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Auch drei Stunden später war das meiste noch weitgehend unklar. Nur auf eine der aufgetauchten Fragen sollte der Kommissar eine einigermaßen einleuchtende Antwort erhalten. Warum Isolde Laudess nicht den wesentlich kürzeren Weg über den Kaigassenausgang, sondern die viel weitere Strecke über die Nonnbergstiege gewählt hatte.

Der Kommissar hatte Jana Daimond wie vereinbart in deren Büro aufgesucht. Er hatte ihr mehrmals bestätigt, die sensiblen Angaben vor allem zu den großen Stars der Festspielproduktion absolut vertraulich zu behandeln. Er würde nur Auszüge davon an seine vertrautesten Mitarbeiter weiterreichen, damit sie mit den Befragungen beginnen könnten. Die Öffentlichkeitschefin hatte auch arrangiert, dass er mit Senta Laudess reden könnte. Sie würde ihn um zwölf Uhr in ihrem Appartement erwarten.

»Frau Laudess wohnt nicht im Hotel?«

»Nein, einigen unserer Künstler ist es angenehmer, während ihres Salzburg-Aufenthaltes eine für sie bereitgestellte Wohnung zu beziehen als im Hotel zu bleiben. Wir versuchen natürlich, diesen Wünschen entgegenzukommen, so gut es geht.«

Bevor er erneut ins Kaiviertel aufbrach, wo die angegebene Wohnung lag, wollte er noch schnell Halt am Alten Markt machen. Er hatte es nicht anders erwartet. Das prächtige Wetter war zu verlockend. Das Café Tomaselli samt Terrasse und gegenüberliegendem Garten war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nicht besser sah es beim Café Fürst aus. Auch hier waren alle Tische auf dem Platz vor dem Lokal belegt. Doch dann bemerkte er, dass eine Gruppe von drei Leuten eben die Rechnung bezahlte und sich erhob. Er trat schnell heran und ergatterte den Platz. Er bestellte sich einen großen Schwarzen und einen Apfelstrudel. Er war seit fünf Uhr auf und hatte bis jetzt nur einen Haferflockenriegel zu sich genommen. Die Kellnerin war rasch zurück, stellte ihm das Gewünschte hin. Er nahm die Gabel, kostete ein Stück von der Mehlspeise. Köstlich. Er hatte es nicht anders erwartet. Er nahm das nächste Stück, schloss kurz die Augen, um jeden Bissen noch intensiver zu genießen. So viel Zeit musste sein, beschloss er. Erst sich den verdienten Genuss gönnen, dann weiter mit der Arbeit. Nichtsdestotrotz blieb doch noch ein Stück des Strudels auf dem Teller, als er bereits nach dem Handy griff. Er wollte die kurze Zeitspanne nützen, um sich ein wenigstens gerafftes Bild über die beiden Schwestern Laudess zu verschaffen. Er aktivierte sein Handy. Über Senta, den großen Bühnenstar, gab es wie erwartet eine Fülle an Eintragungen im Internet. Über Isolde war wenig zu finden, zumindest nichts Aufschlussreiches. Beide waren in Salzburg geboren, aber das hatte er schon gewusst. Senta hatte im Alter von 17 Jahren ihre Heimatstadt verlassen. Sie war nach Berlin gezogen, hatte eine Ausbildung an der berühmten Schauspielschule »Der Kreis« absolviert. Schon im zweiten Studienjahr bekam sie eine Gastrolle am Deutschen Theater. Das war der Start für eine auch international beachtliche Karriere. Welchen Weg die um sechs Jahre jüngere Isolde gegangen war, ließ sich für Merana in der Kürze mittels Internetrecherche am Handy nicht ermitteln. Doch er hoffte, von Senta Laudess bald mehr darüber zu erfahren. Er verspeiste das letzte Stück Strudel, trank den Kaffee aus, legte einen Geldschein auf den Tisch und erhob sich. Wie er von Jana Daimond erfahren hatte, lag die Wohnung in der Krottachgasse, einer Seitengasse zur Kaigasse, aus der man gleich nach dem Mozartkino abbog. Er machte sich rasch auf den Weg, erreichte das ihm von Daimond genannte Haus. Merana kannte sich in der Gegend ganz gut aus. Schräg gegenüber gab es ein italienisches Café. Gelegentlich trank er dort einen Cappuccino oder genehmigte sich einen Teller mit Antipasti und dazu ein Glas Wein. Er betrat das große Gebäude, das dem Lokal gegenüber lag. Er hatte im Laufe der letzten Jahre schon hin und wieder bei seinen Ermittlungen mit dem einen oder anderen großen Star aus der Welt der Künste zu tun gehabt. Dennoch spürte er einen Anflug von leichter Nervosität, als er die Marmorstiege langsam nach oben nahm. Im fünften Geschoss machte er Halt und läutete. Und obwohl er wusste, was ihn erwartet, konnte er sich eines gewissen Staunens nicht erwehren. Es war tatsächlich die gefeierte Buhlschaft aus dem »Jedermann« der Salzburger Festspiele, die ihm die Tür öffnete.

»Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Kommissar Merana. Bitte kommen Sie herein.«

Er überlegte, ob er ihr zur Bestätigung seinen Dienstausweis zeigen sollte, ließ ihn dann aber stecken. Das »Appartement«, wie Jana Daimond es in beiläufigem Tonfall bezeichnet hatte, erwies sich als große, luxuriös ausgestattete Wohnung. Beeindruckend war auch der Blick aus dem Salon auf die gegenüberliegende Seite der Stadt. Am anderen Salzachufer war ein Großteil des Kapuzinerbergs mit der lang gezogenen Befestigungsmauer und dem alten Franziskanerkloster am linken Ende auszumachen.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Sehr freundlich, ein Glas Wasser bitte.«

Sie deutete zum auffällig gestylten Glastisch, der in der Nähe des großen Fensters stand. Dann brachte sie eine vollgefüllte hellblaue Karaffe und zwei edel aussehende Kristallgläser. Er setzte sich auf einen der mit hellem Leder überzogenen Sessel. Sie nahm ebenfalls Platz, füllte die Gläser. Sie wirkt älter als auf der Bühne, fand er. In jedem Fall älter als auf den Bildern, die er von ihr kannte. Aber vielleicht täuschte sein Eindruck. Immerhin hatte sie eben erst vom tragischen Tod ihrer Schwester erfahren. Auch das rötlich gefärbte Haar erschien ihm kürzer, als er es von den Fotos in Erinnerung hatte. Nur die erkennbare Kupfertönung war ihm vertraut, so wie er sie von Abbildungen kannte. Er bemerkte den matten Glanz, der in ihren dunklen Augen lag. Auch der sanfte Schwung der Augenbrauen erschien ihm makellos. Sie lächelte. »Soll ich an meinem Gesicht etwas ändern, Herr Kommissar?«

Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss. »Nein, absolut nicht. Falls ich Sie angestarrt habe und Sie das aufdringlich empfunden haben, möchte ich mich entschuldigen. Das lag keineswegs in meiner Absicht.«

Erneut lächelte sie. Aber sie sagte nichts, nahm nur einen Schluck Wasser. Der Glanz in ihren Augen verschwand. Ihre Gesichtszüge nahmen jenen Ausdruck an, den er auch von vielen Bildern, auch aus bestimmten Film- und Theaterszenen kannte. Ihr Mienenspiel spiegelte jene Vitalität und Überzeugungskraft wider, mit der sie auf jeder Bühne brillierte. Er räusperte sich. Dann begann er das Gespräch, indem er ihr zuerst sein Beileid für den erlittenen Verlust aussprach. Sie bedankte sich. Sie wollte wissen, ob man Isolde tatsächlich auf der Nonnbergstiege gefunden hatte, wie ihr Jana Daimond mitgeteilt hatte.

»Ja.«

»Mein Gott.«

Er wollte nicht näher darauf eingehen, dass es nicht direkt auf den Stufen der Treppe war, wo man den Leichnam fand, sondern in einem der Freiräume zwischen Stiege und Hausmauer.

Sie verschränkte die Finger, stützte ihr Kinn darauf. Der Ausdruck der Vitalität war wieder längst verschwunden. Das Schimmern in den Augen zeugte von Trauer. »Ich hätte sie doch begleiten sollen«, flüsterte sie. »Ich hätte mich besser nicht schon vorher von ihr verabschiedet, um in meine Gasse abzubiegen. Vielleicht würde Isolde dann noch leben.« Sie senkte das Gesicht. Ihr Körper fing leicht zu beben an.

»Sie waren mit Ihrer Schwester gestern nach der Aufführung noch beisammen?«, fragte er und hoffte, dass sein Tonfall neutral klang und nicht überrascht.

