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Der Nachtwandler
ОглавлениеDer Regen prasselte gegen das Fenster. Es hatte langsam angefangen. Zuerst waren es nur ein paar kleine Tröpfchen gewesen, losgelöst aus den Weiten des Himmels, in gewisser Weise Vorboten der Nacht, die allmählich die Sonne löschten. Der Wind hatte nicht stark geblasen, nur ein Hüsteln der Welt. Doch aus dem Hüsteln waren erst ein Keuchen und danach ein Stöhnen geworden. Auch der Regen hatte sich verstärkt und gewaltige Wolkenberge türmten sich auf, die immer wieder den Mond verdunkelten.
Tom Becker hasste den Regen und hasste den Wind. Er verabscheute jeden einzelnen Tropfen, der sich den Weg zur Erde bahnte, verachtete jede Böe, die durch seine Straße und um sein Haus fegte.
Er betrachtete sein Spiegelbild, das in der Fensterscheibe zu sehen war.
Seine kurzen, blonden Haare und sein kantiges Kinn waren genau auszumachen, von seiner grünen Iris war aber nichts zu sehen. Er konnte auf seinem Pullover einen Fleck erkennen, wahrscheinlich noch Reste vom Mittagessen.
Tom beobachtete den Mond, der langsam aufstieg. Die Blitze, die sich immer wieder über den dunklen Himmel zogen, erhellten immer wieder die Stadt. Dazu fiel auch manchmal fahles, kaltes Mondlicht auf die Erde, wenn es nicht von den dunklen, erstickenden Wolken daran gehindert wurde.
Das Prasseln am Fenster ging Tom auf die Nerven. Er runzelte die Stirn und wandte sich dem Nachbarhaus zu, dessen Umrisse in der Finsternis wirkten, wie ein altes Ungetüm, das in der Nacht hockte und auf Beute wartete.
Es war ein fast schon antikes Gebäude, doch trotzdem nicht heruntergekommen und keinesfalls verdreckt oder in einer anderen Weise ungepflegt, die Familie Peterson in Verruf hätte bringen können. Die Wände waren weiß und das Dach mit blutroten Ziegeln bedeckt. Efeu wucherte an einigen Stellen bis hinauf zum Dachfirst. Der Garten war gewaltig, mit einem Fischteich, der fast schon ein See war und einem kleinen, selbst angelegten Wald aus Fichten. Keine vier Meter von Toms Zimmer entfernt erhob sich die braune Ziegelsteinwand, die das Grundstück der Beckers vom Anwesen der Petersons trennte und nicht einmal fünf weitere Meter dahinter ragte das alte Haus auch schon empor.
Von seinem Stuhl aus konnte Tom das Zimmer von Walter sehen, seinem Erzfeind. Er dachte daran, wie viele Gefechte und Streitereien sie sich schon geliefert hatten…
Tom war zwar kein Außenseiter in der Schule, aber er war auch nicht sehr beliebt. Walter Peterson trug einen großen Teil dazu bei. Wenn er nicht wäre, hätte Tom wahrscheinlich auch ein paar echte Freunde, die bereit waren, ihn auch einmal nachmittags zu besuchen. Es gab den einen oder anderen, der sich neben Tom setzte, aber nur, weil seine Noten in Deutsch sehr gut waren.
Der Streit mit Walter war beinahe historisch. Schon im Kindergarten hatte es angefangen: Hatte Tom eine Sandburg gebaut, die größer war als die von Walter, war sie am nächsten Tag einem Attentat zum Opfer gefallen.
Hatte Tom einen besseren Test geschrieben als Walter, wurde ihm rätselhafter Weise am nächsten Tag vorgeworfen, dass er abgeschrieben hatte. Toms Lehrer behauptete damals steif und fest, aus zuverlässiger Quelle erfahren zu haben, dass Tom von seinem Sitznachbarn „inspiriert“ worden war.
Hier lag das erste Problem: Walter war ein Meister der Schauspielkunst. Sogar dann hätte er einen Finanzbeamten davon überzeugen können, dass bei ihm nichts zu holen sei, wenn er einen Goldbarren um den Hals getragen hätte.
