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Den ersten Streifenwagen der Kollegen machte er schon am Kajetanerplatz aus, direkt vor den Pollern und der Schranke, die die Zufahrt zur Kaigasse absperrten. Er parkte sein Auto daneben. Ein uniformierter Kollege hob grüßend die Hand an die Kappe. »Guten Morgen, Herr Kommissar.«

»Guten Morgen.«

Er kannte den jungen Beamten. Er war österreichischer Nationalmeister im Taekwondo. Das war eine koreanische Kampfsportart, wie Merana bekannt war. Auch seine Kollegin Carola Salman war sehr versiert darin. Auch sie trug den Schwarzen Gürtel, so wie der junge Beamte. Die Stimme des Kollegen hatte einen respektvollen Ton, klang fast ehrfürchtig. Vielleicht ist das so, wenn man seinen Posten in unmittelbarer Nähe einer Kirche zu beziehen hat, dachte er. Und es war zudem ein prachtvolles Gotteshaus, das den Rand des großen Platzes säumte. Der dreigeschossige Flügelbau mit den eindrucksvollen Säulen und Pilastern erinnerte daran, dass die Kirche einst Teil einer Klosteranlange im späten 17. Jahrhundert war.

Die hohe Tambourkuppel über dem Zentralbau schimmerte schon glänzend im Licht der Morgensonne, wie Merana bemerkte. Ja, es versprach ein schöner Tag zu werden. Zumindest, was das Wetter anbelangte. Ansonsten konnte der Kommissar noch nicht abschätzen, ob dieser Tag noch irgendeinen schönen Moment für ihn bereithielt. Immerhin befand er sich auf dem Weg zu einem Ort, an der die Leiche einer jungen Frau lag. Ob Unfallstelle oder Tatort würde sich wohl noch erweisen. Er eilte in die Gasse, sah die Fahrzeuge der Tatortgruppe, dahinter zwei weitere Streifenwägen. Der Aufgang zur Nonnbergstiege war ebenfalls mit gelben Absperrungen versehen. Auch hier waren zwei uniformierte Kollegen postiert. Zwei weitere kümmerten sich um die Passanten, die, aus der Innenstadt kommend, die Gasse entlang wollten. Einige harrten aus, wollten sich nicht weiterschicken lassen. Schaulustige, Neugierdsnasen, Merana kannte das zur Genüge aus vielen ähnlichen Situationen. Er blickte kurz nach oben. Vor einer Stunde hatte er die Festung noch aus der Entfernung gesehen, war in Begleitung eines zutraulichen Hundestrawanzers quer durch die gefällige Landschaft von Aigen getrabt. Er hatte den Anblick der mächtigen Burg genossen, wie immer. Er hätte nicht gedacht, dass er kaum zwei Stunden später sich direkt am Fuß des Festungsberges einfinden würde. Nicht, um den prächtigen Blick auf die Burg aus direkter Nähe auszukosten, sondern um einen mysteriösen Todesfall zu untersuchen. Wann bin ich diese steinernen Stufen eigentlich das letzte Mal nach oben gestiegen? Das muss vor rund einem Monat gewesen sein, überlegte er, als er die Großmutter aus dem Pinzgau bei sich hatte. Die alte Frau, immer noch rüstig, hatte es sich nicht nehmen lassen, den Weg zum Frauenkloster und weiter bis zur Festung über diesen zauberhaften Aufgang zu nehmen.

»Nochmals einen guten Morgen, Martin.«

»Hallo, Otmar.« Der Abteilungsinspektor erwartete ihn auf einer der ersten Stufen. Er reichte ihm die Hand. »Was für ein prächtiger Sommermorgen. Es wäre weitaus angenehmer, an den Wolfgangsee zu fahren. Aber was machen wir? Wir begeben uns zu einem Platz, an dem eine Leiche liegt. Kannst du mir schon mehr über die Tote sagen als vorhin am Telefon?«

»Zumindest haben wir die offizielle Bestätigung. Bei der Toten handelt es tatsächlich um Isolde Laudess.«

