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Auf offener Strecke

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Es war seine letzte Fahrt an diesem Abend. Vor neun Jahren hatte Peter Reincke als Lokführer bei der metronom-Gesellschaft angefangen und den Wechsel von der Deutschen Bahn nur selten bereut. Das junge private Unternehmen mit den gelb-blauen Doppelstockwagen hatte damals attraktive Löhne geboten, die Stimmung im Team war von Aufbruch und Euphorie geprägt.


Uelzen war heute seine Endstation – wie so häufig. Den Zug noch ins Depot, dann ab nach Hause. Am Rande der Stadt mit dem bekannten aber auch irgendwie deplazierten Hundertwasser-Bahnhof hatte sich Peter Reincke mit seiner Frau Luise vor fünf Jahren ein kleines Reihenhaus gekauft. Nestbau, erstes Kind, alles gut. Mit dem unregelmäßigen Dienst kam er zurecht, das Eigenbrödlerische auf dem Führerstand lag ihm. Seine Frau sorgte für das Haus und verdiente mittlerweile als Arzthelferin ein paar Euro dazu, wenn die Kleine morgens in der Kita war. Sie hatten sich eingelebt, sonntags wurde hin und wieder mit den Nachbarn gegrillt.


Diese Strecke war er schon oft gefahren, die Uhr zeigte 0.56 Uhr. Peter Reincke versuchte sich auf die Fahrt zu konzentrieren und der schleichenden Müdigkeit ein Schnippchen zu schlagen. Die verwaisten Bahnhöfe Meckelfeld, Maschen und Ashausen hatte er passiert, kaum jemand war ein- oder ausgestiegen. Um diese Zeit spülte das reiche Hamburg nur noch wenige Pendler oder Glücksritter in den Speckgürtel, vielleicht würden in Winsen oder Lüneburg noch ein paar Verirrte die letzte Bahn nach Uelzen nutzen.

Die Signale standen auf grün, 95 km/h war die Geschwindigkeitsvorgabe der Leitstelle für diesen Abschnitt, in drei Minuten runter auf 60, dann bremsen für Winsen. Brückenpfeiler tauchten aus dem dunklen Nichts im Scheinwerferlicht der Lok auf, dann sah Peter Reincke kurz vor seiner Lok einen menschlichen Körper auf die Gleise fallen. Er drückte instinktiv die Bremse, Notstopp. Die Bombardier-Lok, 83 Tonnen schwer und sechs Wagons im Rücken, kam nach Anspringen der Druckluftbremsen erst nach einigen hundert Metern zum Stehen.

Auch in den Tagen danach würde sich Peter Reincke kaum an Details erinnern. Trotzdem gingen ihm immer wieder diese Sekunden durch den Kopf. Kurz war etwas Stoffartiges zu sehen gewesen, möglicherweise ein flatternder Mantel. Dann bleich blitzend, eine Hand im Licht der Scheinwerfer. Der skurrile Schatten schlug auf die Gleise. Es war ihm sofort klar gewesen - das ist ein Mensch. Irgendein armer Tropf hatte sich eine Brücke an einer einsamen Landstraße zwischen Winsen und Ashausen gesucht und war in den Tod gestürzt. Vor seinen Zug, den letzten, der in dieser Nacht nach Uelzen fuhr.

Personenschaden hieß es auf Amtsdeutsch, die Strecke blieb mehr als vier Stunden gesperrt. Fernzüge mussten über Rotenburg umgeleitet werden, Notarzt, Polizei, Spurensicherung, das ganze Programm. Er hatte eine dieser glänzenden Folien um die Schulter bekommen. Jemand versuchte es mit beruhigenden Worten, die er kaum wahrnahm. Fragen erreichten ihn wie durch einen Schleier, ohne dass er eine Antwort fand.