All das war noch gar nicht so dramatisch gewesen, im Gegensatz zu dem, was voriges Jahr vorgefallen war. Die Sache mit Juliet.
Juliet war Toms erste (und einzige) große Liebe gewesen. Er lud sie ins Kino ein, führte sie zum Italiener aus und kaufte ihr sogar eine goldene Halskette. So viel Geld mit sechzehn Jahren aufzutreiben war ziemlich schwierig gewesen. Dafür hatte er einen ganzen Monat bei „Samuels Fisch- und Flunderfachgeschäft“ die dreckigen, schuppigen und fettigen Fischregale geputzt. Zu seinem Ekel hätte er das ein oder andere Mal schwören können, dass die Reste, die er manchmal fand, noch lebten. Außerdem hasste er Tintenfische, ob sie nun mausetot oder lebendig waren. Aber er hatte seinen Ekel überwunden und lange in dem kleinen Laden geschuftet.
Und dann kam es vor vier Wochen, wie es kommen musste, und zwar in Gestalt von Walter Peterson. Dieser miese Hund hatte es irgendwie geschafft, ein Foto zusammenzubasteln, das ihn und Kerstin beim Knutschen zeigte. Kerstin hatte die Figur eines Orcas und ihr Gesicht war so speckig, dass man es mit einem Haufen Walfett verwechseln konnte. Ein Glück war, dass man ihre fettigen Haare rechtzeitig riechen konnte, so war eine schnelle Flucht nicht unmöglich. Juliet fand die ganze Sache natürlich nicht sehr toll, ihre Ohrfeige tat Tom jetzt noch weh.
Die Tatsache, dass danach Walter mit ihr ausgegangen war und schon nach zwei Tagen wieder mit ihr Schluss gemacht hatte, zog unwirklich an Tom vorbei.
Hier lag das zweite Problem mit Walter: Seine Eltern hatten mehr Geld als das Unwetter Regentropfen. Und das gaben sie ziemlich schnell für ihren „lieben kleinen Schatz“ aus. Eine einfache Fotomontage machen zu lassen war somit kein Problem.
Seit diesem Tag hatte sich die Rivalität zwischen den Beiden verändert. Sie war in Krieg umgeschlagen. Und wie sich gezeigt hatte, war Tom darin nicht schlecht.
Ganz besonders stolz war er auf den Einfall vom letzten Montag. Mit Zeitungspapier bewaffnet hatte Tom den Nachbarshund Percy abgeholt und war ein Stück mit ihm spazieren gegangen. Als das Tier sich auf dem Gehweg erleichtert hatte, sammelte Tom die Überbleibsel ein und lieferte Percy wieder bei seinem Frauchen ab.
Nachdem Tom über die Mauer der Petersons geklettert war, schlich er langsam zu Walters Haustür. Mit seinem Feuerzeug entzündete er die Zeitungsfetzen, die Percys Schätze enthielten und klingelte. Da Walters Eltern gerade zu einer Konferenz aufgebrochen waren, wusste Tom, dass sein Feind alleine war.
Rasch rannte er den Weg hinauf zum Tor, doch er hörte schon die Tür knarren und warf sich im Halbdunkel in das nächste Buschwerk, das sich zu Toms Pech als ein Brennnesselgestrüpp entpuppte.
Von hier aus konnte er halb zerstochen, halb erfreut erkennen, wie Walter versuchte, mit seinen neuen Designerschuhen das Feuer auszutreten. Durch das unerfreuliche Ergebnis angeheizt, rannte der Junge noch nach drei Stunden mit einer Taschenlampe durch seinen Garten und suchte nach ihm.
Doch heute saß Tom nur da, und schaute in das Zimmer seines Feindes.
Es war viel prunkvoller eingerichtet als das von Tom. Er war zum Glück noch nie persönlich darin gewesen, aber schon der Anblick ließ ihn beinahe erbrechen.