Also doch. Laudess. Er hatte schon befürchtet, dass es stimmte. Dabei handelte es sich nicht einfach um irgendeinen Namen. Laudess. Dahinter verbarg sich viel. Der Name kündete von Erfolg und Ruhm. Von großer Publikumsbegeisterung genauso wie von nahezu hymnischem Kritikerzuspruch. Und das nicht nur in Salzburg während der Festspielzeit, sondern das ganze Jahr über im gesamten deutschsprachigen Raum. Allerdings war die geballte Aufmerksamkeit dabei nicht auf den Vornamen Isolde gerichtet. Die frenetische Begeisterung galt Senta Laudess, der derzeitigen Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen. Senta Laudess, gefeierter Star auf den Bühnen bedeutender Theaterhäuser. Dazu kam eine Reihe glänzender Auftritte in Film- und Fernsehproduktionen. Nicht wenige davon mit großen Preisen ausgezeichnet. Genau darauf hatte auch der Chef Bezug genommen. Merana hatte noch während der Herfahrt mit ihm telefoniert.

»Immerhin geht es hier um die Schwester der großen Senta Laudess, der von allen gefeierten Buhlschaft im heurigen Festspiel ›Jedermann‹. Da will ich überhaupt keine Diskussion, Martin. Ich wünsche, dass sich der Chef unserer Kriminalpolizei höchstpersönlich genau dieses Falles annimmt. Um die oberschlauen Kollegen aus dem Innenministerium soll sich gefälligst Carola kümmern. Das schafft sie locker. Wer weiß, ob es tatsächlich neue Verdachtsmomente gibt, wie sie behaupten. Oder ob die Herren Terrorspezialisten wieder einmal das Gras wachsen hören, wo noch nicht einmal die Spitze eines Halms aus dem Boden hervorlugt. Du wirst dich gefälligst um die rasche Auflösung dieses Verbrechens bemühen, Herr Kommissar. Eine junge Frau liegt tot am Aufgang zum Nonnbergkloster. Und dabei handelt es sich nicht um irgendein dahergelaufenes Salzburger Mädel, sondern um die Schwester der Salzburger Buhlschaft. Du bist ja gewissermaßen Stammgast im Festspielbezirk, kennst dich in jedem Winkel des Festspielhauses aus, bist mit allen dort per Du. Genau so einen Mann brauchen wir jetzt, um den Fall im Höchsttempo aufzuklären. Immerhin blickt die halbe Welt nach Salzburg wegen der berühmten Festspiele, in diesem Sommer noch mehr als sonst.«

Wie immer hatte sein Chef maßlos übertrieben. Dass die kulturinteressierte Welt ihre Aufmerksamkeit heuer noch stärker als sonst auf Salzburg richtete, stimmte schon. Immerhin feierten die Festspiele ein großes Jubiläum. Aber dass er, Martin Merana, »gewissermaßen Stammgast« im Festspielbezirk wäre, traf einfach nicht zu. Gut, der Zufall hatte ihn in den letzten Jahren immer wieder mal in diese Szenerie geführt. Er hatte den Mord an einer bedeutenden Sängerin aufgeklärt, an der gefeierten Darstellerin der Königin der Nacht in Mozarts »Zauberflöte«. Und davor war es ausgerechnet das »Jedermann«-Spektakel gewesen, das Merana erstmals in beruflichen Kontakt mit den Salzburger Festspielen brachte. Auf der »Jedermann«-Bühne war der bekannte Schauspieler Hans Dieter Hackner gelegen. Mit einem nachgemachten Renaissancedolch in der Brust. Und Merana musste sich damals die Frage stellen, wer um alles in der Welt ausgerechnet Hackner, dem gefeierten Darsteller des Todes, den Tod geschickt hatte. Er hatte die Frage schließlich beantworten können. Aber das war es schon im Großen und Ganzen gewesen, was ihn bei seiner Ermittlungsarbeit ins Reich der Festspiele geführt hatte. Keine Rede davon, dass er sich »in jedem Winkel« des ohnehin äußerst unübersichtlichen riesigen Festspielhauses auch nur halbwegs auskannte. Und die Anzahl der Menschen, mit denen er im Laufe seiner Arbeit auf das Du-Wort gekommen war, ließ sich locker an den Fingern einer Hand abzählen. Auf keinen Fall zählte da jemand aus dem Kreis der verantwortlichen Persönlichkeiten dazu. Er war mit einem der Beleuchtungsmeister per Du und noch mit ein paar gewiss sehr fachkundigen, aber eher unauffälligen Leuten, die vor allem im Hintergrund agierten.

