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1. Szene, Gegenwart

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Jetzt habet allsamt Achtung, Leut!

Und hört, was wir vorstellen heut!

»Jeeedeermaaaann!«

Der geröchelte Schrei zappelte über die Köpfe der Zuschauer hinweg, schwirrte nach vorn, erreichte den aufgestellten Theaterwagen. Heiterkeit machte sich breit in der dicht gedrängten Besucherschar. Einige wandten sofort den Blick nach hinten. Von wo kam denn dieser wunderlich röchelnde Schrei? Es hörte sich an, als litte der Rufer unter eklatanter Heiserkeit. Köpfe wurden gereckt, Kleinkinder an Schultern gefasst und in die Höhe gestemmt. Da! Einige der hochgelupften Kinder streckten die Arme aus. Sie hatten den schrulligen Rufer entdeckt. Mitten unter den Zuschauern. Er stand neben einem Baum. Der Kerl mit der struppeligen Frisur formte erneut die Hände zu einem Trichter vor dem Mund.

»Jeeedeermaaaaaaaaann!« Jetzt erschallte der Ruf in einer völlig anderen Tonlage. Nicht mehr heiser, sondern ulkig gesäuselt. Die Stimme erinnerte irgendwie an eine jammernde Sirene.

»Was soll das?« Ein zorniger Schrei war zu hören. Er kam von vorne. Alle, die nach hinten äugten, rissen schnell die Köpfe nach vorne, schauten belustigt zum großen Theaterwagen, der vor dem stattlichen Gebäude stand. Mit lautem Knall flog die Kulissentür auf. Heraus stapfte eine Frau. Sie war sichtlich erbost. Offenbar war sie gerade beim Ankleiden gestört worden. Mit der Rechten hielt sie eine elegante Jacke umklammert. Die Linke nestelte an ihrem Bauch. Sie versuchte fieberhaft, den unteren Rand ihrer viel zu weiten silberfarbenen Bluse in die schlecht sitzende Bügelfaltenhose zu stopfen. Gleichzeitig schickten ihre weit aufgerissenen Augen zornige Blicke in Richtung Zuschauer. Unversehens ließ sie das chaotische Blusenstopfen sein. Die frei gewordene Hand fuchtelte wild durch die Luft.

»Habt ihr mich nicht verstanden? Ich fragte, was das soll. Wer schreit hier?«

»Äh … ich.« Aus der jammernden Sirene war ein klägliches Piepsen geworden. Wieder rissen viele der Besucher rasch die Köpfe nach hinten, nahmen den wuschelköpfigen Typen erneut ins Visier. Er stand immer noch neben dem Baum. Er hielt mit gespielter Schüchternheit die Hand in die Höhe.

»Ich war das. Jeeedeermaaann.« Erneut röchelte er. Die Frau auf der Bühne drohte ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger.

»Bist du des Wahnsinns? Falsches Stück, falscher Text! Völlig falsche Stadt!« Sie hielt plötzlich in ihrer fuchtelnden Bewegung inne, schaute nach links, dann nach rechts. Sie musterte übertrieben prüfend die Umgebung.

»Na ja, so ganz völlig falsch wohl auch nicht.« Mit einem Mal war ihr Tonfall gefällig.

Den Zuschauern, die sie eben angeschnauzt hatte, wandte sie sich jetzt mit einem strahlenden Lächeln zu.

»Also die Stadt, finde ich, die passt schon so halbwegs. Was meint ihr?« Zustimmung wurde laut, freudige Ja-Rufe. Einige begannen zu jubeln, andere klatschten.

»Also gut, nehmen wir die Stadt, in der wir sind. Aber …« Schon änderte sich ihre behagliche Miene. Die linke Faust zischte durch die Luft, drohte in Richtung des Mannes.

»Aber dein komplett schwachsinniger Text ist hier völlig fehl am Platz!« Betont langsam hob sie die rechte Hand in die Höhe, präsentierte mit elegantem Schwung ihre modisch stilvolle Jacke. Sie schlüpfte in das Kleidungsstück. Jede Bewegung sollte die Eleganz ihrer Erscheinung unterstreichen.

»Also …« Auffordernd reckte sie das Kinn in Richtung des Mannes. Zugleich wies sie mit der Linken in weit ausladender Bewegung zur Front der Theaterkulisse.

»Mein Haus hat ein gut’ Ansehen.

Alles ist stattlich. Wohin ich auch schau.

Bin vornehm und reich!« Sie breitete die Arme aus, deutete eine Verbeugung an.

»Denn ich bin …«

Ihre Augen schossen auf den Wuschelköpfigen zu. Der zuckte zusammen. Dann legte er betont lässig die Hände an beide Seiten des Mundes. Gleich darauf fegte sein Ruf über den Platz. Nun war es ein deutlich hörbarer Schrei. Laut. Mächtig.

»Jeeedeerfrauuuu!«

Das Lachen der Zuschauer schäumte auf wie eine große Welle. Einige in den ersten Reihen stimmten in das Geschehen mit ein und begannen ebenfalls zu rufen.

»Jederfrau! Jederfrau!«

Die Darstellerin auf der Bühne quittierte das Geschehen mit einer makellos weltgewandten Verbeugung.

