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Die Liste der Schande

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Katharina schmiss ihren Haustürschlüssel auf die kleine Anrichte im Flur. Feierabend, Der dänische Artikel, wie sie ihn nannte, hatte auch Henning Haupt gefallen, nachdem er einen Blick drauf geworfen hatte.

»Gute Arbeit«. Das waren, kurz bevor sie die Redaktion verlassen hatte, die aufmunternden Worte gewesen, die jetzt noch nachklangen. Katharina war beschwingt in die Bahn gestiegen, hatte ein paar Lebensmittel im Supermarkt um die Ecke gekauft und war nun endlich in ihrer Wohnung angekommen.

Sie hatte mit viel Glück eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Horn gefunden. Noch von Berlin aus war sie mehrere Male nach Hamburg gefahren, hatte die üblichen Portale bemüht, das Hamburger Abendblatt studiert und war schließlich bei einer kleinen Wohnungsbaugenossenschaft fündig geworden. Ein paar Möbel konnte sie vom Vormieter übernehmen, der Rest war schnell bei stilbruch in Wandsbek organisiert. Der Second-Hand-Laden für Möbel bot eine erstaunliche Auswahl, den Hamburgern schien es gut zu gehen. Besonders freute sie sich über das braune Knautschsofa aus Leder, richtig gemütlich. Und wen stören schon ein paar abgewetzte Stellen an der Lehne.

Katharina schaute sich im Garderobenspiegel in die Augen. Die letzten zwei Jahre waren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Die Stirn hatte eine senkrechte Furche mehr, ein ernster Ausdruck schlug ihr entgegen. Sie stützte sich auf die Anrichte, senkte den Kopf. Es war nicht leicht gewesen. Von ständiger Angst betrieben, Brücken abzubrechen und ein Morgen kaum formulieren zu können.

Ihre Eltern waren am Anfang das größte Problem. Wie das Notwendige im Unglaublichen erklären? Die Eltern hatten von ihrer kleinbürgerlichen Warte aus schon das Ökotrophologiestudium mit schweigsamer Skepsis kommentiert und die Wahl, Journalistin zu werden, gar nicht mehr nachvollziehen können. Nach ihrer überhasteten Flucht aus Hamburg tat sich Katharina schwer damit, sich von Frankfurt aus bei ihnen zu melden. Sie wusste, dass sich ihre Eltern unendliche Sorgen machten. Aber was sollte sie erzählen? Ein ermordeter Freund, die Pharmaindustrie sei nun auch hinter ihr her? Ein maskierter Mann hätte mitten in der Nacht im Schlafzimmer eines anderen Mannes, den sie seit drei Tagen kannte, genau neben ihr in die Wand geschossen? Sie hörte das eindringliche Ploppen des Schalldämpfers heute noch.

Üblicherweise meldete sie sich alle zwei bis drei Wochen telefonisch bei ihren Eltern, die in einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein lebten. Irgendwann war mehr als ein Monat vergangen und Katharina hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Ihre alte Wohnung war Vergangenheit, ihr Festnetzanschluss gekündigt und auch ihre Handynummer gab es nicht mehr. Sie hatte noch am Bahnhof, als sie auf den Zug Richtung Frankfurt wartete, die SIM-Karte zerstört. Sie vermutete, dass sich ihr Vater irgendwann ins Auto setzen würde, um nach Hamburg zu fahren. Er würde bei ihr klingeln, vielleicht schon ein fremdes Namenschild an der Wohnungstür sehen. Bei Henri-Nannen nachfragen und spätestens dann eine Vermisstenanzeige aufgeben.

Das konnte und wollte Katharina nicht riskieren. Sie konnte aber auch nicht einschätzen, ob der Mörder von Walter nicht auch ihr Elternhaus überwachte. Sie waren mit Sicherheit noch hinter ihr her. Schließlich entschied sie sich für einen Brief an die Eltern, der eine schwierige persönliche Phase und einen daher notwendigen Bruch mit Hamburg darlegte – ohne freilich zu verraten, warum sie die Ausbildung abgebrochen hatte und wo sie sich gerade aufhielt. Am Ende der mageren Zeilen bat sie inständig um Vertrauen und versprach, sich alsbald telefonisch zu melden.

