mit dir würde sie niemals sprechen, weil du ein Mann bist.“

Petersen wollte zuerst protestieren, verkniff sich aber eine Bemerkung. Dann kam ihm eine Idee.

„Wir müssten einen Kontakt mit einer weiblichen Beamtin einfädeln.“

„Du meinst mit deinem Rotfuchs?“

Petersen verschlug es die Sprache. Rita hatte ihm nie verziehen, dass er damals mit Mona was angefangen hatte. Der Versuch, mit Rita anzubändeln, war gescheitert. Das trug sie ihm bis heute nach.

„Das ist jetzt aber eine Äußerung, die unter die Kategorie frauenfeindlich fällt, oder?“

„Petersen als Anwalt der Frauen, hast du sie schon angebaggert?“

„Nein, das wird auch nicht passieren.“ Er konnte jetzt ja nicht preisgeben, dass Rieke Hinrichs nicht auf Männer stand.

„Stimmt, sie passt nicht in dein Beuteschema. Du stehst ja auf blonde Frauen.“

„Hör jetzt mal auf mit dem Scheiß. Sie ist eine taffe junge Frau, Kampfsportlerin und sehr direkt in der Ansprache. Vielleicht können wir ein zufälliges Treffen zwischen den beiden arrangieren.“

„Wenn du meinst? Mandy geht auch mal in Kneipen und daddelt häufig an Spielautomaten.“

„Das ist doch schon mal ein Ansatz. Ich red‘ mit meiner Kollegin und du gibst mir Bescheid, wann und wo die unterwegs ist, okay?“

Rita seufzte erleichtert und nickte.

„Ich wusste ja, dass du ein Guter bist.“


In der Wache war nur noch Rieke anwesend. Die beiden anderen Kollegen hatten schon Feierabend gemacht. Sie wartete auf Instruktionen bezüglich der Nachtbereitschaft. Petersen hatte diese Nacht Dienst und sie sollte zum ersten Mal dabei sein.

„Was hab‘ ich denn nun zu tun heute Nacht. Muss ich die ganze Nacht hier sitzen?“, fragte sie neugierig. Petersen war in Gedanken noch nicht ganz anwesend. Das Gespräch mit Rita hatte ihn nachdenklich gemacht. Nun hatten sie zwei Baustellen. Er war in Sorge, dass diese beiden Problemfelder die kleine Dienststelle überfordern würden. Sollte er Kriminalrat Wilbert um Unterstützung bitten? Irgendetwas sträubte sich bei ihm gegen diesen Gedanken. Es würde dann jemand kommen, der ihnen reinreden würde. Damit konnte er nur schlecht umgehen.

„Chef“, Rieke holte ihn wieder ins Jetzt zurück, „ich hatte eine Frage gestellt.“

„Ja, ja, ich hab‘ schon verstanden. Nein, wir müssen nur erreichbar sein. Also, Handy laut stellen, Uniform bereitlegen. Vielleicht haben wir Glück und es passiert nichts. Ich wollte aber noch etwas mit Ihnen besprechen.“

Ausführlich berichtete Petersen von seinem Gespräch mit Rita Kolbow. Riekes Augen funkelten aggressiv.

„Den schnappen wir uns!“

„Nun mal langsam, keine Kurzschlussreaktionen. Wenn Rita uns Bescheid gibt, wenn die Mandy irgendwo am Automaten daddelt, möchte ich, dass Sie Kontakt zu ihr aufnehmen. Aber nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Vertrauen gewinnen, Interesse zeigen. Trauen Sie sich das zu?“

„Kneipe ist nun nicht gerade meine Welt, aber ich werde mein Bestes geben.“

„Okay, ich hau‘ mich hin. Das Sofa ruft. Wollen wir mal hoffen, dass es die Nacht ruhig bleibt.“

In seiner Wohnung schob Petersen eine Fertig-Lasagne in den Ofen, nahm seine Gitarre und spulte eine Übungssession ab. Gerade, als er die Lasagne aus dem Ofen geholt hatte, rief Mona an.

„Es gibt Neuigkeiten, ich muss das mal schnell loswerden. Ich bin in Oldenburg in das Referat Organisierte Kriminalität eingestellt worden. Das deutete sich ja bereits an, aber wir bilden eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit Bremen. Niedersachsen hat 27 neue Stellen zur Bekämpfung der Clan-Kriminalität beim LKA und in den Polizeidirektionen geschaffen. Oldenburg und Bremen werden eng zusammenarbeiten. Bremen ist ja eine Hochburg und im Bremer Umland ist ja auch einiges los, und da sind wir dann dabei.“

„Gratuliere“, Petersen war etwas neidisch, das hätte ihm auch gefallen. Aber andererseits hatte er jetzt auch genug zu tun. Er berichtete kurz über seine neuen Fälle. Leider war nach seinem Gespräch die Lasagne nur noch lauwarm, aber ein Gespräch mit Mona war das allemal wert. Nachdem er gegessen, hatte fielen ihm die Augen zu.


