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Stefan Bullwinkel stand mit seiner 7. Klasse der Adolf-Reichwein-Oberschule aus Bremen auf dem Deich neben dem Deichschart. Die Schüler hatten sich ins Gras gesetzt und spielten mit ihren Handys. Die junge Referendarin, die er als Begleiterin mitgenommen hatte, machte Fotos vom gegenüberliegenden Westturm. Sie waren 15 Minuten zu früh zum verabredeten Treffpunkt für die Wattwanderung erschienen. Lieber zu früh als zu spät, hatte er sich gedacht, zumal Schüler im Verbund zur Trödelei neigten. Bullwinkel blickte über den Horizont. Das Wattenmeer war trockengefallen, nur in den Prielen befand sich Wasser. Die Sonne schien erbarmungslos und spiegelte sich im Schlick. 30 Grad waren für eine Nordseeinsel ein seltener Wert. Viel hätte er darum gegeben, jetzt ohne die lärmenden Schüler hier zu sein. Die Sommerferien waren gerade beendet und ein Urlaub war für ihn nicht in Sicht. Eine jüngere Frau kämpfte sich mit einem Fahrrad den Deich hinauf. In der rechten Hand hatte sie eine reichlich große Forke. Zweifellos musste sie die Wattführerin sein. Als sie Bullwinkel sah, stoppte sie und stellte sich als Wattführerin vor. Bullwinkel und die Führerin gingen nun voran. Ein gepflasterter Weg führte vom Deich ins Deichvorland zur Wattenmeerkante. Die Referendarin ging am Ende der Gruppe und ermahnte die zurückhängenden Schüler, nicht zu trödeln. Am Ende des Weges war eine platzähnliche Sandfläche. Die Schüler wurden aufgefordert, sich hinzusetzen. Bullwinkel und seine Referendarin blieben stehen, um besser ein Auge auf die Schüler werfen zu können.