So viele teure Sachen für so ein Ekel: Ein großer Plasmafernseher stand auf einer modernen Kommode, die aus Eisen gemacht war, an einer anderen Wand thronte ein Computer auf einem verchromten Schreibtisch. Walter bekam nahezu jeden Monat einen neuen („der Fortschritt ist nicht aufzuhalten“, wie der Mistkerl immer zu sagen pflegte). Darüber war ein Regal angebracht, auf dem nahezu zweihundert CDs standen.
Es war ein Glück, dass der Kleiderschrank nicht zu sehen war, denn jeden Tag auf gut tausend Kleidungsstücke zu sehen würde Toms allgemeine Laune nicht sonderlich heben. Wohl aber zu sehen war das Holzbett, in dem sein Erzfeind schlief.
Toms eigenes Zimmer war viel einfacher eingerichtet: Hier drin stand ein kleines Bett, ein großes Bücherregal, ein Schreibtisch mit einem alten Computer und ein Kleiderschrank in der einen, Schränke für Krimskrams in der anderen Ecke. An seinen Schreibtisch gelehnt war ein Baseballschläger, signiert von Billy Williams.
Tom hatte einmal Baseball gespielt, aber er war vor drei Jahren ausgestiegen. Einen eigenen Fernseher hatte er nicht, wohl aber einen großen Lesesessel, in dem er nun saß und das gegenüberliegende Haus beobachtete.
Normalerweise sollte er fröhlich sein, denn es war Freitag und außerdem noch Ferienbeginn. Er wollte sich entspannen und die stressige Schule hinter sich lassen, vielleicht ein paar Gedichte schreiben und faulenzen.
Doch Tom musste immer wieder an den Zeitungsausschnitt denken, der auf seinen Knien lag. Es ging um Holger. Er kannte Holger nicht besonders gut, aber er wusste aus der Schule, dass dieser ein sympathischer, unscheinbarer Junge war. Das stand im krassen Gegensatz zu dem, was die Polizei sich rekonstruiert hatte.
Der Zeitungsausschnitt war die Titelseite des „Ludwigsheimer Anzeigers“. Ein unscharfes Bild von einem Teppich mit undefinierbaren Objekten darauf war als Aufmacher verwendet worden. Vermutlich waren die seltsamen Gegenstände Überbleibsel von einem Menschen.
Tom las den Artikel noch einmal durch und obwohl es schon das vierte Mal war, wurde er von einem seltsamen Grauen übermannt:
Jugendlicher enthauptet Vater
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hat ein Gewaltverbrechen die Kleinstadt Königsdorf in tiefes Grauen versetzt. Der 43-jährige Brian Schmidt wurde auf unglaublich bestialische Art und Weise ermordet. Nach polizeilichen Angaben wurde ihm einem ungewöhnlich sauberen Schnitt der Kopf mit abgetrennt, der noch immer nicht wieder aufgetaucht ist. Rätselhafterweise fehlt von Brians 14-jährigem Sohn Holger jede Spur. Die zuständigen Behörden nehmen daher an, dass es sich um einen Amoklauf des Jungen handelt. Berichten zufolge hatte das Kind ein selbst programmiertes Killerspiel auf dem Computer installiert, in dem es das Ziel ist, auf möglichst brutale Art und Weise Figuren zu ermorden, die seinem Vater verblüffend ähnlich sehen. Es war bekannt, dass das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht das Beste war und da eines der Küchenmesser verschwunden ist, wird angenommen, dass die Tat mit diesem verübt wurde. Es ist jedoch ungeklärt, wie der Junge so viel Kraft aufbrachte, einen erwachsenen Mann mit einem normalen Haushaltsmesser zu köpfen. Ob die anderen beiden Vermisstenmeldungen oder der schwarze Nebel, der in letzter Zeit mehrfach beobachtet wurde, etwas mit dem Fall zu tun haben, ist noch unklar. Zeugen zu Folge waren laute Schreie und eine undefinierbare Schattengestalt durch das Fenster, das sich im ersten Stock vom Haus der Schmidts befindet, zu sehen, dies wurde jedoch nicht von den Behörden bestätigt. Die Polizei ruft alle auf, die Näheres zu der Bluttat wissen, ihre Informationen weiter zu geben.