»Wie spät war es, als Sie sich in der Kaigasse von Ihrer Schwester verabschiedeten?«

»Das muss so gegen halb zwei gewesen sein. Wir wollten beide heim.«

Er dachte nach, stellte sich die Szene vor. »Sind Ihnen zu dieser Zeit andere Passanten untergekommen?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, soviel ich mich erinnern kann, waren wir ganz allein. Nur anfangs auf Höhe der Chiemseegasse begegneten uns zwei Leute, aber die waren stadteinwärts unterwegs. Es war gestern ohnehin so gut wie nichts los. Die nächtliche Stadt wirkte nahezu ausgestorben. Manchmal ist das offenbar so in Salzburg, sogar mitten im Sommer. Das habe ich auch Isolde gegenüber erwähnt, als wir das ›K+K‹ verließen und über den Waagplatz schlenderten.«

»Sie waren gemeinsam im ›K+K‹?«

»Ja.« Es habe gestern eine kleine, eher improvisierte Feier gegeben, erklärte sie. Sie waren wie immer nach Ende ihres Auftrittes in die Garderoben im Großen Festspielhaus gebracht worden. Die anderen waren dann schon vorausgegangen. Sie hatte noch etwas zu erledigen und war etwa eine halbe Stunde später nachgekommen. Einer der jungen Kollegen aus der Darstellergruppe der Tischgesellschaft hatte gestern Geburtstag und deshalb zu einem Umtrunk mit kleiner Jause geladen. Außer dem Geburtstagskind, ihr und Isolde seien zwei weitere Personen dabei gewesen. Die beiden männlichen Kollegen seien nur kurz geblieben, bald aufgebrochen, nachdem sie selbst im Restaurant erschienen war. Sie nannte ihm die Namen der Beteiligten.

»Nur Bianca und Folker sind etwas länger geblieben. Sie saßen noch am Tisch, als Isolde und ich aufbrachen.«

Merana hatte sich die Namen notiert. Gleich nach der Unterredung würde er eine Nachricht an seinen Abteilungsinspektor schicken. Otmar möge sich der Teilnehmer der improvisierten Geburtstagsfeier annehmen, sie zum Verlauf des gestrigen Abends befragen.

»Sie haben sich an der Abzweigung zur Krottachgasse getrennt, sagten Sie. Die Wohnung Ihrer Schwester liegt in der alten Nonntaler Hauptstraße, wie ich erfahren habe.«

»Ja, das stimmt, Herr Kommissar. Es ist die Wohnung, die unserer Mutter gehörte. Auch ich bin dort aufgewachsen. Wir zogen ein, als ich acht Jahre alt war.«

»Die Wohnung liegt, der Hausnummer zufolge, gleich am Beginn der Straße. Wenn Ihre Schwester heimwollte, wie auch Sie vorhin erwähnten, warum wählte sie dafür einen viel weiteren Weg. Über die Route Kaigasse, Kajetanerplatz, Schanzlgasse wäre sie doch viel schneller zu Hause gewesen.«

Ihr Mienenspiel änderte sich. Das traurige Schimmern ihrer Augen wurde überdeckt von einem mädchenhaften Lächeln.

»Das ist ganz einfach zu erklären, Herr Kommissar. Kennen Sie den Weg über die Nonnbergstiege?«

»Ja.«

»Mögen Sie ihn?«

»Ja, sogar sehr. Ich liebe die Nähe zum alten Kloster, auch die zur alten Festung. Und die Ausblicke auf die Stadt, die man dort bekommt, sind einfach überwältigend.«

Ihr Lächeln wurde stärker.

»Isolde hätte es nicht besser beschreiben können. Sie liebte es, den Heimweg aus der Stadt über die alte Nonnbergstiege zu nehmen. Das war schon immer so.

Selbst, als sie noch ein Kind war. Ihnen ist sicher die markante Stelle direkt gegenüber der Klosterkirche bekannt.«

»Selbstverständlich. Dort bin ich gewiss schon sehr oft gestanden und habe den Blick Richtung Süden genossen.«

»Isolde auch, wahrscheinlich Hunderte Mal. Ich kann mich noch erinnern, als sie, da war sie vielleicht sieben, die alte Platane erklimmen wollte, um noch eine bessere Aussicht zu erhalten.«

Sie schloss die Augen. Vielleicht ließ sie im Inneren die eben geschilderte Begebenheit nochmals ablaufen, zur Erinnerung an ihre Schwester, die damals wohl ein glückliches Kind mit sieben Jahren war und die jetzt als lebloser Körper in einer der Kühlboxen der Salzburger Gerichtsmedizin lag.