Die Wattführerin gab nun einen Überblick über das Konzept Nationalpark Wattenmeer, erläuterte die Funktion der verschiedenen Ruhezonen und ging dann auf die Einzigartigkeit des Wattenmeers als ökologischem System ein. Bei Bullwinkel stieg der Blutdruck. Seine Schüler zeigten nur mäßiges Interesse. Einige spielten versteckt mit ihren Handys. Es kam so, wie er es befürchtet hatte. Mehrfach musste er einzelne Schüler ermahnen und sie auffordern, dem Vortrag zu folgen. Auf dem Elternabend vor der Klassenfahrt hatte er vorgeschlagen, eine handyfreie Klassenfahrt durchzuführen. Er war dort auf den erbitterten Widerstand der Elternschaft gestoßen. Mobiltelefone seien für Notfälle unverzichtbar. Die Erreichbarkeit ihrer Kinder sei unerlässlich. Zerknirscht hatte er sein Vorhaben aufgegeben und sich gefragt, wie seine Kollegen vor der Handyzeit Klassenfahrten bewerkstelligt hatten. Seine Referendarin hatte freundlich angedeutet, dass man die Entwicklung nicht aufhalten könne. Er hatte sich geschlagen gegeben. Gott sei Dank dauerte der Vortrag nicht allzu lang. Die Gruppe ging nun direkt ins Watt. Die meisten Schüler liefen barfuß. Nach anfänglichem „Igitt“ stellte sich eine gewisse Freude am Laufen im Modder ein. Nachdem sie einige hundert Meter ins Watt gelaufen waren, bildeten sie einen Kreis. Die Führerin stach mit ihrer Forke in den Boden und legte einen Wattwurm frei. Ekelgeschrei der Kinder, die sich aber schnell wieder beruhigten. Ungläubig lauschten die Kinder den Erklärungen. Dass ein Wurm Sand frisst und die organischen Stoffe herausfiltert, war für sie kaum nachvollziehbar. Das Interesse war gewachsen, stellte Bullwinkel zufrieden fest. Unerbittlich brannte die Sonne auf die Gruppe. Den Schülern schien die Sonne nichts auszumachen, aber Bullwinkel näherte sich seinem Grenzbereich. Tief schob er sich seine Werder-Kappe ins Gesicht und ärgerte sich darüber, dass er keine Sonnencreme aufgetragen hatte. Die Schüler verteilten sich jetzt etwas und suchten nach bestimmten Muschelarten. Murat hatte sich am weitesten von der Gruppe entfernt. Bullwinkel versuchte, ihn mit winkenden Handbewegungen zur Rückkehr zu bewegen, denn der Junge stand bereits fast am Rande des ersten größeren Priels. Auch die Wattführerin hatte Murat bemerkt und rief laut. Bullwinkels Ärger schwoll an. Erst diese Hitze, die ihm zu schaffen machte, und dann noch der Junge, der sich seinen Anweisungen widersetzte. Wattführerin und Lehrer bewegten sich nun schnellen Schrittes in Richtung Murat. Bullwinkel stutzte. Der Junge krümmte sich und übergab sich. Scheiße, dachte er, jetzt hat der auch noch einen Sonnenstich, hier mitten im Watt. Wenn das so weitergeht, bekomme ich bestimmt auch einen. Murat stand wie angewurzelt im Schlick und starrte auf den Wattboden. Dann übergab er sich erneut und wandte sich den heraneilenden Erwachsenen zu. Bullwinkel wollte gerade zu einer Brüllattacke ansetzen, als er bemerkte, dass Murat unentwegt auf einen Punkt des Wattbodens zeigte. Plötzlich erstarrte Bullwinkel, und auch die Wattführerin wich erschrocken zurück. Aus dem Wattboden am Rande des Priels ragte eine menschliche Hand. Neben der Hand waren Teile eines Gesichts zu sehen. Die Augenhöhlen waren mit Schlick gefüllt, und auch der weit aufgerissene Mund war komplett vollgestopft. Bullwinkels Herz raste. Er kämpfte gegen einen Würgereiz. Jetzt war auch seine Referendarin am Fundort angelangt, umringt von einigen Kindern. Sie hatte nur einen Gedanken: Die Kinder müssen hier weg. Während Bullwinkel versuchte, seinen Würgereiz zu unterdrücken, ergriff die junge Lehrerin die Initiative. Mit schneidender Stimme brüllte sie „Abmarsch!“ Völlig verdattert folgten die Kinder ihr. Bullwinkel, der sich jetzt auch gefangen hatte, schob Murat von der Fundstelle. Er legte seinen Arm um den Jungen.

„Komm, wir hauen auch ab. Kannst du gehen?“

Murat nickte, wischte sich unauffällig ein paar Tränen aus den Augen und ging langsam mit seinem Lehrer zurück. Die Wattführerin musste jetzt ebenfalls gegen ihren Brechreiz ankämpfen. Sie rammte ihre Forke einen Meter vor dem Fundort in den Wattboden, zückte ihr Handy und wählte 110.



Günter Naumann füllte gerade die Kaffeemaschine mit neuem Wasser auf, als das Telefon in der Wache klingelte. Petersen begutachtete unterdessen im Nebenzimmer die Fingerabdrücke, die Anwärterin Hinrichs vom Opferstock genommen hatte. Als Naumann den Hörer am Ohr hatte, fing er sofort an, wild zu gestikulieren. Petersen drehte sich um und bemerkte augenblicklich, dass etwas passiert sein musste. Naumann, der etwas hilflos wirkte, drückte Petersen schnurstracks das Telefon in die Hand. Was der Beamte der Notrufzentrale Oldenburg mitteilte, ließ auch ihn erschaudern.

„Eine Wattführerin meldet, dass bei einer Führung mit einer Schulklasse eine Leiche im Watt gefunden wurde.“

Petersen musste schlucken. Schulklasse und Leichenfund, das war der Supergau.

„Wo befindet sich der Fundort?“

„Das kann ich euch nicht sagen. Kenn mich auf eurer Insel ja nicht aus. Die Führerin meinte, ihr würdet schon wissen, wo das ist.“

Konsterniert legte Petersen auf, dann atmete er tief durch. Jetzt war Krisenmanagement gefragt. Naumann starrte ihn in Erwartung einer Anweisung mit offenem Mund an. Auch Rieke Hinrichs war jetzt dazugekommen. Petersen konzentrierte sich. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft.