»Na also, es geht doch!« Dann wandte sie sich schnell um, denn in der immer noch weit geöffneten Kulissentür war eine weitere Person erschienen. Erneut eine Frau. Sie erwies sich als Leiterin des Sekretariats auf Chefinnenetage und zugleich als Hausmanagerin, wie sich im Dialog bald herausstellte.

Gut 200 Besucher und Besucherinnen hatten sich an diesem sonnigen Spätnachmittag auf dem prächtigen Gelände vor dem schlossartigen stattlichen Gebäude des Gwandhauses in Salzburg-Morzg eingefunden. Sie alle wollten das Spektakel der Theatertruppe erleben. Darunter auch viele Kinder. Im hinteren Drittel des Zuschauer­bereichs war eine junge Frau auszumachen. Sie war erst knapp vor Beginn der Darbietung gekommen. Ihre Präsenz war auf gewisse Weise attraktiv. Einige der Umstehenden warfen immer wieder einen schnellen Blick in ihre Richtung. So als wollten sie abchecken, woher ihnen die reizvolle Erscheinung bekannt sein könnte. Selbstverständlich nahm Isolde Laudess das neugierige Verhalten der Umstehenden wahr. Ab und zu quittierte sie einen der Blicke mit einem Lächeln. Gleichzeitig versuchte sie, sich auf die Theaterszenen zu konzentrieren. Die quirlige Ariana in der Hauptrolle der Jederfrau machte sich gar nicht so schlecht, wie sie immer wieder feststellen musste. Weitaus besser jedenfalls als Isolde Laudess es erwartet hatte. Gut, in manchen Momenten war Arianas Spiel eher wenig überzeugend, kam viel zu übertrieben zur Geltung. Das gekünstelte Lachen erinnerte Isolde bisweilen eher an eine aufgebrachte Ziege als an die Erscheinung einer schwerreichen Powerfrau der besseren Gesellschaft. Aber vor allem die Dialoge mit der arroganten Gestalt der Tödin bekam Ariana hinreichend witzig hin. Das merkte man auch an den Reaktionen der Zuseher. Es wurde viel gelacht, immer wieder auch herzlich applaudiert. Natürlich hätte sie selbst die Szenen weitaus spektakulärer über die Bühne gebracht. Nicht nur in der Begegnung mit der Tödin, sie hätte den gesamten Auftritt von Anfang an eindrucksvoller hinbekommen. Das stand für Isolde unzweifelhaft fest. Aber sie war dennoch immer wieder vom Spiel der etwas pummeligen, aber durchaus erfrischenden Ariana angetan. Zweimal ertappte Isolde sich sogar bei einem zustimmenden Lachen. Ursprünglich hatte sie den Besuch des Straßentheaters schon viel früher ins Auge gefasst. Aber das wäre sich mit ihren eigenen Terminen bisher nicht ausgegangen. Zum Glück hatte das Spektakel rund um den Theaterkarren heute schon um 16 Uhr begonnen. So passte es ideal in Isoldes Zeitplan.

»Ei Jederfrau, ist so fröhlich dein Mut?«

»Spar dir das hochgestochene Gequatsche, Tödin.« Ariana schwenkte auf der Bühne des Theaterkarrens eine Champagnerflasche. »Lass uns darauf saufen, dass der Aufsichtsrat keinen blassen Schimmer davon hat, was wir geschäftlich so treiben.«

Sie gab die übersprudelnde Flasche ihrer Mitspielerin weiter. Die Tödin nahm einen kräftigen Schluck, dann rief sie:

»Aufsichtsrat, winke, winke.

So viel Kohle, pinke, pinke!

Drum ist klar, ich vertrau

jeden Tag auf Jeeeedeeerfrau!«

Wieder grölte ein Teil der Besucher ausgelassen mit.

Die Stimmung war ausgezeichnet, wie Isolde feststellen musste. Und das hielt an.

Der Schlussapplaus gebärdete sich enthusiastisch. Isolde beteiligte sich zwar nicht am ausgelassenen Jubel, aber sie klatschte immerhin mit. Ein wenig zumindest.

»Isolde!« Der Ruf ertönte hinter ihrem Rücken. Sie hatte gewartet, bis etwa ein Drittel der Besucher den Platz geräumt hatte. Nun war sie bereits in Richtung Morzger Straße unterwegs.

»Isolde!«

Langsam wandte sie sich um. Der junge Mann trug noch sein Auftrittskostüm, mit dem er sich zu Beginn des Spektakels den Zuschauern präsentiert hatte.

»Hi, Cyrano.«

Er hatte das Eröffnungslied auf der Laute gar nicht so schlecht hinbekommen, wie Isolde festgestellt hatte. Der Heraneilende pflanzte sich breitbeinig vor ihr auf. Alles an ihm wirkte abweisend. »Wie kannst ausgerechnet du es wagen, hierher zu kommen? Schaust dir unsere Vorstellung an, als sei nichts gewesen.«

Sie musterte ihn mit kaltem Blick. Dann krähte sie kurz auf, drehte sich um und stolzierte davon.

»Eine wie du hat hier nichts verloren.« Auch wenn ihm klar war, dass sie ihn nicht mehr hören konnte, zischte er ihr verächtlich hinterher. »Lass dich ja nie wieder in der Nähe unseres Theaterwagens blicken!«

Die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte 17.22 Uhr. Langsam lenkte Isolde ihre Schritte zurück in Richtung Stadt. Von da an hatte sie noch genau acht Stunden und 19 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht.

Jedermannfluch

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