Tom stutzte. Irgendetwas an dem Artikel kam ihm merkwürdig vor und es war nicht die Sache mit dem Küchenmesser. Irgendetwas war so faul wie die Äpfel in seinem Garten. Widerwillig legte er den Artikel wieder weg.
Schattengestalt? Tom glaubte nicht an Monster oder andere verrückte Wesen. Er bekam es zwar leicht mit der Angst zu tun, aber eher, wenn er greifbareren Bedrohungen gegenüberstand.
Er stand auf und schlurfte durch sein Zimmer, stieß unsanft die Tür auf und ging den langen Flur hinunter.
Seine Eltern hatten sich gerade ihre Mäntel angezogen, denn sie wollten an diesem Abend noch ins Kino gehen und „Romeo und Julia II“ genießen. Wobei man bei Toms Vater Albert nicht ganz von „genießen“ reden konnte, er tat das nur zur Freude von Toms Mutter. Alberts Glatze spiegelte die Flurlampe wider, während er Tom noch ein paar Abschiedsworte zukommen ließ:
„Also, mein Junge, brenne uns nicht das Haus ab und feiere keine allzu wilden Partys. Ich möchte mein wunderschönes Heim noch einmal in ganzen Stücken wiedersehen!“
„Ich kann dir das nicht versprechen“, lachte Tom.
Kurz darauf waren seine Eltern eng umschlungen in die Nacht gebraust. Tom sah erneut in den Regen.
Nach kurzer Zeit wurde dessen Anblick jedoch zu erdrückend, um länger vor der Tür zu verweilen und Tom zog es wieder ins Haus zurück, fort von der Dunkelheit.
Er ging wieder zurück in sein Zimmer und zog sein Lieblingsbuch aus dem Regal: „Dunkle Märchen“ von Rosetta Becker. Seine Großmutter hatte dieses Buch kurz vor ihrem Tod zu Ende geschrieben und seitdem las Tom die Geschichten. Er schlug Kapitel fünf auf, eine seiner Lieblingserzählungen.
Nachdem er sich mit dem „mutigen Mr. Montgomery“ vertraut gemacht hatte, wandte Tom sich wieder dem Unwetter zu und sah zufällig auf die Straße. Dort blieb sein Blick an der Laterne hängen. Das Licht begann zu flackern. Seltsam, wo doch das Kraftwerk keine zwei Straßen weiter entfernt stand.
Dann normalisierte sich der Laternenschein wieder, es war, als ob ihm seine Augen nur einen Streich gespielt hatten. Und doch…
Tom starrte zurück in die Nacht und sah den Vollmond an, der jetzt schon ziemlich hoch stand. Auf der Straße wurde es jetzt nebelig… normalerweise nichts Ungewöhnliches, aber seit wann hatte Nebel so eine pechschwarze Farbe?
Von überall her wehte schattiger Dunst heran und legte sich auf den Boden wie ein Teppich.
Tom blickte zurück in Walters Zimmer. Der hatte gerade seine Zähne fertig geputzt, sich geduscht und danach vergeblich versucht seine langen, schwarzen Haare trocken zu fönen.
Er schien ausnahmsweise nicht den ganzen Abend lang Computer spielen zu wollen. Walter stolzierte geradewegs auf sein Bett zu, drehte sich abrupt zu Tom um, zeigte ihm den Mittelfinger und knipste das Licht aus. Nun strahlte nur noch der Mond in das Zimmer. Tom bewegte sich nicht. Er hielt den Atem an, als er bemerkte, dass der schwarze Nebel zwischen den beiden Häusern aufstieg. Dann durchfuhr ihn ein Schreck.
Langsam zog die Suppe zu Walters Fenster empor, wobei sie immer neue Formen annahm, als würde sie leben. Suchend tastete eine Nebelschwade, die beinahe schon ein Tentakel war, nach dem Glas und durchglitt das feste Material dann einfach. Erschrocken hielt Tom den Atem an. Sein Deckenlicht flackerte erbärmlich auf und verlosch dann, ebenso wie die gesamte Straßenbeleuchtung.