Ihre Eltern hatten diese Episode schließlich akzeptiert, nach mehreren strittigen Telefonaten aufgegeben, nach Details zu fragen und letztlich die bittere Ausgrenzungspille, die ihre Tochter ihnen vor die Füße geworfen hatte, geschluckt. Nun waren sie überglücklich, Katharina wieder in ihrer Nähe zu wissen. Am übernächsten Wochenende stand ein Besuch der Beiden in ihrer neuen Wohnung an.

Katharina ging in die kleine Küche und machte sich einen Salat. Das Grünzeug begann ab Mai wieder zu schmecken und spätestens als sie den Schafskäse aus der Verpackung holte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und beschmierte das Baguettebrötchen mit frischer Butter. So, jetzt ging es ihr schon etwas besser.

Nachdem sie ein bisschen aufgeräumt hatte, kontrollierte sie ihre privaten Mails, nichts Wichtiges. Sie machte den Fernseher an und zappte durch die Programme, blieb an einer Reportage über Westaustralien hängen. Den Abend ließ sie mit dem heute-journal ausklingen. Marietta Slomka hatte zwar nicht ihren besten Abend, aber das Interview mit SPD-Chef Sigmar Gabriel war durchaus amüsant.

Katzenwäsche, aber mindestens zwei Minuten Zähneputzen, darauf achtete sie auch an diesem Abend. Als sie im Bett lag, fühlte sie, wie anstrengend der Tag gewesen war. Sie hoffte auf eine ruhige Nacht, machte das Licht aus und suchte den Schlaf.

Mit mäßigem Erfolg, wie Katharina feststellen musste, als am nächsten Morgen der Radiowecker klingelte. Sie war immer wieder wach geworden, die Geräusche in diesem Haus waren noch fremd. Über ihr wohnte jemand, der Schicht arbeitete. Irgendwo rauschte mehrmals eine WC-Spülung. Müde schob sie ihre Beine aus dem Bett und schleppte sich zur Dusche.

Als Katharina gegen halb zehn in die Redaktion kam, war schon geschäftiges Treiben. Noch 15 Minuten bis zur Konferenz, genügend Zeit, den Rechner hoch zu fahren und festzustellen, dass der Kaffee auch heute nicht zu genießen war. Die taz bot in ihrem Shop exzellenten tazpresso an und warb kräftig für die kultige Bohne. Im realen Leben aber schnorchelte in der Hamburger Redaktion eine hässliche uralte Kaffeemaschine jeden Tag vor sich hin, die, egal welches Kaffeepulver man einsetzte, offenbar nur schwarze Plörre produzieren konnte. Aber irgendwie passte auch dies zu der Truppe. Katharina begann sich wohlzufühlen.

Die Aufgaben waren schnell verteilt. Henning hatte ihr heute ein Thema gegeben, das es in sich hatte.

»Schau ruhig mal über den Tellerrand hinaus. Wenn die Zahlen meine These stützen, wandert Dein Text in die Hauptausgabe nach in Berlin. Aber vergiss den Hamburg-Bezug nicht, ok?«, sagte Henning und grinste sie an.

»Und Du kommst heute mit zur Landespressekonferenz im Rathaus. Musst schließlich auch mal das eigentliche Machtzentrum dieser Stadt kennenlernen«.

Katharina freute sich und grinste zurück. Die Erschöpfung war wie weggeblasen, die unruhige Nacht vergessen. Ihr neues Thema war wirklich spannend. Sie sollte den möglichen Nährboden für rechte und extremistische Ansichten in Deutschland und speziell in Hamburg beleuchten. Was sagte die Statistik zu den Themen Bildung, Armut, Sucht, Gewaltbereitschaft im rechten Spektrum? Gäbe es einen charismatischen Populisten, wäre ein breiter Zuspruch des Wahlvolkes wie in Frankreich für Le Pen oder wie in den Niederlanden für Wilders auch hier denkbar? Und im aufgeklärten Hamburg? Es war nur ein paar Jahre her, da konnte Richter Gnadenlos alias Roland Schill mit dem Thema Innere Sicherheit aus dem Stand 20 Prozent der Hamburger Wähler für sich gewinnen.