„Ich fahre mit dem E-Bike zum Deichschart. Kollegin Hinrichs setzt sich auf den Gepäckträger. Das ist zwar gegen die Vorschrift. Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Günter, du rufst bei Gemeindebrandmeister Rumpf an, die sollen stand by gehen. Ich denke, wir werden die Hilfe der Feuerwehr brauchen. Dann kommst du mit dem Fahrrad nach. Ruf Onno an! Er solle sich hier ans Telefon setzen. Es muss einiges in Gang gesetzt werden.“

Rieke Hinrichs hatte sich bereits den Spurensicherungskoffer unter den Arm geklemmt. Dann ging sie mit Petersen zur Rückseite des Gebäudes. Gott sei Dank war das E-Bike geladen. Trotzdem schimpfte Petersen wie ein Rohrspatz.

„Das muss man sich mal vorstellen. Jetzt fahren wir auf einem Fahrrad zum Fundort. Ich predige ja schon seit langer Zeit, dass wir ein Fahrzeug brauchen. Aber nein, dafür ist ja kein Geld da.“

Schnell noch fiel ihm ein, dass der Doc verständigt werden musste.

„Der überholt uns womöglich gleich mit seiner Vespa und wir zu zweit auf einem Fahrrad. Peinlich, einfach nur peinlich.“

Rieke Hinrichs hatte ihren Chef noch nie so erbost erlebt. Nach anfänglicher Wackelei hatten sie die notwendige Stabilität auf dem E-Bike gefunden und fuhren über die Kapitän-Wittenberg-Straße in Richtung Deichschart. Die Touristen, die sie unterwegs sahen, schüttelten nur mit dem Kopf. Zwei Beamte auf einem Fahrrad, das hatten sie noch nie gesehen. Einige zückten ihre Handys.

„Wahrscheinlich sind wir morgen bei Facebook und YouTube als Attraktion zu sehen“, fluchte Petersen.

An der Auffahrt zum Deichschart stiegen sie ab. Die Schulklasse saß auf der Wiese des Deichvorlandes. Nur die beiden Lehrkräfte standen und unterhielten sich mit der Wattführerin. Die Kinder machten einen leicht verstörten Eindruck. Einige schienen tatsächlich für kurze Zeit ihr Handy vergessen zu haben. Petersen musterte aus der Entfernung die Lehrkräfte. Die junge Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber die Schulklasse musste erst einmal warten. Die Wattführerin zeigte ihnen den Weg. Dahinten am Priel sahen sie die Forke, die im Wattboden steckte. Petersen fluchte. Sie hatten die Gummistiefel vergessen. Rieke Hinrichs hatte sich schon die Uniformhose hochgekrempelt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es ihr nachzumachen, obwohl sich sein Innerstes dagegen sträubte. Es würde einen lächerlichen Anblick geben. Zwei Beamte mit hochgekrempelten Hosen, wie Störche im Salat. Petersen bat die Wattführerin, sie zu begleiten. Als sie den Fundort erreichten, blieb sie in gebührendem Abstand stehen. Diesen Anblick wollte sie sich nicht noch einmal antun. Petersen holte die Gummihandschuhe aus dem Spurensicherungskoffer, und drückte seiner Kollegin die Kamera in die Hand.

„Alles, aber auch alles im Umkreis von 10 Metern fotografieren. Gleich ist hier nichts mehr zu sehen.“

In gebückter Haltung untersuchte er die Teile der Leiche, die aus dem Schlick ragten. Er musste eine Entscheidung treffen. Normalerweise würde er jetzt die Spurensicherung holen. Aber die Flut würde die Leiche wieder verschwinden lassen und mit Sicherheit den Auffindort verändern, womöglich sogar die Leiche verschwinden lassen. Er sprach die Wattführerin an:

„Wieviel Zeit haben wir noch?“

„Etwa zwei Stunden, danach ist die Leiche mit Wasser bedeckt. Hier herrscht dann eine Strömung von mindestens zwei Knoten. Sie wissen, was das bedeutet.“

Petersen nickte und zückte sein Funkgerät.