Er wartete. Er ließ ihr Zeit, behutsam aus ihren von glücklichen Momenten überstrahlten Erinnerungen wieder in die harte Realität zurückzukommen.

Immerhin hatte sich nunmehr eine der Fragen geklärt, die ihm und gewiss wohl auch seinem Kollegen Otmar durch den Kopf schwirrten. Isolde Laudess hatte den Weg über die Nonnbergstiege gewählt, weil sie das immer so machte. Egal, zu welcher Tageszeit. Er nahm wahr, dass sie langsam wieder ihre Augen öffnete.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, jetzt kann ich mich wieder ganz Ihren Fragen widmen.«

Er wollte ihr trotzdem noch etwas Zeit geben. Er deutete mit der Hand zum Fenster, durch das man den traumhaften Ausblick auf den Kapuzinerberg hatte.

»Die Salzburger Festspiele haben Ihnen wirklich eine wunderbare Wohnung zur Verfügung gestellt, Frau Laudess. Dass Sie heuer in Salzburg zugegen sind, freut nicht nur die Festspiele, sondern auch viele Salzburger und Salzburgerinnen, wie ich weiß. Immerhin waren Sie schon sehr lange nicht mehr in Ihrer Geburtsstadt, wenn ich richtig informiert bin. War es für Sie von Anfang an klar, dass Sie ein Appartement beziehen würden? Hätten Sie auch bei Ihrer Schwester wohnen können? Oder wäre das nicht möglich gewesen?«

Es kam ihm vor, als würden plötzlich ihre Augen überschattet. Nur ganz kurz.

Dann war ihr Antlitz schon wieder in jene freundliche Miene gekleidet, mit der sie ihn auch begrüßt hatte. Sie löste die verschränkten Finger, griff nach ihrem Glas.

Sie trank es zur Hälfte aus. Dann blickte sie ihn direkt an.

»Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden, Herr Kommissar. Außerdem werden Sie im Zuge Ihrer Recherchen gewiss auf den einen oder anderen Hinweis stoßen. Eine abfällige Bemerkung im Internet ist gewiss leicht zu finden, eine Andeutung von irgendjemandem aus der Kollegenschaft schnell geliefert. Und es ist ja nicht so, dass Ähnliches nicht auch in anderen Familien vorkommt. Ich spreche es also lieber selber ganz klar aus. Isolde und ich verstehen uns …« Sie zuckte kurz zusammen. Er wartete, ob der Hauch des Schattens sich wieder zeigen würde. Doch sie sprach schon weiter, im gleichen Tonfall. Nur in den Augen vermeinte er wieder die Trauer zu erkennen. »Entschuldigen Sie, bitte, es muss wohl heißen, ›verstanden uns‹. Aber es fällt mir schwer, die unvorstellbar brutal hereingebrochene Wahrheit zu akzeptieren, dass Isolde nicht mehr am Leben ist. Und dass wir genau genommen nur Halbschwestern waren, macht es um keinen Deut leichter.« Wieder griff sie nach dem Glas, nahm einen tiefen Schluck.

»Also dann. Isolde und ich, wir verstanden uns nicht allzu gut. Das war schon in unserer Kindheit so. Mein Vater starb, als ich drei war. Als ich fünf war, heiratete meine Mutter wieder. Etwa ein Jahr später kam Isolde zur Welt. Mein Stiefvater war gewiss ein netter Mann. Endlich hatte meine Mutter sich einen Traum erfüllt und einen begeisterten Wagnerfan geheiratet. Er stammte noch dazu aus Bayreuth. Meine Mutter hatte oft davon geschwärmt, Salzburg zu verlassen und ins Wagner-Mekka Bayreuth zu übersiedeln. Doch daraus wurde nichts. Mein Stiefvater verließ uns bald, ließ sich scheiden und nahm ein lukratives Jobangebot in Australien an. Dass bei dieser Entscheidung auch eine attraktive Frau eine Rolle spielte, hat meine Mutter im Grunde nie überwunden. So blieb der glühende Wagnerfan wieder alleine, mit Isolde und mir. Kein Bayreuth. Dafür weiterhin Salzburg, die Pilgerstätte der Mozartfangemeinde.«