»Ich gehe voran, Martin«, ließ Otmar Braunberger sich vernehmen und nahm die nächsten Stufen. Merana folgte seinem Abteilungsinspektor. Der Stufenaufgang bildete eine eigene schmale Gasse, flankiert von Fassaden hoher alter Häuser, die links und rechts emporragten. Dem Gemäuer war immer wieder deutlich anzumerken, dass der ansteigende Klosteraufgang schon sehr alt war. Nach etwa 30 Metern rückte ein Teil der zur Kaigasse gelegenen Häuserfront etwas von der immer noch steil ansteigenden Treppe ab. Dadurch ergab sich ein schmaler Freiraum, etwa zwölf Meter lang und an der breitesten Stelle etwa vier Meter tief. Der Untergrund war aus Steinen geformt, teilweise von Moos überwuchert. An der aufragenden Seitenmauer, die zur steil ansteigenden Treppe auf der rechten Seite gehörte, hatte sich allerlei Gesträuch und Blattwerk angesiedelt. Sie wichen zwei Kollegen der Tatortgruppe aus, die damit beschäftigt waren, Teile der Umgebung mittels Kameras festzuhalten. Andere sammelten Proben ein. Am hinteren Teil des Freiraums, knapp bevor die Häuserfront wieder im rechten Winkel zur Treppe stieß, erkannte Merana die Gerichtsmedizinerin. Der Körper der Frau, neben dem sie kniete, war bizarr verrenkt. Das konnte der Kommissar auch aus der Entfernung feststellen. Braunberger hielt inne, ließ dem Kommissar den Vortritt. Auch Merana blieb stehen, als schiene er abzuwarten. Fast zwei Minuten verharrte er in dieser Position. Erst dann macht Merana den nächsten Schritt, blieb wiederum stehen, wartete, ehe er einen weiteren Schritt und dann behutsam den nächsten setzte.

»Guten Morgen, Martin.« Die Gerichtsmedizinerin hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben. Offenbar wusste sie auch so, dass er sich behutsam näherte.

»Hallo, Eleonore.«

Er blieb stehen, ließ sich neben ihr nieder, stützte die Arme auf die Knie. Er vermeinte, zweierlei wahrzunehmen. Die entschlossen anmutende Ausstrahlung der Ärztin, die jeden Handgriff mit professioneller Routine setzte. Und zugleich glaubte er, eine Art Aura zu verspüren, die den Platz umgab, auf dem die Tote lag. Offenbar war die junge Frau mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, stellte er fest. Die dunkle Lache auf dem Untergrund war nicht sehr groß. Das Blut war längst eingetrocknet. Die Augenlider der Leiche waren offen. Die gebrochenen Augen starrten glasig in den Himmel. Er richtete seinen Blick zur Ärztin. »Kannst du mir schon Näheres sagen, Eleonore?«

Die Medizinerin wandte sich ihm zu, dann wies sie mit dem Kopf zur ansteigenden Steintreppe. Die Stützmauer war an dieser Stelle etwa fünf Meter hoch.

»Es steht wohl fest, dass sie von da oben herunterfiel. Das lässt sich einerseits aus den Verletzungen nachvollziehen. Außerdem haben Thomas Brunners Leute entsprechende Spuren am Gesträuch entdeckt, dass am oberen Teil der Mauer wuchert. Wann die bedauernswerte junge Frau hier herunterstürzte, kann ich natürlich nicht exakt sagen. Dazu weiß ich wohl mehr, wenn ich sie auf meinem Untersuchungstisch in der Gerichtsmedizin habe.«

»Ich weiß, Eleonore …«

Sie ließ ihn nicht weiterreden, schnaubte kurz.

»Und ich weiß, geschätzter Herr Ermittlungsleiter, dass du wie immer jetzt schon eine Einschätzung von mir hören willst.« Ihre Stimme hörte sich ein wenig fauchend an.

Dem Kommissar war bewusst, wie sehr er die Medizinerin bisweilen zu dieser Vorgehensweise nahezu drängte. Aber Frau Dr. Eleonore Plankowitz hatte mit den von ihr so bezeichneten Einschätzungen in den meisten Fällen äußerst präzise gelegen, wie die späteren forensischen und labortechnischen Untersuchungen bestätigt hatten.

