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Prolog

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Er erhob sich aus der Finsternis, sicher, dass ihn niemand bemerkt hatte. Schwarzer Nebel zog langsam in die kühle Nachtluft hinaus und verschwand dann in der Dunkelheit. Sein Sichtfeld wurde klar und er sah die riesigen Rosenbüsche, die vor ihm wuchsen. Dahinter lag die Ahornallee, beschienen von einer alten, verrosteten Laterne. Sie war das einzige Licht weit und breit, ein missglückter Versuch, die Dunkelheit abzuhalten.

Niemand kann die Dunkelheit aufhalten. Niemand.

Er richtete seine Augen auf die Lampe und dachte an alles, was er bis jetzt vollbracht hatte. Die Finsternis durchfloss ihn, flutete seine Seele und gab ihm ein Gefühl unbeschreiblicher Macht. Er dachte an eine Wolke aus tiefster Schwärze, streckte seine Hand aus und ließ die Gedanken dann los.

Eine finstere, kalte Schliere verließ seine Finger. Das Gebilde schwebte über die Straße hinweg und hielt dann erbarmungslos auf die Laterne zu. Mit einem hässlichen Brummen umschloss die Wolke die Lichtquelle und laut zischend glitt sie schließlich in die Glühbirne und sprengte das Glas mit einem Knall. Es war nun komplett finster auf der Straße und er sog genüsslich den Gestank ein, den die Wolke hinterlassen hatte. Dann schwebte er nach vorne und durchglitt die Rosenbüsche, als wären sie Luft. Mit einem hässlichen Knistern starben die Gewächse und sanken tot auf den Boden, wo sie verrottet liegen blieben.

Er setzte seinen Weg fort über die Straße, die unter ihm zu verschwimmen schien, stellte sich unter die Laterne und betrachtete die Scherben, die auf dem Boden lagen. Eine schrecklich schöne schwarze Schicht war deutlich darauf zu erkennen.

Dann hörte er ein Knistern und drehte sich suchend um. Lauernd prüfte er die Umgebung. Wie jeder seiner Art konnte er in der Dunkelheit perfekt sehen. In der Ferne erkannte er zwei Eichhörnchen, die seine Gegenwart zu spüren schienen und fluchtartig das Weite suchten.

Am Ende der Straße, an der Kreuzung zur Kirchstraße, erschien ein Mann, hochgewachsen und ganz in Schwarz gekleidet. Er hatte einen starren, durchdringenden Blick. Seine blauen Augen waren in der Dunkelheit zu erkennen. Sie leuchteten hell in der Nacht, fast wie zwei große Glühwürmchen. Der Mann drehte seinen Kopf nach links und rechts, um sicher zu gehen, dass sie keine ungebetenen Zuhörer hatten und schritt dann ebenfalls auf die Laterne zu.

Dieser Mann hatte keine Angst vor ihm, im Gegensatz zu den vielen Menschen zuvor. Dazu gab es keinen Grund. Er hatte es ermöglicht, diese Welt zu betreten und hier zu existieren. Bald würde eine neue Zeit anbrechen. Bald würde das letzte Licht fallen und Dunkelheit würde die Welt ertränken. Grausige, ewige Dunkelheit.

Der Mann fing teuflisch an zu grinsen, als der neben ihm angekommen war. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, die blauen Augen wurden unnatürlich groß und der Mund weitete sich, wurde breiter und schließlich schienen die Mundwinkel fast die Ohren zu berühren. Das Gesicht war bleich wie das einer Leiche, die Zähne waren jedoch nicht vergammelt, sondern von einem makellosen, weißen Glanz.

„Nun, Sclair, ist es an der Zeit, deine Gefolgschaft zu verständigen. Wir können und dürfen nicht noch länger warten, es muss bald geschehen. Der Winter nähert sich und die Tage werden schon jetzt dunkler. Wenn wir zu lange zögern, müssen wir ein weiteres Jahr warten und ich vermute, dass dir das nicht gefällt“, dröhnte der Mann mit einer tiefen Stimme.