„Onno bitte melden.“ Sofort meldete sich Onno. Das hatte also geklappt. Petersen bat ihn, die Freiwillige Feuerwehr zu verständigen, und sich um einen Hubschrauber für den Abtransport der Leiche zu kümmern. Zusammen trafen jetzt auch Günter Naumann und Doktor Meyerdierks, der Inselarzt, ein. Ausgiebig begutachtete der Arzt die sichtbaren Teile der Leiche. Aus dem, was der Mediziner in sich hinein murmelte, wurde Petersen nicht schlau.

„Doc, nun mal Butter bei die Fische“, forderte er den Arzt zu einem Statement auf.

„Gemach, gemach, nur nicht ungeduldig werden. Dass dieser Mensch toter als tot ist, muss ich Ihnen ja nicht sagen, Sheriff.“

Petersen rollte mit den Augen.

„Uns sitzt die Flut ihm Nacken.“

„Ja, ja, ich weiß, was die Gezeiten sind. Ich bin schon etwas länger auf der Insel. Also, zur Todesursache kann ich nichts sagen. Er hat eine Wunde am Hinterkopf und diesen Schlick tief im Rachen, etwas ungewöhnlich. Da kann jemand von einem Boot gestürzt sein oder er ist erschlagen worden. Alles ist möglich und kann erst bei einer Obduktion zweifelsfrei festgestellt werden.“

„Wie lange?“

„Höchstens 2 Tage, länger nicht, aber auch für diese Auskunft gibt es keine Gewähr.“

„Danke erstmal.“

Petersen kratzte sich an seinem kurzen Bart. Er spürte den Verwesungsgeruch in der Luft, deshalb wich er einige Schritte zurück und wandte sich dann an Günter Naumann.

„Günter, kümmer‘ du dich bitte darum, dass die Schüler abrücken, lass dir sagen, wo die untergebracht sind. Wir müssen da ein Protokoll machen. Nimm bitte Kollegin Hinrichs mit und kümmert euch um die Absperrung.“

Auch die junge Anwärterin musste mit einem Würgereiz kämpfen, aber irgendwie hielt sie sich tapfer. Petersen sah das mit Wohlwollen. Er hatte schon viele Kollegen beim Finden einer Leiche kotzen sehen.

„Die Seenotretter, kämen die vom Priel aus an die Leiche ran?“, fragte er die Wattführerin.

Sie schüttelte mit dem Kopf.

„Kaum, wenn die hier sind, ist die Leiche schon überspült.“

Jetzt piepte das Funkgerät.

„Lars, das mit dem Hubschrauber wird dauern. Der normale Rettungshubschrauber nimmt keine Leichen mit. Oldenburg schickt uns einen Heli der Bundespolizei. Ihr müsst die Leiche da irgendwie rausholen, anders geht es nicht.“

Petersen hatte es befürchtet. Hoffentlich brachte die Feuerwehr Schaufeln oder Spaten mit. Die Schulklasse machte sich mittlerweile auf den Heimweg in ihre Unterkunft. Einige Touristen hatten sich eingefunden und beobachteten von der Deichkrone aus das Geschehen. Kurz danach hörte er ein Motorengeräusch. Die Feuerwehr rückte mit ihrem neu erworbenen Mercedes Sprinter an, der den alten Rover Defender ersetzte hatte. Das allradgetriebene Fahrzeug wurde am Deichfuß abgestellt. Mit Erleichterung stellte Petersen fest, dass die Leute um Gemeindebrandmeister Rumpf mitgedacht hatten. Sechs Mann kamen ihm mit Schaufeln und einer Art Rettungsfloß entgegen.

Vorsichtig, unter der Beobachtung von Doktor Meyerdierks und Lars Petersen, begannen die Feuerwehrleute damit, die Leiche vollständig auszugraben. Erkennbar wurde nun, dass es sich um einen recht großen Mann handelte, der Arbeitskleidung trug. Petersen tippte auf eine Art Blaumann, war sich aber nicht sicher, da die Kleidung mit Schlick bedeckt war. Alle hatten ihre Gummistiefel mit, nur Petersen stand da mit seinen nackten Unterschenkeln. Er schämte sich in Grund und Boden und fluchte.