Merana horchte auf. Er dachte an die Namen der beiden Schwestern. Eine Ahnung beschlich ihn. »Wagnerfan? Hat Ihre Mutter Sie beide deswegen so benannt?« Nun kehrte das Lächeln zurück in ihre dunklen Augen. Sie nickte. »Ja, das ist der einzige Grund dafür. Aber es hätte weit schlimmer kommen können. Brünnhilde oder Wellgunde hat sie uns immerhin erspart.« Das Lächeln erlosch. Merana war kein ausgesprochener Wagnerkenner, bei Weitem nicht. Aber ein wenig kannte er sich schon in dessen Opernwelt aus. Der Name Senta stammte aus der romantischen Geschichte rings um den »Fliegenden Holländer«. Senta verliebt sich in den geisterhaften Seefahrer und erlöst ihn von dessen Fluch durch ihren eigenen Tod, wie er wusste. Und Isolde ist die irische Königstochter aus einer anderen Wagneroper, die sich unsterblich in den Helden Tristan verliebt.

»Lebt Ihre Mutter noch?«

Ihr Kopfschütteln war deutlich zu bemerken. Die rötlich schimmernden Locken zuckten.

»Leider nein, sie ist vor vier Jahren gestorben. Auch mein Stiefvater lebt nicht mehr. Er starb vor zwei Jahren in Melbourne, wie ich von Isolde erfahren habe.«

»Die Gründe, warum Sie und Ihre Schwester sich schon seit Ihrer Kindheit nicht sehr nahe standen, tun im Augenblick nichts zur Sache. Aber wie war es in der Gegenwart? Tauchten irgendwelche Probleme auf, wenn Sie miteinander auf der Bühne standen? Gab es Spannungen?«

Die freundliche Miene im Augenspiel kehrte zurück. Sie beugte sich leicht nach vorn.

»Aber nein, Herr Merana, so schlimm dürfen Sie sich das auch nicht vorstellen. Wir hatten immer wieder Kontakt in den letzten Jahren. Wir gingen einander ja auch nicht aus dem Weg. Sonst wäre ich wohl gestern auch nicht zur Feier ins ›K+K‹ mitgekommen. Unser Umgang war vielleicht etwas reservierter als unter Verwandten üblich. Da zeigten sich halt zwei Halbschwestern, die einander zwar nicht viel zu sagen hatten, aber die schon wussten, wie man sich professionell und zivilisiert verhält.« Plötzlich richtete sie sich auf, ihr Oberkörper straffte sich.

»Halbschwester!« Sie klopfte sich gegen die Stirn. »Mein Gott, unsere Mutter ist gestorben, somit bin ich ja die einzig lebende Verwandte. Ich muss mich augenblicklich um die Bestattung und all den Kram kümmern, der damit verbunden ist.« Sie sah ihn direkt an. »Wann geben Sie den Leichnam meiner Schwester frei?«

Er zuckte leicht mit den Schultern.

»Das wird die Staatsanwaltschaft in Absprache mit der Gerichtsmedizin entscheiden.«

Die freundliche Miene erlosch. Ein rätselhafter Ausdruck schlich sich in ihre Augen. Ihr lauernder Blick erinnerte ihn an das Porträt einer ihrer Bühnenfiguren, das er vor Kurzem gesehen hatte. Da war sie in die Rolle der antiken Medea geschlüpft.

»Ich weiß zwar immer noch nicht, was meiner Schwester genau zugestoßen ist. Aber es dürfte sich nicht bloß um einen bedauerlichen Unfall handeln. Sonst würde nicht die Kriminalpolizei involviert sein. Können Sie mir wenigstens dazu mehr sagen, Herr Kommissar?« Die letzten Worte hatte sie lauter gesprochen, dabei jede Silbe extra betont. Als stünde sie immer noch als Medea auf der Bühne. Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hoffe, dass ich Ihnen bald mehr Einblick verschaffen kann, Frau Laudess. Im Augenblick geht das leider noch nicht. Werden Sie Salzburg verlassen? Wenn ja, bitte ich Sie, mir bekannt zu geben, wo ich Sie erreichen kann.«

Nun warf ihm Medea einen nahezu verächtlichen Blick zu. »Ich bleibe natürlich hier. Erstens habe ich mich um das Begräbnis zu kümmern. Und zweitens habe ich morgen zwei Termine. Vormittags mit den Festspielfreunden und abends die nächste ›Jedermann‹-Vorstellung.«

