Читать книгу Mohn und Schatten - Manfred Braasch - Страница 3
Kinobesuch mit Folgen
ОглавлениеLars Meyer verließ das Verlagshaus von Gruner und Jahr am Baumwall gegen 18.30 Uhr. Ein arbeitsreicher Sonntag lag hinter ihm und er war gut vorangekommen. Er liebte diesen siebten Tag der Woche, eine produktive Konzentration diffundierte durch die hellen Redaktionsräume, die nur zur Hälfte besetzt waren. Überhaupt, das ganze Wochenendgehabe vieler Kollegen, Ausflug mit der Familie hier, Grillen mit Freunden da – das war nichts für Lars Meyer.
Er hatte sich nach dem erfolgreichen Germanistikstudium in Heidelberg für die Journalistenlaufbahn entschieden und seit dem war die Arbeit sein Leben. Die Ochsentour, Volontariat, ein paar kleinere Provinzblätter, dann zwei Jahre Häppchenjournalismus beim Focus und schließlich zum Stern.
Neun Jahre lebte er jetzt schon in Hamburg. Die Stadt und der Hafen hatten es ihm angetan und er genoss den Blick aus dem Verlagsgebäude auf das quirlige Treiben an und auf der Elbe. Direkt gegenüber lagen die legendären Docks 10 und 11 von Blohm und Voss, in denen mächtige Schiffe repariert werden konnten. Auch wenn das Dock Elbe 17 gleich nebenan deutlich größer war, diese beiden monumentalen schwarzen Kästen prägten die Aussicht auf den Hafen und waren neben den Containerbrücken Sinnbild für Deutschlands wichtigsten Hafen.
Lars Meyer stammte aus Hessen, kam aber mit den Fischköppen gut zurecht. Er wohnte in einer Drei-Zimmer-Wohnung am Rande von Ottensen. Kurz bevor der Stadtteil so richtig hipp und damit unerschwinglich geworden war, konnte er in einem frisch sanierten Mehrfamilienhaus eine Eigentumswohnung kaufen. Er würde noch 10 Jahre daran abzahlen, aber er war froh, diesen Schritt gemacht zu haben. Er genoss das Treiben in der Ottenser Hauptstraße, besonders am Samstag pulsierte hier das öffentliche Leben. Der kleine Wochenmarkt auf dem Friedensplatz war von freudigem Stimmengewirr erfüllt, Nachbarn verweilten zu einem kleinen Plausch und das kulinarische Angebot war gut. Lars Meyer kaufte aber am liebsten bei Paola ein, einem kleinem italienischen Geschäft fast am Ende der Ottenser Hauptstraße. Hier gab es exzellenten Wein, guten Käse aus Umbrien und stets eine erlesene Auswahl bester Antipasti. Insgesamt, stellte Lars Meyer immer wieder fest, passte dieser Stadtteil zu ihm, da nahm er die gegelten Latte-Macchiato-Machos und die berüchtigten Ottenser Kampfmütter mit ihren stylischen Kinderwagen gern in Kauf.
Anfangs hatte er sich in den knapp 100 nunmehr eigenen Quadratmetern einsam gefühlt. Während seines beruflichen Vagabundenlebens, hier zwei Jahre, dort 13 Monate, war er häufig in einer WG untergekommen. Immer war jemand für ein kurzes Hallo oder auch ein gemeinsames Glas Wein zu finden gewesen. Dies war jetzt seine erste eigene Wohnung, nur für ihn. Aber emotionale Anflüge einer verklärten Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, ein bettelnder, gleichwohl schüchterner Blickwechsel mit einer Frau oder die Frage was wäre wenn? gehörten mittlerweile der Vergangenheit an. Zumindest die meiste Zeit. Jetzt war er erklärter Single und damit zufrieden. Glück, sagte er sich hin und wieder bei einem abendlichen Glas Bardolino, wurde ohnehin überbewertet. Glück, allenfalls ein kurzzeitiger Rauschzustand, aus dem man dann umso tiefer stürzte. Er hatte doch alles, brauchte sich nicht ständig abstimmen oder gar Rücksicht auf Frau oder Kind nehmen. Er verdiente gutes Geld bei Gruner und Jahr, hatte Erfolg mit seinen Artikeln. Er arbeitete gern im Reporter-Team, genoss Freiheit und Produktionsstress gleichermaßen. Und so richtig einsam war er gar nicht, es gab ein paar Kumpels, die er gelegentlich traf. Meist, um in einem der Hafenrestaurants Essen zu gehen oder für einen Kinotrip. Was will man mehr - Lars Meyer jedenfalls nichts.