„Dieses bekackte Wattenmeer!“

Zwei Männer der Feuerwehr mussten sich übergeben, als die Leiche vorsichtig auf das Rettungsfloß gelegt wurde. Langsam wurde nun das Floß über den Wattboden in Richtung Deichvorland gezogen. Auf der Wiese vor dem Deich hatten mittlerweile die Kollegen Nauman und Hinrichs eine Absperrung eingerichtet, damit der Hubschrauber hier ungefährdet landen konnte.


Nach dem Einsatz im Wattenmeer und dem Abtransport der Leiche durch den Hubschrauber der Bundespolizei saßen die Beamten des Polizeipostens Wangerooge noch einen Moment zusammen. Sie ließen den Einsatz Revue passieren. Naumann, Petersen und Hinrichs hatten sich umgezogen, weil ihre Uniformen durch den Schlick des Wattenmeeres total verdreckt waren. Rieke Hinrichs hatte die Fotos vom Fundort schon auf die PCs geladen. Nachdenklich blickten alle auf die Monitore.

„Der Mann muss, glaube ich, bei der Arbeit gestorben sein“, spekulierte Naumann, „ein Touri läuft ja nicht im Blaumann hier rum.“

Petersen nickte.

„Wir müssen die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Ist da jemand über Bord gegangen von einem Arbeitsschiff?“

„Unwahrscheinlich, dann hätten wir doch eine Suchmeldung bekommen, und die Seenotretter hätten ebenfalls Bescheid gesagt. Und von der Nordsee werden die Leichen kaum ins Wattenmeer gespült. Die werden dann draußen auf irgendeiner Sandbank gefunden, in der Regel an der nordfriesischen Küste“, referierte Onno.

Petersen war aufgestanden.

„Lasst uns nicht weiter spekulieren. Wir müssen die Obduktion abwarten. Vielleicht finden die auch was über die Identität des Mannes. Günter, nimmst du die Aussage der Wattführerin auf, reicht morgen. Ich fahre jetzt noch zur Jugendherberge. Kann die Lehrer ja nicht hierher bestellen, ich sage nur Aufsichtspflicht.“

„Jung, nee, wat bis du bloß für ‘n Sabbelkopp“, amüsierte sich Onno.

Rieke Hinrichs schüttelte nur mit dem Kopf. Sie hatte Onnos plattdeutschen Einwurf nicht verstanden. Vorsichtig fragte sie Petersen:

„Kann ich mit zur Jugendherberge kommen?“

„Kein Problem, aber diesmal nicht auf dem Gepäckträger. Wir haben ja noch ein zweites Fahrrad.“





Im Anbau der Jugendherberge am Westturm saßen die beiden Lehrkräfte der Klasse 7b der Adolf-Reichwein-Oberschule aus Bremen im Aufenthaltsraum zusammen. Die Klasse veranstaltete einen Spieleabend, der gegen alle Befürchtungen relativ ruhig verlief. Die Ereignisse des heutigen Tages wirkten noch nach. Nach Rücksprache mit der Schulleitung und den Elternsprechern der Klasse wurde auf einen Abbruch der Klassenfahrt verzichtet. Die Abreise war sowieso in zwei Tagen geplant, außerdem wussten die beiden Lehrkräfte nicht, wie lange sie der Polizei für Befragungen zur Verfügung stehen mussten. Für heute Abend hatten sich bereits Beamte der örtlichen Polizei angekündigt.

Lena Petersen sah dieser Befragung mit gemischten Gefühlen entgegen. Es würde zum ersten Mal, seit sie mit ihrem Vater gebrochen hatte, zu einer Begegnung kommen. Zwar wusste sie, dass ihr Vater von Bremen nach Wangerooge strafversetzt worden war, aber sie hatte nicht damit gerechnet, ihn auf der Insel zu treffen. Sie war Referendarin im Schuldienst und die Begleitung einer Klassenfahrt gehörte zur Ausbildung. Als Wangerooge als Ziel der Klassenfahrt genannt wurde, hatte sie zuerst überlegt, die Teilnahme abzulehnen. Später hatte sie sich dann aber doch dagegen entschieden. Eine Weigerung wäre bei ihrem Schulleiter und ihren Ausbildern nicht gut angekommen, und unter normalen Gesichtspunkten würde sie nicht unbedingt Kontakt zur örtlichen Polizei bekommen. Also hatte sie schweren Herzens zugestimmt. Dass sie bzw. einer ihrer Schüler eine Leiche im Wattenmeer finden würde, war in der Tat ein tragischer Zufall.