»Sie wollen sich tatsächlich morgen zum Domplatz begeben und auftreten?« Ihre Ankündigung verblüffte ihn. »Werden Sie das schaffen, Frau Laudess? Vielleicht sollten Sie besser überlegen …«

»Hier gibt es nichts zu überlegen, Herr Kommissar.« Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich bin Schauspielerin. Das ist mein Beruf. Meine Gefühlslage, welcher Art auch immer, hat weit hinten anzustehen. Das Publikum interessiert nicht, welchen Launen oder sonstigen Schwankungen ich gerade ausgesetzt bin. Es will mich auf der Bühne sehen. Und zwar in meiner Rolle! Deshalb spiele ich!« Sie griff nach der Karaffe und schenkte sich erneut das Glas voll. Im Trinken beruhigte sie sich langsam. Das war ihr deutlich anzusehen. Medea zog sich zurück. Die Augen blickten wieder freundlicher. Jetzt noch ein ebenso verschmitztes wie gewinnendes Lächeln, und schon hätte er wieder die Buhlschaft mit all ihren Reizen vor sich, dachte Merana. Sie will also tatsächlich morgen auftreten? Er lehnte sich zurück. Ein tragisches Ereignis fiel ihm ein, über das er viel gelesen und noch mehr nachgedacht hatte. Der österreichische Schauspieler und Publikumsliebling Maxi Böhm war ihm schon in seiner Kindheit vertraut gewesen. Er hatte oft zusammen mit Großmutter Radiosendungen des begnadeten Komödianten erlebt, später auch eine ganze Reihe von Fernsehsendungen. Maxi Böhm hatte Tragisches erlebt. Innerhalb eines einzigen Jahres hatte er zwei seiner erwachsenen Kinder verloren. Die Tochter stürzte in der Schweiz bei einer Bergwanderung ab. Im Jahr darauf musste die Familie auch noch Sohn Max begraben. Er hatte sich das Leben genommen. Für Maxi Böhm war es eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit gewesen, trotz der schlimmen Trauerfälle weiterhin aufzutreten. Auch wenn er wegen der furchtbaren Verluste unter schweren Depressionen litt. Er hatte ständig Angst davor, dass sein Publikum aufgrund seiner Schicksalsschläge nicht mehr über ihn lachen könnte.

Deshalb spiele ich! Denn das ist mein Beruf. Das bin ich!

Er hatte es eben gehört aus dem Mund einer begnadeten, großen Charakterdarstellerin. Mein Publikum will mich auf der Bühne sehen!

Bestand so viel Unterschied zwischen dem längst verstorbenen Maxi Böhm, der großen Schauspielerin, mit der er am Tisch saß, und ihm selbst? Auch er hatte einst, als man die Geliebte an seiner Seite tötete, ihm das Liebste genommen hatte, zu dem er sich hingezogen fühlte, sich nicht einfach in Trauer und Selbstmitleid verkrochen. Er hatte das getan, wozu es ihn tief in seinem Innersten trieb. Unwiderstehlich trieb! Er hatte genau das unternommen, bei dem er sich absolut sicher fühlte, wo er den Boden unter seinen Füßen spürte, das Einzige, das ihn tief in seinem Innersten ausmachte. Er hatte sich in das gestürzt, was er am besten konnte. Seine Polizeiarbeit. Er hatte angefangen zu ermitteln. Rastlos. Verzweifelt, aber unbeugsam. Und er hatte Erfolg gehabt.

Das bin ich!

Er spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf kroch. Er griff nach dem Wasserglas, nahm einen tiefen Schluck. Es wurde allmählich Zeit zu gehen, das spürte er. Er erhob sich. Sie blickte ihn an. Dann stellte sie die Frage, die er schon bei seiner Ankunft erwartet hatte.

»Wann kann ich den Leichnam … Ich meine, wann kann ich meine Schwester sehen, Herr Kommissar?«

»Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen, Frau Laudess.« Er erklärte ihr behutsam, dass man sie ohnehin bald in die Gerichtsmedizin bringen würde. Es galt noch einen offiziellen Akt zu erledigen. Man würde sie als nächste Verwandte bitten, offiziell zu bestätigen, dass es sich bei der Toten tatsächlich um ihre Schwester handelte. »Und wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt, das uns vielleicht weiterhilft, oder wenn eine Frage auftaucht, über die wir noch nicht gesprochen haben, dann können Sie mich gerne jederzeit anrufen.« Sie versprach ihm, das zu tun. Er verabschiedete sich und ging.

Jedermannfluch

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