Meyer war durch und durch Cineast, schaute viel und gern alles was die Traumstudios in Hollywood an Thriller und Sciencefiction auf den Markt schmissen. Jetzt freute er sich auf eine schnelle Pizza und ein Bier mit Nikolaus Brahms. Nikolaus, den alle nur Nik nannten, war Fotograf beim Hamburger Abendblatt. Ein netter Typ von der unkomplizierten Sorte. Die beiden hatten sich beim Jahresempfang der Hamburger Landespressekonferenz im Grand Elysee vor ein paar Jahren kennengelernt und sich gegenseitig nach dem vierten oder fünften Bier ihre Leidenschaft für Sciencefiction-Filme und alle Arten von Comicadaptionen gestanden. Als die Katze aus dem Sack war, grinsten Meyer und Brahms sich kurz an und schauten verschmitzt in die Runde, ob jemand ihre Unterhaltung verfolgt hatte. Erleichtert verabredeten sie sich für den neuen Spiderman, der in der nächsten Woche in die Kinos kam.
Aus diesem ersten Treffen war eine Konstante geworden, die beiden trafen sich in lockeren Abständen und amüsierten sich bei Thor-, X-Men- oder Avengers-Filmen prächtig. Wie ein kleines intimes Geheimnis, hatte Lars Meyer einmal am Ende eines solchen Kinoabends gedacht. Nie erwähnte er die Kinobesuche gegenüber seinen Arbeitskollegen. Von den meisten wäre er wohl nur müde belächelt worden. Amerikanische Blockbuster und dann noch Comicverfilmungen standen nicht hoch im Kurs der meisten Mitarbeiter des journalistischen Flaggschiffs aus dem Hause Gruner und Jahr.
Meyer schaute kurz auf die Hafen-Skyline. Nie ruhten die unzähligen Containerbrücken, 365 Tage im Jahr wurden die bunten Kisten verschoben. Sinnbild einer globalisierten Welt, Handel rund um die Uhr. Auch an diesem Sonntagabend.
Er war gut in der Zeit und ging zu seinem Auto. Wenig später traf er Nik vor dem Cinemaxx am Dammtor. Nik hatte wie üblich die Karten besorgt, Meyer war für Bier und Pizza zuständig. Nach einer kurzen Umarmung schlenderten die beiden Richtung Colonaden, dort gab es einen Italiener mit einer ehrlichen Pizza und rot-weiß karierten Tischdecken ohne viel Schnickschnack.
»Und, warst Du heute noch in der Redaktion?«
Nik schaute seinen Kumpel etwas besorgt von der Seite an. Er war der Ansicht, dass Lars deutlich zu viel arbeitete und zu leben vergaß. Aber das hätte er ihm nie so direkt ins Gesicht gesagt. Dazu war ihre Freundschaft bislang zu tönern, zu eindimensional. Wirklich Persönliches grenzten sie in ihren Gesprächen meist aus. Nik baute gegenüber den meisten Menschen nicht so schnell Vertrauen auf - vielleicht war er deshalb Fotograf geworden. Die Kamera hielt ihn wohltuend auf Abstand, Beobachter war seine selbst gewählte Überlebensnische.
»Klar, bin nach dem Frühstück gleich hin. Auch wenn Du es nicht glaubst, es war ein guter Tag, man kann am Sonntag fast ungestört arbeiten. Viele der Dummschwätzer sind nicht da, wirklich ein Segen. Und die Geschichte, an der ich schreibe, wird ein ziemlicher Knaller, wenn alles steht – aber mehr verrate ich nicht.«
Meyer grinste seinen Kinofreund an. Er war gut drauf, obwohl sich bei seinen aktuellen Recherchen facettenreiche Abgründe auftaten, in die er entgegen den üblichen Geflogenheiten in der Redaktion bislang niemanden eingeweiht hatte.