Dabei hatte sie sich mit ihrem Vater während ihrer Kindheit außerordentlich gut verstanden. Er war ein verständnisvoller und liebevoller Vater gewesen. Erst mit seiner Versetzung in die Drogenfahndung hatte sich sein Verhalten geändert. Er trank übermäßig viel Alkohol, stritt sich immer häufiger mit ihrer Mutter, wobei er allerdings nie aggressiv oder bedrohlich wurde. Zusätzlich nahmen seine Musiktermine mit seiner Band zu, so dass er neben seinem Schichtdienst auch in seiner Freizeit viel unterwegs war. Seine mutmaßlichen Verstrickungen in den Drogensumpf, welche dann ja zu einem Disziplinarverfahren und zur Versetzung auf die Insel geführt hatten, waren der Anlass, dass sie mit ihrem Vater gebrochen hatte. Nachträglich musste sie sich eingestehen, dass ihre Mutter den Bruch forciert hatte.

Heute im Wattenmeer hatte sie ihren Vater von weitem gesehen, wie er dort mit seiner hochgekrempelten Uniformhose durchs Wattenmeer stolzierte. Augenscheinlich hatte er sie nicht erkannt. Mit gemischten Gefühlen wartete sie nun auf die polizeiliche Befragung durch ihren Vater.

Petersen und Rieke Hinrichs stellten ihre Fahrräder im Hof der Jugendherberge ab. Während er das E- Bike benutzt hatte, war Rieke ihm mit dem rostigen Normalfahrrad der Dienststelle gefolgt. Auf dem Deich hatten sie Gegenwind gehabt, was seiner Anwärterin aber nichts auszumachen schien. Ohne Probleme hatte sie ihm folgen können, was für ihre körperliche Fitness sprach oder aber für seine Kurzatmigkeit. Als beide den Aufenthaltsraum der Jugendherberge betraten, waren sie von der ruhigen Atmosphäre überrascht. Die Schüler spielten an verschiedenen Tischen Brett- oder Kartenspiele. Petersen wunderte sich, dass das in der heutigen Zeit noch möglich war. Die beiden Lehrkräfte saßen auf einem Sofa an der linken Seite des Raumes. Petersen erstarrte. Sein Magen begann zu grummeln. Dort auf dem Sofa saß seine Tochter, die er schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Rieke Hinrichs blickte ihren Chef sorgenvoll an. Irgendetwas an ihm hatte sich verändert.

„Ist was Chef? Alles klar?“

Petersen sammelte sich und nickte kurz.

„Suchen Sie bitte den Murat und befragen Sie ihn, und denken Sie dran, er ist ein Kind.“

„Ach, das habe ich noch gar nicht bemerkt“, konterte Rieke schnippisch. Ihr Chef schien sie für völlig unterbelichtet zu halten, das ärgerte sie.

Lehrer Bullwinkel erhob sich und reichte Petersen die Hand.

„Mein Name ist Bullwinkel und das ist meine Kollegin Petersen“, stellte er das Lehrerteam vor.

Nur ein knappes „Petersen“ kam über die Lippen des Kommissars. Bullwinkel stutzte.

„Die Namensgleichheit ist ja witzig“, grinste er.

Petersen war nicht zum Scherzen zumute. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft an einer Lösung, um die für ihn peinliche Situation aufzulösen. Aus Lena Petersens Gesicht war jegliche Farbe entwichen. Würde ihr Vater sie verleugnen? Grund dazu hätte er gehabt. Sie hatte sich von ihm losgesagt.

„Die Namensgleichheit ist kein Zufall. Lena ist meine Tochter.“

Bullwinkel spürte sofort, dass hier irgendetwas zwischen Vater und Tochter nicht stimmte.