»Also gut, Martin, dann will ich mich dir zuliebe auch dieses Mal darauf einlassen. Ich schätze, der Tod der jungen Frau ist zwischen 23 Uhr und drei Uhr morgens eingetreten.« Sie wies auf die Tote. »So wie es sich auf den ersten Blick zeigt, hat sie sich beim Aufprall nicht nur einen Teil der hinteren Schädeldecke zertrümmert. Sie hat sich auch das Genick gebrochen. Sie dürfte also sofort tot gewesen sein. Die anderen an der Leiche sichtbaren Verletzungen, vor allem die Abschürfungen, hat sie sich beim Herunterfallen zugezogen. Sie passen auch alle zur äußeren Struktur an dieser Mauer. Bis auf die eine Verletzung, die ist etwas eigenartig.« Eleonore Plankowitz deutete auf die linke Gesichtsseite der Toten. Auf Höhe der Schläfe war eine längliche, etwa drei Zentimeter breite Blessur zu erkennen. Merana beugte sich nach vorn. Er bemühte sich, die Tote nicht zu berühren, auch wenn er Schutzhandschuhe übergestreift hatte. Er betrachtete aufmerksam die Stelle. »Was sind das für eigenartige dunkle Partikel in der Wunde?« Er richtete sich wieder auf.

»Das wüsste ich auch gerne«, antwortete die Medizinerin. »Ich halte das für Splitter. So wie die Wunde aussieht, könnte sie an dieser Stelle von etwas getroffen worden sein.«

»Du meinst Fremdeinwirkung?«

Die Ärztin zuckte mit den Schultern. »Kann sein, kann nicht sein. Ich finde, es reicht für das unprofessionelle Prozedere an Einschätzung an dieser Stelle. Nur noch so viel. Wie mir Thomas vorhin bestätigte …«

»… haben er und seine unermüdlich schuftenden Kollegen bisher nichts gefunden.«

Wie auf Stichwort war der Leiter der Tatortgruppe neben ihnen aufgetaucht und hatte mit einem satten Grinsen den Satz der Gerichtsärztin vollendet. Er reichte Merana die Hand.

»Hallo, Martin.« Er deutete nach oben. »Natürlich haben wir noch nicht jeden Quadratzentimeter des Geländes bis ins Kleinste durchsucht. Wie Eleonore ganz richtig bemerkte, gibt es bisher nichts, was wir als Quelle für diese eigenwillig geformten dunklen Gebilde ausmachen konnten. Aber wir sind auch noch lange nicht fertig. Wir suchen natürlich weiter. Und wenn da oben auch nur ein einziger Splitter existiert, der zu denen in der Kopfwunde passt, dann finden wir ihn!«

Daran hegte der Kommissar auch nicht die Spur eines Zweifels. »Wer hat die Tote entdeckt?«

Die Frage war an den Abteilungsinspektor gerichtet. Der zückte sein Notizbuch, blätterte darin. Der überwiegende Teil der Ermittler hielt mittlerweile längst jegliches Detail kriminalpolizeilicher Untersuchung auf Tablets fest oder auf ähnlichen multifunktionalen Digitalgeräten. Und das weltweit. Aber Abteilungsinspektor Otmar Braunberger benützte nach wie vor lieber Notizblöcke mit geringelter Halterung.

»Gefunden hat die Tote eine Frau Lotte Ramalla, 74 Jahre, pensionierte Kanzleiangestellte. Sie wohnt da drüben.«

Er deutete auf einen der gegenüberliegenden Hauseingänge.

»Sie wollte um halb sechs ihren Hund äußerln führen, so wie jedem Morgen.«

Halb sechs, dachte Merana. Da hatten eben die ersten Strahlen die obersten Felszacken des Untersberges berührt. Er hatte es beim Laufen gemerkt und sich gefreut.