Aber jetzt galt es abzuschalten, die Aussicht auf ein kühles Pils vom Fass und eine Pizza Napoli waren ein guter Anfang. Lars Meyer dachte an Sardellen, schwarze Oliven und dünn ausgerollten Teig, der an den Rändern möglichst braun-schwarze Blasen geschlagen hatte. Beschwingt ging er die wenigen Stufen in das im Souterrain gelegene Restaurant hinunter und ließ sich von der strahlenden italienischen Kellnerin einen Tisch für zwei Personen zuweisen. Das Restaurant war bereits gut gefüllt, das bunte Stimmengewirr an den Tischen und die flotten Kellner schufen eine angenehme Stimmung. Bier und Pizza waren schnell bestellt und standen nach acht Minuten vor ihnen. Beide Männer prosteten sich zu und Nik erzählte in gewohnt launiger Form von seinem letzten Motorrad-Trip nach Litauen. Tolle Landschaft, super gastfreundliche Leute und dann erst die Ostsee mit völlig unverbauten Stränden. Natur pur, wie ein ungeschliffener Diamant. Sie redeten noch über ein, zwei andere Filme, die sie vielleicht mal auf Blue-ray gemeinsam anschauen könnten, irgendwann in der Wohnung von Nik. Dieser hatte sich vor einem halben Jahr einen großen Flachbildschirm nebst Soundanlage zugelegt - fast wie richtiges Kino, schwärmte er Lars immer wieder vor. Viel schneller als gehofft mussten sie aufbrechen, es reichte nicht mal mehr für ein zweites Bier. Der Film fing gleich an und die Werbung gehört schließlich auch zu einem anständigen Kinoerlebnis.
Der sechste X-men-Film - natürlich in 3D – war gut. Sie hatten vermutet, dass die neue Geschichte der mannigfaltigen Mutanten rund um den Hauptprotagonisten Wolferine, erneut genial verkörpert von Hugh Jackmann, wenig Neues bieten würde. Die Charaktere waren in den vorangegangenen Filmen reichlich ausgeleuchtet, jeder Plot musste sich beinah zwangsläufig auf ausgetretenen Pfaden bewegen. Aber der Film bot dennoch einiges Neues und bestach durch seine Tricktechnik. Intelligentes Popcornkino vom feinsten, nicht mehr aber auch nicht weniger hatten Nik und Lars von diesem Abend wartet.
Der Kinokomplex direkt am Bahnhof Dammtor spülte sie schließlich mit den anderen Gästen wieder auf den Vorplatz. Dort vertrieb sich eine wachsende Zahl vornehmlich junger Leute die Zeit bis zum Beginn der Spätvorstellung mit Bierflaschen, Zigaretten und lautem Gehabe. Die beiden Männer verabschiedeten sich noch vor dem Kino, nahmen sich etwas unbeholfen in die Arme und verabredeten sich locker für die bereits angekündigte Avenger-Produktion. Ein letztes Grinsen, Lars Meyer ging mit einem Wink Richtung Gänsemarkt. Nik wandte sich Richtung Dammtor-Bahnhof, um von dort mit der S-Bahn nach Hause zu fahren.
Lars Meyer hatte in der Drehbahn, einer kleinen Seitenstraße der Dammtorstraße, seinen Wagen abgestellt und wollte nun schnell nach Hause. Es war Ende Mai und mittlerweile dunkel geworden. Abseits der großen Straßen waren kaum noch Menschen unterwegs. Er bog mit raschen Schritten rechts in die Drehbahn, eine enge Straßenschlucht mit hohen Häusern. Eine dumpfe Dunkelheit nahm ihn auf, der Straßenlärm der Dammtorstraße brandete nur noch gedämpft an seine Ohren. Auf der gegenüberliegenden Seite nahm er schemenhaft eine Person vor einer dunklen Hauswand wahr, sonst lag die Straße verlassen vor ihm. Endlich sah Lars Meyer das Dach seines schwarzen Audi A 3 im fahlen Licht der Straßenlaterne auftauchen.
Er kramte Gedanken versunken den Autoschlüssel aus der Jackettasche hervor und ging am Heck seines Autos entlang auf die Straße, um zur Fahrertür zu gelangen. Die gelben Blinker leuchteten kurz auf, die Türen entriegelten sich mit leisem Klacken. Lars Meyer zog die Tür auf und wollte einsteigen. In diesem Augenblick drückte sich energisch kaltes Metall gegen seinen Hals. Er hatte den Mann von der anderen Straßenseite nicht kommen hören, alles ging rasend schnell.
»Einsteigen!« sprach eine leise, aber schneidende Stimme mit leichtem Akzent. Lars Meyer versuchte irrwitziger Weise die sprachliche Herkunft des Mannes einzuordnen, osteuropäisch klang es nicht. Aber sein Körper war von Angst bereits geflutet, augenblicklich brach Schweiß aus und all seine Muskeln verkrampften sich. Der Mann drückte den Kopf von Lars Meyer unsanft nach unten und stieß ihn entschlossen in das Auto. Meyer rutschte über die Mittelkonsole auf den Beifahrersitz und prallte gegen die Beifahrertür. Er hatte noch nicht seine Beine sortiert, als ihn ein Schlag mit voller Kraft ins Gesicht traf.