Irgendwo hörte er den Gitarrenriff von Smoke on the Water. Petersen schreckte hoch. Sein Handy vibrierte. Er hatte es befürchtet. Jemand auf der Insel hatte 110 gewählt. Mit einem kräftigen „Moin“ meldete sich der Kollege der Leitstelle in Oldenburg.

„Tut mir ja leid, lieber Kollege, aber bei euch machen ein paar Besoffniks Randale. Ja, so ist das, wenn man auf einer Urlaubsinsel Dienst macht. ‚Störtebeker‘ sagt dir bestimmt was, oder?“

Petersen stöhnte laut: „Und ob.“

Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Warum konnten die nicht gemütlich ein Bier trinken sondern mussten immer Randale machen? Er nahm sein Handy und wählte Riekes Nummer. Jetzt kam es drauf an, ob auf sie Verlass war. Aber es dauerte keine 5 Sekunden, bis sie sich schlaftrunken meldete.

„Okay, Chef, bin sofort einsatzbereit.“

Er musste grinsen. Wahrscheinlich hatte sie vor Aufregung kaum ein Auge zugetan. Nach einer Minute standen beide dann auch schon startbereit auf dem Flur.

„Handschuhe, Pfefferspray, Taschenlampe, Handschellen, alles am Mann bzw. an der Frau?“

„Aye, aye Sir“, Rieke salutierte kurz vor ihm. Na, Humor hatte sie ja, auch noch in der Nacht.

„Was ist denn überhaupt los?“

„Randale beim Magister, wir sollten uns beeilen.“

Im Laufschritt bewegten sie sich in Richtung Friedrich-August-Straße. Schon von weitem konnten sie ein Gegröle hören. Eine Gruppe von etwa 8 bis 10 Männern stand teils vor, teils in der Kneipe. Sie hatten alle die gleichen T-Shirts an, auf denen „Team Bräutigam“ stand. Petersen stöhnte: „Junggesellenabschied, schöne Scheiße.“ Hinter der Theke konnte er einen verzweifelten Magister erkennen, dessen Gesichtsfarbe schon stark gerötet war. Einer der Männer rief, wie eine Art Vorsänger:

„Wie heißt die Mutter von Nicki Lauda?“ und der Rest antwortete grölend „Mama Laudaaa.“

In der Kneipe spielte überhaupt keine Musik. Vielleicht war das der Konfliktpunkt, denn der Magister weigerte sich immer beharrlich, Ballermann-Musik zu spielen. Außer Hans Albers und Freddy Quinn spielte er keine deutschen Schlager. An der Theke saßen auch noch andere Gäste, die aber keine Chance hatten, dem Inferno zu entgehen, denn die Eingangstür war durch die singenden Männer blockiert. Durch das rechte Kneipenfenster sahen sie einen jungen Mann, der versuchte eine junge Frau, die am Spielautomaten saß, zu nötigen, sich mit einer Unterschrift auf seinem entblößten Hinterteil zu verewigen. Petersen bemerkte, wie sich Riekes Muskulatur anspannte.

„Ruhig bleiben, wir versuchen erst einmal zu deeskalieren. Wir handeln erst, wenn wir angegriffen werden, verstanden?“

Von Rieke kam ein kurzes Nicken. Jetzt wechselte die Gruppe das Liedgut.

„Wir versaufen unser Geld in den Kneipen dieser Welt, international, wo wir saufen Scheißegal.“ (Sabotage)

Petersen versuchte, sich jetzt einen Weg in die Kneipe zu bahnen, in seinem Schlepptau Rieke. Ruhig und sachlich, aber mit fester Stimme forderte Petersen die Gruppe auf, ihnen Platz zu machen.

„Polizei, machen Sie den Eingang frei bitte!“

Nur zögerlich kamen die betrunkenen Männer der Aufforderung nach. Einer der Männer grölte.

„Der Wachtmeister und die rote Zora!“

Petersen trat kalter Schweiß auf die Stirn. Hoffentlich rastete Rieke nicht aus. Mit betont finsterer Miene kämpfte er sich in den Innenraum der Kneipe vor. Als Rieke versuchte, über die Schwelle der Kneipe zu kommen, riss einer der Männer ihr die Mütze vom Kopf. Ihr Magen krampfte sich sofort zusammen. Noch reagierte sie nicht. Jetzt spürte sie eine Hand an ihrem Hinterteil, die langsam in Richtung Schritt wanderte. Sekunden später stürzte der Mann schreiend zu Boden. Niemand hatte bemerkt, was passiert war. Riekes Gesichtsausdruck verriet nichts. Petersen konnte überhaupt nichts sehen, ahnte aber, was passiert war. Seine Kollegin hatte bestimmt in ihre Taekwondo-Kiste gegriffen, da war er sich sicher. Trotzdem musste er die Situation irgendwie in den Griff kriegen. Sie waren zahlenmäßig klar unterlegen. Jetzt musste er in die Trickkiste greifen. Er stieg auf die Treppe zur Empore und brüllte laut „Ruhe“.