„Ich werde mich so schnell wie möglich auf den Weg machen“, antwortete Sclair.

Sclair. Das war ein Name wie jeder andere. Er hatte schon viele gehabt. Doch das war sein erster gewesen.

„Wir müssen schneller vorgehen. Wie viele hast du schon getötet? Zwei?“

„Drei. Zuerst ein Kind, das im Dunkeln in seinem Zimmer unter seinem Bett ein Spielzeug gesucht hat. Danach habe ich noch einen kleinen Jungen überfallen. Er hat um Hilfe gerufen.“

„Was? Ich sagte dir doch, das dürfe nicht passieren! Wenn du fotografiert worden wärst, hättest du jetzt gewaltige Probleme!“, zischte der Mann verärgert. Er fletschte seine Zähne und die Nasenflügel fingen an, unruhig zu beben.

„Keine Sorge. Es war nur der Vater dort“, versuchte Sclair ihn zu beschwichtigen, denn ihm graute vor der Wut seines Gegenübers.

„Als er kam, habe ich mich unsichtbar gemacht und bin dann durch das Kind hindurchgegangen.“

Er bemerkte, wie der Mann schauderte. Vermutlich versuchte er, einen Menschen dieser Welt zu imitieren.

Sclair bezweifelte jedoch, dass sein Gegenüber ungefähr so viel mit einem Menschen gemein hatte, wie er mit einem Schmetterling. Hastig fuhr er fort:

„Das war vielleicht ein Schock für den armen Kerl. Zum Glück musste er nicht lange leiden. Durch die... Eigenschaft meiner Art war meine Hand eine Klaue, ich habe sie verstofflicht und dann…“

Sclair ließ etwas erklingen, was sich anhörte wie eine Mischung aus dem Geräusch einer Kreissäge und dem Tosen eines Wasserfalls. Seine Art zu lachen.

„Ich bezweifle, dass die Polizei seinen Kopf schon wieder gefunden hat. Aber solange sie auch suchen, niemand wird ihn finden.“

Der Mann zog eine Zeitung aus einer Jackentasche, auf deren Titelseite die Schlagzeile prangte „Jugendlicher enthauptet Vater“.

„Die glauben im Ernst, dass der Kleine seinen Papa ermordet hat. Es ist schon erstaunlich, wie einfach Menschen denken.“

Der Mann spuckte das Wort ‚Menschen’ heraus, als ob es ihn schon anekelte, auch nur einen Gedanken daran zu verlieren.

Sclair lachte erneut.

„Dann lass uns doch einmal den Jungen fragen, oder hast du was dagegen?“

Ehe der blauäugige Mann etwas sagen konnte, öffnete Sclair seinen Mund. Ein lang gezogener, hoher Schrei drang aus seiner durchsichtigen Kehle.

Gespannt wartete Sclair auf eine Gefühlsregung seines Gegenübers. Sie blieb aus.

„Wann hast du seine Kraft aufgesogen?“, fragte der Mann interessiert.

„Es wird noch höchstens zwei Tage dauern, bis er von meiner Dunkelheit verschluckt wird. Dann wird nichts mehr vom armen Holger Schmidt übrig sein“, erklärte Sclair mit einem breiten Grinsen.

„Wir werden sehen. Aber jetzt solltest du deine Artgenossen aufsuchen. Ihr müsst beginnen. Ach, und Sclair, ich habe noch ein Geschenk für dich.“

Der Mann flüsterte dem Schatten etwas zu.

Sclair stieß ein letztes Lachen aus und entmaterialisierte sich in eine schwarze Nebelwolke, die plötzlich herangeweht kam.

Der Blauäugige blieb einige Sekunden unter der wieder Laterne stehen und verschwand dann, ebenso rasch und leise wie Sclair, in der Dunkelheit.


Weißschwarz

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