»Die Dame war ein wenig verwirrt, als die alarmierten uniformierten Kollegen hier eintrafen, wie man mir berichtete. Ich werde später versuchen, nochmals in Ruhe mit ihr zu reden.«

»Gibt es sonst Zeugen?«

Der Abteilungsinspektor schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, Martin. Ich habe schon einige Kollegen losgeschickt, um Leute aus der Nachbarschaft zu befragen. Nicht nur hier entlang des Stiegenaufgangs, auch drunten in der Gasse. Aber bisher hat noch keiner etwas gemeldet, das uns bei diesem Fall weiterhelfen könnte.«

Vielleicht traf das Wort »Fall« auch gar nicht zu, ging es Merana durch den Kopf, zumindest nicht aus kriminalpolizeilicher Sicht. Die junge Frau konnte auch aus völlig anderen Gründen über die Geländerbegrenzung des Stiegenaufgangs gestürzt sein. Ohne dass jemand dabei nachgeholfen hatte und somit ein Verbrechen vorlag. Bis jetzt wussten sie noch gar nichts dazu. Ja, ihr allseits geschätzter Chef hatte beim Namen Laudess sofort alle Alarmglocken läuten gehört. Daraufhin hatte er umgehend die stärkste Polizeibesatzung aufmarschieren lassen, wissend, dass sich sofort Medien und Öffentlichkeit auf diesen Vorfall stürzen würden, wenn durchdrang, dass es sich bei der Toten tatsächlich um die Schwester von Senta Laudess handelte.

»Danke, Otmar.« Der Abteilungsinspektor steckte das unförmige, leicht abgegriffene Notizbuch wieder ein. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. »Ich glaube, da bist du gefragt, Martin.« Braunberger wies hinunter zum Anfang des Treppenaufstiegs. Einer der Streifenpolizisten an der Absperrung hielt eine groß gewachsene Frau auf, die an ihm vorbei nach oben wollte. Der Kommissar erkannte sie. Das war Jana Daimond. Sie war die Chefin der Öffentlichkeitsabteilung der Salzburger Festspiele. Jana Daimond war Merana schon im vergangenen Sommer vorgestellt worden. Er verließ den Platz, an dem die Tote lag, trat hinaus auf den steinernen Aufgang und stieg nach unten.

»Danke, Herr Kollege, ich übernehme das.«

Er gab dem uniformierten Kollegen ein Zeichen. Die groß gewachsene Frau im dunkelblauen Hosenanzug drehte sich zu ihm. Die Müdigkeit war ihr deutlich anzusehen. Die ansonsten gestraffte Gesichtshaut wirkte rings um die Augen leicht faltig. Für gediegene Kosmetik war wohl keine Zeit geblieben an diesem unerwartet ereignisreichen Morgen, kam es ihm in den Sinn. »Guten Tag, Herr Kommissar.« Er blieb direkt vor ihr stehen. Sie blickte ihm ins Gesicht, prüfend, als versuche sie darin zu lesen. Sie hatte wohl gefunden, was sie suchte. Ihre Stimme wurde ganz leise. »Es ist also wahr? Isolde Laudess ist etwas Furchtbares zugestoßen?« Er nahm sie am Arm, führte sie ein wenig zur Seite, hinein in die Gasse. Einem Fotografen war es offenbar gelungen, durch die Absperrung zu gelangen. Er stand in der Nähe, zielte mit der Kamera in ihre Richtung. Merana gab einem der Kollegen ein Zeichen, wies mit der Hand auf den Fotografen. Der Uniformierte setzte sich augenblicklich in Bewegung, um den Mann zu verscheuchen.

»Ja, Frau Daimond. Darf ich fragen, wie Sie von dem Vorfall erfahren haben?«

Sie schaute ihn leicht verwirrt an. »Der Herr Polizeipräsident höchstpersönlich hat mich angerufen.«

Natürlich, Merana hätte es sich denken können. Vermutlich hatte der Herr Hofrat inzwischen auch mit allen Chefredakteuren der wichtigsten Medien und wohl auch mit dem Landeshauptmann telefoniert. Mit jedem, der ihm auf seinem unermüdlichen Karriereweg irgendwann einmal vielleicht nützlich sein könnte.