Einzig allein die vielen Lichterketten und Flutlichter von den alten Radners hielten dem unheimlichen, Licht fressenden Nebel stand. Das Ehepaar war in der ganzen Gegend bekannt dafür, Weihnachtsbeleuchtung schon im September aufzuhängen, wusste der Himmel wieso.
Walter schien nichts zu bemerken. Durch das helle Mondlicht konnte Tom erkennen, dass er sich nicht sichtbar regte. Der dunkle Nebel umwaberte jetzt den Kopf von Walter und schien auf unheimliche Art und Weise fester zu werden. Mit einem Mal zogen sich die Schleier zurück. Tom konnte erkennen, dass der Dunst sich zu verdichten begann. Aus den Schlieren wurde zuerst eine Kugel, die selbst vom Licht des Mondes nicht erfasst werden konnte, sodass es aussah, als wäre ein Stück aus dieser Welt verschwunden in der Dunkelheit. Tom musste bei diesem Anblick daran denken, was einmal in einem Film als Schwarzes Loch gezeigt wurde.
Doch so blieb es nicht. Langsam wuchsen aus dem Inneren Arme, Beine und ein Kopf hervor, grob umrissen zwar, aber eindeutig zu erkennen. Schnell wurde die Gestalt feiner, die Schultern wurden mit glänzenden Teilen einer dunklen Rüstung bedeckt, dann formte sich der Rest des Körpers. Mitten in Walters Zimmer stand ein Wesen, zwei Meter groß und mit einem Breitschwert in der Hand.
Es war ein Ritter.
Nun hatte auch Walter das Monstrum bemerkt. Schreiend sprang er aus seinem Bett und entkam gerade noch dem Hieb, der seinen Schlafplatz entzweispaltete und eine Wolke aus Daunen aufwirbelte. Walter rannte zur Tür und hämmerte panisch dagegen. Doch die Tür war verschlossen und Walter konnte sich gerade noch mit einem Sprung vor dem nächsten Schlag in Sicherheit bringen. Das Geschöpf stieß ein so ohrenbetäubendes Lachen aus, dass es durch beide Fenstergläser und in Toms Zimmer drang und schlug dann erneut zu. Sein Opfer wich wieder aus, sodass das Schwert aus dem teuren Computer einen Haufen Schrott machte.
Plötzlich stand Walter vor dem Fenster, klopfte verzweifelt dagegen und schrie aus Leibeskräften. Der Anblick, wie er sich an das kalte Glas presste, sollte sich Tom für immer ins Gedächtnis brennen. Dann drang das Schwert durch Walters Brustkorb und Blut quoll aus der Wunde.
Nun stieß auch Tom einen Schrei aus und die Kreatur blickte auf und sah ihm genau in die Augen.
Obwohl es stockdunkel in Toms Zimmer war, spürte der Junge den stechenden Blick des Ungetüms. Er tastete nach seinem Lesesessel und versteckte sich wie ein kleines Kind hinter der Rückenlehne. Dann ergriff ihn ein Gefühl, das erdrückender war als alles, was er je gespürt hatte. Seine Gedärme krampften sich zusammen und Tom musste sich nahezu übergeben. Er blickte nach oben. Am Kopfende seines Sessels waren dunkle Qualmwolken aufgetaucht, genau wie noch ein paar Sekunden zuvor in Walters Zimmer und schon begann sich der Nebel zu einer erneuten schwarzen Kugel zusammenzuziehen. Tom machte sich bereit, einem tobenden Ritter mit Schwert die Stirn zu bieten. Doch die Kugel wurde kleiner, sank zum Boden herab und für einen kurzen Moment dachte Tom, dass er in Sicherheit wäre.
Plötzlich jedoch bekam er wahnsinnige Angst.
Die Kugel wurde langsam klarer und dann wuchsen dünne Arme mit langen Fingern, ebenso hässliche Beine und ein Kopf mit lederartigen Ohren und pulsierend roten Augen aus der Dunkelheit und verfestigten sich. Am Ende stand ein hässliches Geschöpf auf Toms Teppich und schaute ihn mit durchbohrendem Blick an.