Er musste an Frank Maiwald denken. Ein Kollege, dem erst vor ein paar Monaten ein 15jähriger Junge vor die Lok geraten war. Frank war seitdem stiller, ging einem aus dem Weg, kein spontanes Feierabendbier mehr. Sichtbar nagte dieser Alptraum an ihm und frischte immer wieder die Farbe der Augenringe auf. Reincke kannte die Zahlen, statistisch erlebt jeder Lokführer während seiner Berufslaufbahn drei Selbstmorde. Er zog die Schutzfolie enger, schüttelte den Kopf - noch zwei also.

Sie hatten den schwarzen Audi von Lars Meyer kurz vor der Brücke an einem Feldweg geparkt, abgeschlossen und den Schlüssel ins Gebüsch geworfen. Der Ort war ideal, sollte tatsächlich um diese Zeit noch jemand die einsame Landstraße nutzen, würden sie den Lichtkegel des Autos rechtzeitig entdecken.

Lars Meyer war ein großer, leicht übergewichtiger Mann, brachte bestimmt an die 100 Kilo auf die Waage. Die beiden Männer kamen ins Schwitzen und fluchten, als sie den Körper am Geländer der Brücke in Position brachten. Sie hatten sich die Fahrpläne des metronom eingeprägt und von Norden sahen sie bereits die drei Scheinwerfer der Lok näher kommen. Sie achteten auf die Oberleitung, der Körper musste möglichst seitlich davon runter fallen, damit die volle Wucht des Zuges den Körper traf. Viel würde von diesem nicht übrigbleiben, sie hatten damit Erfahrung.

Der bewusstlose Körper war wie gewünscht kurz vor der Lok auf die Gleise geprallt. Sten Brorson drehte sich um und schaute dem Zug nach. Sekunden später nahm er das Kreischen der Räder wahr. Stahl auf Stahl, er meinte kurz ein paar Funken in der leichten Rechtskurve vorne an der Lok zu sehen. Er gab seinem Kameraden ein Zeichen zum Aufbruch. Jetzt weg hier, Zeugen konnten sie nicht gebrauchen. Die beiden Männer liefen schnell zum bereit stehenden Van, den sie unweit der Brücke geparkt hatten. Sten Brorson setzte sich ohne weitere Worte ans Steuer und fuhr Richtung A 39. In spätestens drei Stunden wollte er in Tondern sein.

Auf der Fahrt Richtung Norden, sie hatten mittlerweile den Elbtunnel hinter sich gelassen, ging Sten Brorson noch einmal den letzten Tag durch. Nein, einen Fehler, verräterische Spuren oder Ungereimtheiten konnte er nicht ausmachen. Beim ersten Zusammentreffen im Wagen von Lars Meyer hatte er Handschuhe getragen und den Schlag ins Gesicht so platziert, dass die Nase nicht zu bluten anfing.

Er erinnerte sich gut an den Anruf ein paar Tage zu vor. Diesmal also nach Deutschland, genauer gesagt Hamburg. Ein unbequemer Schreiberling musste beseitigt werden und zwar gründlich. Gründlich war ein Todesurteil und der Chef skizzierte mit dem ihm eigenen kurzen Kommandostil seine Vorstellungen davon. Die weiteren Daten würde Sten Brorson über den üblichen verschlüsselten Mailkontakt erhalten. Er hatte ohne weiteres Nachdenken den Auftrag angenommen, kurze Zeit später kannte er die Adresse der Zielperson und prägte sich das Foto im Anhang der Mail gut ein.

Sie ließen gerade die Abfahrt Itzehoe-Nord hinter sich. Frederick Mickelsen schlief auf dem Beifahrersitz und atmete ruhig. Auf Mickelsen war Verlass, er stellte keine Fragen, war zutiefst loyal gegenüber der gemeinsamen Sache. Er hatte Brorson sofort zugesagt, Zeit hätte er jede Menge und bei der Bezahlung – na klar. So waren die beiden Männer am Freitag nach Hamburg aufgebrochen. Der Rest war fast schon Routine gewesen, der Kinobesuch eine Steilvorlage.