„Ich gehe mal eben zu Ihrer Kollegin und unterstütze sie bei der Befragung von Murat. Wir haben ja sowieso nichts Polizeirelevantes beizutragen.“

Mit diesen Worten zog er sich dezent zurück. Petersen setzte sich langsam aufs Sofa.

„Ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns hier unter diesen Umständen wiedersehen. Du als Zeugin bei einem Leichenfund und ich als Dorfpolizist“, bemerkte er trocken.

In diesem Moment liefen Lena Petersen die Tränen übers Gesicht. Sie umarmte ihren Vater und hielt ihn lange fest. Behutsam streichelte Petersen seine Tochter, die sich nun langsam beruhigte. Die ersten Schüler registrierten die Szene auf dem Sofa.

„Frau Petersen, was ist denn, hat der Mann Ihnen wehgetan?“

Lena Petersen schüttelte mit dem Kopf. Petersen zückte seinen Notizblock, um das Ganze dienstlich aussehen zu lassen.

„Alles okay hier, für eure Lehrerin war das heute alles ein bisschen zu viel“, erklärte er in pädagogischer Manier.

„Ich hab’s ja immer gesagt, Papa, du hättest Lehrer werden sollen.“

Die Situation hatte sich entspannt. Da Lena die Klasse in der verbleibenden Zeit nicht verlassen wollte, verabredete man sich bei Petersens nächstem Bremen-Besuch zum Essen im Ristorante „Da Rocco“.

Als Rieke und Petersen wieder zu ihren Rädern gingen, sprach Rieke ihn auf die Situation auf dem Sofa an, die auch sie beobachtet hatte.

„Haben Sie der jungen Lehrerin das Herz gebrochen, Chef?“

„Das war meine Tochter, die ich schon mehrere Jahre nicht mehr gesehen habe.“

Rieke Hinrichs biss sich auf die Lippen. Hätte sie bloß ihren Mund gehalten. Voll ins Fettnäpfchen getreten, na toll. Sie wartete auf Petersens Anschiss. Es kam aber nichts. Als sie wieder auf dem Deich waren, drehte er sich zu ihr um.

„Ich verspüre einen stechenden Durst. Wir holen uns jetzt unsere Runde vom Magister ab.“

Ungläubig starrte sie ihn an.

„Das ist ein dienstlicher Befehl!“

Rieke grinste breit. Der Alte war wieder der Alte.


Vor dem „Störtebeker“ waren die grünen Sonnenschirme noch aufgespannt, obwohl es schon dämmerte. Es war einer dieser schönen Sommerabende, an denen die Leute lieber noch am Strand saßen, als in den Kneipen zu versacken. Auch keiner der bekannten Insulaner aus der „after work Knobelrunde“ war zu sehen, außer dem „Schweden“, der gerade einem Touri-Paar von den Stationen seiner Kochkarriere berichtete. Aus den Boxen ertönte eine Bluesnummer von Joe Bonamassa. Als Rieke und Petersen die Kneipe betraten, wurden sie sofort vom Magister als „Leichen-Such-Dream Team“ begrüßt. Der Leichenfund im Wattenmeer hatte sich natürlich auf der Insel rumgesprochen. Zu viele Menschen waren Zeugen dieses Ereignisses gewesen, so dass eine Geheimhaltung des Fundes ausgeschlossen war.

„Die erste Runde geht wie abgesprochen aufs Haus. Was der Sheriff trinkt, weiß ich ja, aber, was darf ich seiner Assistentin bringen?“

Rieke bestellte ein Alster und vermied damit, den Spruch „wir sind hier nicht auf Sylt“ zu kassieren. Petersen war darüber sehr erfreut, dass seine Kollegin nicht in diese Falle getappt war. Bei der Bestellung eines Cocktailgetränkes hätte es sofort einen verbalen Ausfall des Magisters gegeben. Petersen war sich nicht sicher, wie Rieke reagiert hätte. Erleichtert musste er aber auch feststellen, dass der Magister nüchtern war. Ab und zu zog er diese „trockenen Phasen“ konsequent durch, wofür ihn Petersen bewunderte. Rieke musterte aufmerksam die maritimen Accessoires der Kneipe, wobei das überbordende Dekolleté der Gallionsfigur, die über dem Spielautomaten hing, sie besonders begeisterte.