Er starrte zurück.
Es war ein Graukobold. Als er noch in den Bergen wohnte, hatte Toms Großmutter ihm Gruselgeschichten über diese Monster erzählt. Angeblich krochen sie nachts aus den Felsspalten, schlichen sich in die Träume von Schlafenden und löschten dann deren Lebenslicht. Aber das war nicht möglich, so etwas existierte nicht! Es konnte einfach nicht existieren! Doch dort stand das Ding, direkt vor ihm. Der Kobold sah genau so aus, wie Tom es sich vorgestellt hatte.
Er stutzte. Bei genauer Betrachtung gab es nicht den geringsten Unterschied. Fast, als wäre das Ding seinen Gedanken entkrochen.
Dann sprang es mit einer enormen Geschwindigkeit auf ihn zu. Reflexartig warf Tom sich auf den Boden und das Ungetüm brach mit seinem kleinen Körper durch die Zimmertür; Holzsplitter wurden in alle Richtungen weggeschleudert und bohrten sich mit hässlichem Knallen in die Wand. Tom sah auf das Loch, das ihm einen Ausblick auf den dunklen Flur gewährte.
Ein Fluchtweg.
Der Graukobold rappelte sich mit einem schrillen Quieken
auf und ließ die glühenden Augen rollen, während er sich mit einer schlangenartigen Zunge über seine Lider fuhr.
Hektisch sah Tom sich in seinem Zimmer um und fand, was er suchte. Als das Monster sich umdrehte und erneut zum Sprung ansetzte, griff er nach dem Baseballschläger. Während der Kobold wieder auf ihn zuflog, holte Tom aus und hieb ihm mit aller Kraft ins Gesicht, sodass das Wesen an ihm vorbei in sein Bücherregal geschleudert wurde. Tom wusste aus den Geschichten seiner Großmutter, dass das Gesicht der verwundbarste Teil des Geschöpfes war. Gleichzeitig kam es ihm lächerlich vor, sich an die Angaben eines alten Gruselmärchens zu halten.
Der Kobold schien das auch so zu sehen, denn er rappelte sich erneut auf, als sei nichts gewesen, und wollte schon wieder auf ihn zuhechten. Tom rannte in den Flur und auf die Treppe zu, den Schläger krampfhaft umklammert. Er hörte das Geschöpf kreischen und erhöhte sein Tempo, schlug einen Haken und sah den Kobold an sich vorbeizischen und in eine Kommode krachen.
Schnell spurtete Tom die Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend, und stieß schließlich die Haustür auf. Das Wesen schoss erneut knapp an ihm vorbei, diesmal nur, weil er sich mit einem Sprung durch die Haustür in den Garten rettete. Tom dankte seinem Vater, der seit Jahren kein Unkraut mehr vor der Tür gejätet hatte. Es war ein schleimiges, matschiges Geräusch zu hören und Tom hoffte, dass es nur die nassen, mit Wasser vollgesogenen Pflanzen waren und nichts ekelig Lebendiges, das er gerade zerquetscht hatte. Dann rappelte er sich schnell wieder auf und stürmte instinktiv auf den Garten der Radners zu. Um das Haus seiner Nachbarn war kein schwarzer Nebel zu erkennen, aber um das Grundstück herum war alles von dem dunklen Qualm bedeckt, der nun mehr wie ein tieffinsteres Meer aussah. Es schien, als mochte der Nebel keine Helligkeit. Tom rannte mitten in das einzige Licht, dass noch nicht vom Nebel gelöscht worden war und sah sich nach dem Kobold um. Der Graukobold wuchs aus den dunklen Schwaden hervor und rannte dann auf ihn zu. Doch plötzlich stoppte er vor den Lichtkegeln der Flutlichter und fletschte wild seine Zähne.
„Du hast also Schiss vor ein wenig Licht? Muss ich etwa in die Dunkelheit, damit du mich aufschlitzen kannst?“, rief Tom, der sich von der Helligkeit gestärkt fühlte.