»Können Sie mir erklären, Herr Kommissar, wie es für Isolde zu diesem Unglück kam? Ich vermute, es gibt Anzeichen für ein Verbrechen, wenn so viel Polizei vor Ort ist.«

Er versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu verleihen. »Dazu darf ich Ihnen derzeit leider noch nichts sagen, Frau Daimond.«

Sie nickte. »Die Ärmste. Vermutlich war sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Isolde hatte ja gestern noch bei unserer ›Jedermann‹-Aufführung auf der Bühne gestanden.«

Ja, das hatte Merana schon vermutet. Gestern war Vorstellung, wie ihm bekannt war. Dass die junge Frau zum Ensemble gehörte, das wusste er, seit er vor zwei Wochen eine Fernsehreportage darüber gesehen hatte. Die Gestalter hatten mehrfach darauf hingewiesen, welch wunderbare Fügung es sei, in diesem Jahr beide Schwestern nebeneinander auf der »Jedermann«-Bühne zu erleben. Senta, die allseits berühmte Darstellerin großer Charakterfiguren, als Buhlschaft, und die jüngere Isolde in einer kleinen Rolle als Mitglied der Tischgesellschaft.

»Kann ich sie sehen?«

Merana schüttelte den Kopf. »Ich bedaure sehr, aber das geht leider nicht.«

»Ich verstehe. Sie müssen sich wohl an Ihre Vorschriften halten.« Plötzlich wurde ihr Blick noch leerer. Sie seufzte tief. »Dann mache ich mich wohl besser gleich auf den Weg zu Frau Laudess. Besser, sie erfährt die schreckliche Nachricht von mir als von einem der Medienleute.«

Sie sagte ihm zu, dass er sie in zwei Stunden in ihrem Büro antreffen könnte, falls er sie noch brauchte. »Danke, Frau Daimond. Wie gesagt, ich kann Ihnen noch keine Details zum bedauerlichen Vorfall erörtern. Aber es könnte für meine Mitarbeiter und mich bald sehr wichtig sein, möglichst schnell ein klares Bild über die letzten Stunden von Isolde Laudess zu erstellen. Was passierte, nachdem sie ihren Auftritt bei der gestrigen ›Jedermann‹-Vorstellung beendete. Was hat sie unternommen? Wen hat sie getroffen? Dazu wollen wir möglichst viele Beteiligte an der ›Jedermann‹-Produktion befragen. Danke, wenn Sie uns dabei behilflich sind. Ich persönlich werde mich um ein baldiges Gespräch mit der Schwester bemühen. Auch da wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie das für mich arrangieren.«

Sie versprach es. Dann reichte sie ihm die Hand und ging. Der Polizist an der Absperrung drängte die inzwischen dort versammelten Leute zurück. Merana sah ihr nach, wartete, bis die hoch aufgeschossene Gestalt in der Gasse verschwand.

»War das nicht die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Festspiele?«

Braunberger hatte sich neben ihn gestellt.

»Ja, ich werde Jana Daimond vermutlich bald in ihrem Büro aufsuchen. Sie wird mir alle Daten zu den Ensemble­leuten und den übrigen Beteiligten des gestrigen ›Jedermann‹-Abends aushändigen. Dann hätten wir zumindest schon einmal diese Unterlagen, falls es sich beim Tod der jungen Frau doch um ein Verbrechen handelt.« Der Abteilungsinspektor wies mit der Hand die Treppe hinauf.

»Lass uns miteinander die Stelle anschauen, an der Isolde Laudess aller Wahrscheinlichkeit nach hinunterstürzte. Thomas Brunner ist schon oben, er wartet auf uns.« Sie stiegen hinauf. Während die hoch aufragenden Häuser an der linken Seite zur Kaigasse gehörten, waren die Gebäude rechterhand eng an den felsigen Hintergrund geschmiegt. Es gab mehrere Hauseingänge. »Nonnbergstiege 10c«, las Merana an einer Stelle. Acht Namensschilder waren auszumachen und ebenso viele Klingelknöpfe. Thomas Brunner wartete an jenem Platz des Aufstiegs, an dem die zurückgewichene linke Häuserfront wieder im rechten Winkel an die Treppe stieß. Merana sah sich prüfend um. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein kleiner ansteigender Garten mit einer kurzen, sehr niedrigen Begrenzungsmauer. Obwohl nur wenig Sonnenlicht in die schmale Stiegengasse fiel, gediehen hier offenbar dennoch einige Blumen und niedriges Gewächs. »Na, wer sagt’s denn«, rief der Abteilungsinspektor. »Hier gibt es sogar Gartenzwerge.« Er korrigierte sich im nächsten Moment. »Nein, das sind wohl doch keine Gartenzwerge. Schaut eher aus wie eine Ansammlung von Märchenfiguren.« Hinter dem schmalen, niedrigen Mäuerchen, das den steil ansteigenden Garten zur Stiege hin abgrenzte, waren etliche Figuren auszumachen. Sie dürften wohl rund 40 Zentimeter groß sein, schätzte Merana. Und sahen tatsächlich aus, als kämen sie aus irgendeinem Märchenbuch. Bei der schon leicht ramponierten bläulichen Katzenskulptur dürfte es sich wohl um den Gestiefelten Kater handeln, vermutete er. Weiters sah er zwei dickliche Zwerge, einen Prinz, der sich auf sein Schwert stützte, und einen Esel, dem ein Ohr fehlte. Zwischen beiden war eine Frauenskulptur zu erkennen. Das mochte vielleicht Schneewittchen sein. Rechts neben dem angeknacksten Esel lungerte ein flammenspeiender Lindwurm. Wahrlich ein putziger Anblick, der sich ihnen hier bot. Aber was Merana weit mehr faszinierte, war das Bild, das sich ihm in der Entfernung weit oberhalb des Gartens bot. Ein Stück helle Mauer leuchtete im Sonnenlicht.