Spannend, sagte sich Katharina erneut und fing an zu recherchieren. Die Finger flitzten über die Tastatur, sie machte sich Notizen und langsam wuchs ihre Liste der Schande – so der vorläufige Arbeitstitel.

In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, mit Schulpflicht, dualen Ausbildungskonzepten und fast kostenlosen Universitäten, galten unglaubliche siebeneinhalb Millionen Menschen als Analphabeten. Das hatte jedenfalls die Universität Hamburg herausgefunden. Nicht zu fassen. In der Hansestadt sollte es immerhin noch 60.000 Erwachsene geben, die nicht ausreichend lesen und schreiben konnten.

Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband galten über zwölf Millionen Menschen in Deutschland als arm, 1,6 Mio. Kinder lebten unterhalb der Armutsgrenze, Tendenz steigend. In Hamburg lag die Armutsquote bei 17 Prozent und damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Die Schere zwischen Arm und Reich ging offensichtlich in der Hansestadt und in ganz Deutschland immer weiter auseinander. In Teilen der Mittelschicht kursierte mittlerweile die nackte Angst, auf der sozialen Leiter weiter abzurutschen. Alleinerziehende hatten es offensichtlich am schwersten, aus der Armutsfalle wieder herauszukommen. Kinder zu bekommen vergrößerte das Armutsrisiko ungemein, nicht nur für die meist weiblichen ökonomischen Opfer einer Scheidungsrate von mehr als 30 Prozent.

Andere Zahlen waren ebenfalls wenig ermutigend. Es gab fast zehn Millionen Alkoholsuchtgefährdete, zwei Millionen davon alkoholsüchtig im medizinischen Sinne. Seit 2006 war die Anzahl der extremen Trinker um 36 Prozent gestiegen. Mehr als eine Million Deutscher war von Beruhigungsmitteln abhängig. Ein Beleg dafür, dass viele Menschen das Leben, um das uns die wirklich Armen auf der ganzen Welt beneideten, nicht mehr aushielten.

Ups, dachte Katharina, als sie die Zahlen und Fakten noch einmal durchging. Was sie da in einer Stunde recherchiert hatte, konnte nicht richtig beruhigen. War Deutschland ein Pulverfass, zu dem nur bislang niemand die passende Zündschnur gefunden hatte?

Sie machte eine kurze Pause und versuchte, die politische Dimension der Fakten zu erfassen. Hennings These, für sie am Anfang noch sehr gewagt, schien sich zu bestätigen. Mit Geld, einer anschlussfähigen charismatischen Führungsfigur und einer guten Strategie ließ sich auf diesem deutschen Nährboden einiges bewegen. Wahrscheinlich gingen viele der Frustrierten, der Ungebildeten, der Kranken und Enttäuschten gar nicht mehr zur Wahl. Es gab in Deutschland Landtagswahlen, bei denen weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimmen abgaben. Schaffte es jemand, den schlafenden Riesen der Nichtwähler zu mobilisieren, wurde es nicht mal mehr die Programmatik der CSU schaffen, den deutschen rechten Rand abzufedern.

Katharina war so in ihren Artikel und ihre Gedanken vertieft, dass sie Henning Haupt gar nicht kommen sah. Erst als dieser direkt vor ihren Schreibtisch stand, blickte sie auf. Ein breites Grinsen erwartete sie und die Aufforderung, nun aber mal schnell die sieben Sachen zusammen zu kramen. Die Landespressekonferenz beginne in 30 Minuten und sie müssten schließlich noch ins Rathaus kommen.

Mohn und Schatten

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