„Wie lang willst du diesmal deine Abstinenz durchziehen?“

„Ich denke bis Ende September. Dann wird es auf der Insel wieder ruhiger. Ich bin aber auch durch einen Zeitungsartikel besonders motiviert worden. Keith Richards hat zum ersten Mal in seinem Musikerleben eine Tournee nüchtern durchgespielt. Das Repertoire nüchtern zu erleben, sei für ihn eine besondere Erfahrung gewesen. So geht es mir ja auch hier.“

Petersen grinste.

„Who the fuck is Keith Richards?“, schaltete Rieke sich ein.

Die beiden Männer erstarrten zu Salzsäulen. Für sie hatte Rieke jetzt ins Braune gegriffen.

„Das gibt Minuspunkte, Sheriff, du kommst deiner Ausbildungspflicht nicht genügend nach“, flötete der Magister.

„Ja, wer ist das denn nun?“, ließ sich Rieke nicht einschüchtern.

„Der legendäre Gitarrist der Rolling Stones“, klärte Petersen etwas gönnerhaft auf.

„Das ist für mich Musik aus dem Gestern, aus der Gruft, tut mir leid.“

„Klassik nennen wir so etwas“, schob der Magister nach. Die Unterhaltung wurde jetzt unterbrochen, weil sich einige Gäste Biere für die Terrasse bestellten. Petersen war darüber nicht böse, denn über die Rolling Stones zu streiten, war unter seiner Musikerwürde. Als der Magister die Gäste bedient hatte, wechselte auch er das Thema.

„Gestern hätte ich beinahe bei euch angerufen. Hatte Streit mit ein paar osteuropäischen Arbeitern vom Deichbau. Waren aber auch vernünftige dabei, die haben dann ihre aggressiven Kollegen beruhigt.“

„Da bin ich aber sehr dankbar. Auf so etwas habe‘ ich nämlich überhaupt keinen Bock. Wo wohnen die eigentlich?“, erkundigte sich Petersen.

„Hinter dem Reitstall im Dorfgroden, da ist doch so eine Art Containerdorf.“

„Stimmt“, murmelte Petersen. Die Container hatte er schon registriert, aber irgendwie nicht mit dem Deichbau in Verbindung gebracht. In seinem Gehirn arbeitete es. Er nahm sein Handy und tippte sich eine Notiz ein. Rieke, die der Zigarettenqualm sichtlich auf den Geist ging, verabschiedete sich.

„Chef, ich hoffe Sie sind nicht böse, wenn ich mich verziehe. War ein harter Tag heute.“

Eigentlich hätte sie ihren Chef noch gerne auf die Begegnung mit seiner Tochter angesprochen. Aber hier in der Kneipe war, so glaubte sie, nicht der richtige Ort dafür.

„Bis morgen!“

Sie klopfte noch kurz auf den Tresen und machte sich dann vom Acker. Petersen bestellte noch ein Abschlussbier. Er rechnete damit, dass morgen der Bericht von der Obduktion aus Oldenburg vorliegen würde und dann würde vielleicht der Tanz losgehen. Er musste einen klaren Kopf bewahren. Hier jetzt zu versacken, ging gar nicht, auch die Begegnung mit seiner Tochter war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.

„Wie macht sich deine rote Zora denn so?“, wollte der Magister wissen.

„Lass sie so was nicht hören, da versteht sie keinen Spaß. Das ist ein taffes Mädel, die hat Power. Ich bin gespannt, wie sie sich in schwierigen Situationen verhalten wird.“

„Du meinst zu viel Power?“

„Könnte sein, aber dafür ist die Ausbildung ja da, alles in geregelte Bahnen zu lenken.“

Der Magister grinste.

„Warum bist du nicht Lehrer geworden, an dir ist einer verloren gegangen.“

„Das ist eine lange Geschichte und die will ich heute Abend nicht mehr erzählen.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich.

Mundtot auf Wangerooge

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