Ein Teil der Festung war auszumachen. Er entsann sich. Er hatte auch mit der Großmutter an eben dieser Stelle während ihres Aufstiegs verweilt. Sie hatte ihn auf den bemerkenswerten Ausblick aufmerksam gemacht, auf die Festungsmauer und auf einen der Türme. Das Gärtchen hatte es vermutlich auch vor einem Monat an dieser Stelle schon gegeben. Es war ihm gewiss entfallen. An irgendwelche Märchenskulpturen konnte er sich überhaupt nicht erinnern.

»Also Martin, Eleonore hat es dir ja schon angedeutet. Unsere bisherige Untersuchung des Geländes führt zu dem Schluss, dass die junge Frau an genau dieser Stelle in die Tiefe stürzte.«

Merana wandte sich vom Anblick des Gärtchens und der Festung ab. Thomas Brunner wies auf die entsprechende Stelle an der Treppenabgrenzung. Merana trat an das niedrige Geländer, blickte hinunter.

»Sie war wohl auf dem Heimweg«, fügte der Abteilungsinspektor hinzu. »Sie wohnte nicht weit von hier entfernt in der alten Nonntaler Hauptstraße.«

»Welche Hausnummer?«

Meranas Frage bot dem Abteilungsinspektor wieder Gelegenheit, das legendäre Notizbuch zu zücken. Er blätterte darin.

»13B.«

Merana stutzte. »13B? Wenn ich das recht im Kopf habe, dann muss das am Anfang der Nonntaler Hauptstraße liegen.«

Braunberger nickte. »Du hast recht. Meines Wissens liegt das nicht weit entfernt vom Rösthaus und Café ›220 Grad‹.«

Merana fixierte seinen Kollegen, schüttelte irritiert den Kopf. »Also Otmar, das verblüfft mich jetzt.« Er wies mit der Hand hinab bis zum Anfang der steinernen Stiege.

»Warum ist sie nicht unten geblieben? Da wären es für sie nur noch wenige Meter in der Kaigasse gewesen. Dann hätte sie schnell den Kajetanerplatz überquert, hätte sich nach der Schanzlgasse gleich rechts gehalten und wäre im Handumdrehen zu Hause gewesen. Dieser Weg wäre bedeutend kürzer. Gar kein Vergleich zu der eher mühsamen Strecke über die Nonnbergstiege, immer am Berg entlang, vorbei am Kloster. Es dauert schon ein wenig, bis man weit hinter der Erhardkirche wieder hinunterkommt. Warum hat sie diesen Weg gewählt? War sie vielleicht doch nicht auf dem Weg zu ihrer Wohnung?«

Er schaute auf seine beiden Kollegen.

»Gute Frage, Herr Kommissar«, entgegnete Braunberger und steckte das Notizbuch zurück. »Vielleicht sollten wir den Esel fragen. Aber ich weiß nicht, ob der uns überhaupt versteht. Immerhin hat er nur ein Ohr.« Sein Lachen erinnerte ein wenig an das kehlige Gemecker eines Ziegenbocks, während er der beschädigten Grautierstatue einen Klaps versetzte.

Jedermannfluch

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