„So meine Herren, die Party ist zu Ende, wenn sie jetzt ruhig das Lokal verlassen, verzichtet der Wirt auf eine Anzeige, und wir nehmen niemanden fest. Verstärkung ist bereits im Anmarsch, und die Jungs fackeln nicht lange, die sind sauer, weil sie aus dem Bett geholt wurden.“

Seine Worte schienen zu wirken, leise fluchend verließen die ersten Männer das Lokal. Nur der Mann rechts am Spielautomaten schien nichts von alldem mitbekommen zu haben. Auf seinem T-Shirt stand „Nochmal raus! Ehe es zu spät ist.“ Es musste sich also um den Bräutigam handeln. Seine Hose hing noch immer in den Kniekehlen und sein nackter Arsch, auf dem schon einige Unterschriften platziert waren, wedelte nach wie vor in Richtung Spielautomat, wo diese junge, recht verängstigt wirkende Frau auf einem Barhocker saß. Rieke stieg über den am Boden liegenden und vor Schmerzen jammernden Mann und ging auf den vermeintlichen Bräutigam zu.

„Hose hoch und verschwinden, ehe es zu spät ist!“

Mit offenem Mund starrte der Mann sie kurz an und lallte dann los.

„Was willst du denn?“

Eher er sich versah, bekam Rieke die Hose zu fassen und riss sie in einem kräftigen Ruck nach oben.

„Aua, meine Eier“, brüllte der Mann. Jetzt hatte er die Situation wohl endlich erfasst und torkelte mit zusammengepressten Beinen aus der Kneipe. Auch der auf der Türschwelle liegende Mann hatte sich aufgerichtet und suchte, immer noch jammernd, das Weite. Die verbliebenen Gäste bestellten erleichtert ein Bier. Das Gesicht des Magisters hatte mittlerweile seine normale Farbe wieder angenommen. Aus den Boxen ertönte leise Swingmusik und zum Erstaunen aller Gäste läutete der Magister die Glocke, „Lokalrunde“. Petersen wunderte sich, so lange er auf Wangerooge war, hatte er eine Lokalrunde vom Magister noch nie erlebt. Allen war die Erleichterung anzusehen. Als alle ihre Getränke vor sich stehen hatten, prostete der Magister seinen Gästen zu „auf unsere Bullerei!“

Diskret wandte er sich dann Petersen zu.

„Deine Kollegin ist ne‘ heiße Nummer, aber du bist auch ein Bluffer vor dem Herrn. Von wegen Verstärkung kommt gleich, deine beiden anderen Fußkranken hätten doch hier nichts ausrichten können. Aber deine kleine Powerfrau hätte, wenn es drauf angekommen wäre, alle hier platt gemacht.“

Petersen wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Riekes Einsatz war schon irgendwie bewundernswert, ob er allerdings mit den Einsatzregeln der Polizei zu vereinbaren war, da hegte er leise Zweifel. Er würde mit ihr darüber sprechen müssen. Die beiden Beamten warteten noch eine halbe Stunde und beobachteten dabei die Zedeliusstraße, in Sorge, dass die Horde zurückkommen könnte. Aber alles blieb ruhig. Ohne zu reden, gingen sie in Richtung Charlottenstraße. Von Ferne hörten sie den Signalton eines Schiffes. Rieke brach das Schweigen.

„Wenn Sie Kritik an meinem Handeln haben, sollten Sie das jetzt sagen. Nur zur Info, der Typ hat mir in den Schritt gegriffen. Ich habe mich also nur verteidigt.“

Petersen stutzte.

„Das hab‘ ich nicht mitbekommen. Das verändert die Sachlage. Den hätten wir mitnehmen müssen, das ist eine schwere Straftat.“

„In dieser unübersichtlichen Situation? Was wäre gewesen, wenn die gegen uns vorgegangen wären? Mit der Verstärkung, das war doch ein Bluff. Jeder normaldenkende Mensch weiß doch, dass hier keine SEK-Einheit stationiert ist. Was wäre die Alternative gewesen? Die Waffen ziehen? Das möchte ich mir nicht vorstellen.“

Petersen nickte ein wenig ratlos. Hatte er sich doch selbst Deeskalation auf die Fahne geschrieben!? Plausibel klang das schon, was Rieke von sich gab. Aber irgendetwas störte ihn, was das genau war, wusste er nicht, noch nicht.

Mundtot auf Wangerooge

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