„Komm doch, wenn du dich traust“, zischte das Geschöpf mit einer wässerigen Stimme.
Seltsam, dachte Tom, normalerweise können die Dinger doch nicht sprechen.
„Wir können viel mehr als sprechen“, gab der Graukobold zurück.
„Zum Beispiel Gedanken lesen.“
Tom erschrak. Dann antwortete er:
„Du bist kein Graukobold, oder?“
„Natürlich nicht.“
„Was bist du dann?“
„Das willst du nicht wissen. Ich weiß, dass du feige bist. Das kann ich auch in deinem Köpfchen lesen“, lachte der Kobold. „Du wirst mir nichts anhaben können, du kannst nur einfach dort stehen und warten. Ich kann deine Angst riechen. So süß. So saftig…“
Tom zitterte am ganzen Leib. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Schlägers.
„Was willst du von mir? Was haben Walter und ich dir getan? Gar nichts! Was soll das?“, fragte er mit brüchiger, verzweifelter Stimme.
„Ihr habt mir nichts getan, das stimmt. Es ist meine Natur, Menschen zu töten. Daran kannst du nichts ändern.“
„Aber es gibt keine Graukobolde. Ich habe keine Angst vor Sachen, die es nicht gibt“, versuchte Tom sich selbst Mut zu machen.
„Mich gibt es. Das sollte dir eigentlich reichen. Früher oder später werde ich dich kriegen. Dann zerreiße ich dich und esse dich auf. Dein Lebenslicht wird so wunderbar schmecken, ich kann es fast schon auf der Zunge spüren. So oder so, du bist verloren!“
„I-ich kann hier die ganze Nacht herumstehen“, stotterte Tom.
„Wirklich?“
Die Flutlichtanlagen der Radners leuchteten gefährlich auf.
Er versucht das Licht zu löschen, schoss es Tom durch den Kopf.
„Exakt“, grinste das Ungeheuer.
Dann fasste Tom einen Entschluss. Es war kein Gedanke, den das Wesen erfassen konnte, sondern nur ein unbeschreibliches Gefühl. Mit einem Mal fing Toms Schläfe an zu brennen und für einen kurzen Moment leuchteten grün-gräuliche Lichter vor seinen Augen auf.
Tom stürmte mit dem Baseballschläger in die Richtung des Kobolds. Sobald er aus dem Licht getreten war, flog sein Gegner schon auf ihn zu, gierig und unbedarft.
Wenn du Gedanken lesen kannst, dachte Tom, hörst du sicher Folgendes: Ich war mal ein ziemlich guter Baseballer.
Und dann rief er:
„Viel Spaß in der Hölle, falls es so etwas gibt, du Mistvieh!“
Er schlug das Monster mit aller Kraft in Richtung des nächsten Flutlichts. Als der Kobold den Plan des Jungen erkannte, war es schon zu spät. Der Schläger zersplitterte beim Aufprall. Das Wesen krachte mit voller Wucht in die gleißend helle Lichtquelle. Es kreischte, als sein Körper sich in den Qualm auflöste, aus dem er entstanden war.
Die Laternen flammten wieder auf, Tom konnte erkennen, dass auch das Licht in seinem Zimmer wieder brannte. Der Nebel verflüchtigte sich. Tom schaute an seinem Arm herab und bemerkte erst jetzt die Wunde, die ihm der Kobold während seines letzten Sprunges zugefügt hatte. Realisierend, dass sein ganzer Arm aufgerissen war, brach er auf dem gepflegten Garten der Radners zusammen.
Langsam begann die Welt um ihn herum zu verschwimmen und löste sich schließlich ganz auf, bis nichts mehr übrig war.
Toms Gliedmaßen ertaubten und langsam wurde alles bedeutungslos.
Seine Eltern, der Nebel, das Licht, alles war unwichtig.
Er wusste nicht, was passieren würde und trotzdem hatte Tom keine Angst. Er hatte immer gedacht, dass er sich fürchten würde, wenn er dem Tod ins Auge blickte.
Doch es gab keine Furcht. Nicht mehr.