Sten Brorson hatte mit Lars Meyer, der eingeschüchtert auf dem Beifahrersitz seines eigenen Wagens saß, schnell die Hamburger Innenstadt hinter sich gelassen und war Richtung Harburg gefahren. Dort wartete am Rande eines verlassenen Industriegeländes Frederick mit dem Van. Brorson zehrte den Journalisten in den anderen Wagen und überließ die präzisen Schläge diesmal seinem Kameraden. Nachwuchsförderung, er musste selbst lächeln über diese Wortwahl. Aber gerade bei Menschen aus der sogenannten Bildungselite brauchte es meist nicht viel und sie taten wie geheißen. So auch Lars Meyer. Nach den üblichen Phrasen, was sie denn von ihm wollten und dies und das wisse er wirklich nicht, zeigte er sich drei gezielte Fausthiebe später deutlich kooperativer. Als erstes schrieb er die genannten Worte auf ein Stück Papier. Der nächste Teil der Operation war etwas schwieriger. Sie mussten Lars Meyer dazu bringen, dass er sich bei der Sternredaktion auf den Redaktionsserver einloggte. Der Auftraggeber hatte verlangt, dass bestimmte Texte gelöscht werden sollten. Als Lars Meyer realisierte, was von ihm verlangt wurde, bäumte er sich noch einmal auf. Ihm schien mittlerweile klar zu sein, dass dies böse enden könnte. Nach weiteren Schlägen röchelte er schließlich sabbernd und weinend aufhören, aufhören und Mickelsen ließ von ihm ab.

Lars Meyer gab nach und wählte sich mit zittrigen Fingern ein. Er vertippte sich zweimal, da sein linkes Auge bereits leicht zugeschwollen war und die Hände zitterten. Doch schließlich zeigte der Monitor die nach Themen geordneten Verzeichnisse an. Der betreffende Ordner war schnell gefunden. Er ließ erschöpft und voller Schmerzen den Laptop los und rutschte seitlich gegen die kalte Metallwand der Vans. Was genau die Männer mit seinen Dateien taten, konnte er nicht mehr nachvollziehen. Sein Auge schwoll immer weiter zu, mit dem anderen suchte er panisch nach einem Ausweg.

Am nächsten Morgen fand die Polizei schnell heraus, wer der Tote auf den Bahngleisen zwischen Ashausen und Winsen gewesen war. Sie hatten den Halter des offenbar herrenlosen Fahrzeuges in der Nähe der Brücke ausfindig gemacht. Lars Meyer, Journalist, wohnhaft in Hamburg, 46 Jahre alt. Nach ein paar Telefonaten wussten die Ermittler, dass dieser Lars Meyer am heutigen Morgen nicht wie gewohnt in der Stern-Redaktion erschienen war und weder eine Krank- noch eine Urlaubsmeldung vorlag. Eine Beamtin war zur Wohnung von Lars Meyer nach Hamburg-Ottensen gefahren und traf auch dort niemanden an. Die Spurensicherung fand schließlich noch an der Strecke einen blutverschmierten, nur leicht beschädigten Personalausweis.

Für die Polizei ergab sich nach wenigen Stunden ein relativ klares Bild. Alles deutete auf Selbstmord hin. Jedes Jahr brachten sich rund 10.000 Menschen in Deutschland um, meist Männer. Der Rest war Routine, auch wenn der Chef von Lars Meyer in einem Telefonat mit der Polizei einen Suizid für wenig wahrscheinlich hielt. Solche Einschätzungen hörte man häufiger von Verwandten und Bekannten, wer kann schon in andere Menschen hineinschauen. Bei Lars Meyer räumte schließlich die kurze Notiz mit seiner Handschrift, die man im Auto gefunden hatte, letzte Zweifel aus. Ich kann nicht mehr stand dort mit zittrigen Buchstaben notiert. Verwandte hatte Lars Meyer offenbar kaum, die Eltern in der hessischen Heimat waren schon vor Jahren verstorben. Nur eine Schwester war der Stern-Redaktion bekannt, die aber in den USA lebte. Man hoffte, diese würde sich schnell melden, damit man die Leiche zur Bestattung freigeben konnte. Und dann würde man die Akte schließen.

Mohn und Schatten

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