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Die neun Musen –

ein Einweihungsweg

Von den Musen will ich beginnen, von Zeus und von Phoibos.

Stammen doch von den Musen und von Apollon, dem Schützen,

Alle Liedersänger und alle Harfner auf Erden,

Könige aber von Zeus. O selig, wen immer die Musen

Lieben; denn süßer Gesang wird seinem Munde entströmen.

Heil euch, Töchter des Zeus, schenkt Ehre meinem Gesange,

Ich aber werde eurer und andrer Gesänge gedenken.8

Homerischer Hymnus

Die Musen, diese göttlichen Schutzgeister der Dichter, die in der Antike so oft angerufen wurden, galten gemeinhin als die Töchter des Zeus und der Mnemosyne; dabei ist Zeus esoterisch gesehen der kosmische Allgeist und Mnemosyne (Erinnerungsvermögen) das Weltgedächtnis oder – mit einem indischen Ausdruck – die Akasha-Chronik. Akasha bedeutet so viel wie Äther. Wir können uns die Akasha-Chronik vorstellen als einen unendlich dünnen feinstofflichen Film, aus der Substanz des Weltenäthers gewoben, der alle Eindrücke aus der physischen Welt empfängt und für alle Ewigkeit in sich aufspeichert. Alle Taten, die je begangen wurden, alle Gedanken, die je gedacht wurden, hinterlassen einen solchen bleibenden Eindruck in der Akasha-Chronik. Hellsichtigen Menschen, nicht Medien, sondern geschulten Eingeweihten, ist es möglich, in der Chiffrenschrift der Akasha-Chronik die Geschehnisse vergangener Perioden zu erkennen.

Alle Dichter, Seher, Propheten und Eingeweihten schöpfen aus der Kraft des Weltgedächtnisses, der Welterinnerung, personifiziert als Mnemosyne, die Mutter der Musen. Denn wie sonst könnten die Dichter und Sänger die Taten der Vergangenheit verherrlichen, wenn sie diese nicht in plastischen Imaginationen vor ihrem geistigen Auge sähen? Und vergessen wir nicht: Die Akasha-Chronik, die oben im Äther schwebt, ist ja kein „Buch“ im üblichen Sinne, schon gar kein geschriebener Text, sondern ein reines Bilder-Gedächtnis. Aus der Ebene der Akasha-Chronik empfängt der Dichtende seine zentralen Inspirationen, die er unter Mithilfe der Musen in machtvolle Sprachbilder umwandelt. So wirken die Musen als Mittler: sie tragen die Bild-Inhalte des Weltgedächtnisses in das Bewusstsein des Dichters hinein; und dort werden diese Inhalte in Gedankenformen gekleidet, damit sie an andere Menschen (in metrisch gebundener Form) weitergegeben werden können.

In diesem Sinne wirkt der Dichter als Brücke zur Geistigen Welt; seine eigentliche Aufgabe ist Brückenbau. Die Musen, als die ausführenden Organe des Weltgedächtnisses (Töchter der Mnemosyne), üben bei diesem Amt geistigen Brückenbaus eine wichtige Funktion als Helfer, Mittler und Überbringer aus. In der griechischen Antike dachte man sich die Musen immer in Gruppen auftreten: da gab es die Pierischen Musen, die in Pierien östlich des Olymp wohnten, nahe den Göttern; dann die Boiotischen Musen am Berge Helikon in Böotien; dann als dritte Gruppe die Delphischen Musen, die am Parnass bei Delphoi lebten, in der Nähe der berühmten Orakelstätte. Auf ihren Wohnplätzen, geheiligten und magischen Orten, oft an Quellen oder Bächen gelegen – die Musen tragen auch etwas Quellnymphenhaftes an sich –, sangen und tanzten sie, häufig angeführt von ihrem göttlichen Schutzherrn Apollon Musagetes ( = der Musenführer). Apollon bedeutet den geistig-göttlichen Sonnen-Logos. Er war zugleich Besitzer der Lyra und insofern Schutzpatron der Dichter und Leierspieler.

So unterstand die Dichtkunst in ältester Zeit waltenden Göttermächten. Ursprünglich nur auf drei beschränkt, treten die Musen schon bei Homer als neun Schwestern auf, wobei jede einzelne über eine bestimmte künstlerische Funktion zu wachen hatte und mit einem entsprechenden Symbol verknüpft wurde. Man kann die neun Musen durchaus als Stufen eines Einweihungsweges verstehen, an dessen Ende die Vereinigung mit dem Weltengedächtnis steht, das Lesen in der Akasha-Chronik. Die Anrufung der Musen bei Beginn einer künstlerischen Arbeit war seit Homer ein weithin gepflegter Brauch, der später auch an Stätten geistigen Lebens, wie Schulen,

Philosophenkreise, geübt wurde. Die Namen der Musen und die ihnen zugeordneten Bereiche sind:

EratoLiebesdichtung
EuterpeMusik
Kalliopeepische Dichtung
KleioGeschichte
MelpomeneTragödie
Polyhymniafeierlicher Gesang
TerpsichoreTanz
ThaleiaKomödie
UraniaAstronomie

Ein mythisches Wesen, das mit den Musen in engem Zusammenhang steht, ist der Pegasos, jenes wundersame Flügelpferd, auf dem Bellerophon einst zu den Göttern hinaufreiten wollte. Vom Pegasos wird berichtet, dass durch seinen Hufschlag zwei Quellen entstanden seien: die eine heißt Hippokrene und fließt in Böotien; die andere nennt man Peirene, in der Nähe von Korinth gelegen – beides Stätten, wo die Musen sich zu versammeln pflegten, als deren heiliges Pferd der Pegasos galt. Der Pegasos ist es auch, der den Dichter-Eingeweihten zu den geistig-göttlichen Sphären emporträgt – in jene Höhen des Geistes, wo allein Zeus und Mnemosyne walten, der kosmische Allgeist und das „Weltgedächtnis“.

Die indischen Rishis, die griechischen Rhapsoden und die Barden-Sänger der Kelten, die Troubadoure und Minnesänger des Mittelalters, ja noch die inspirierten Dichter der europäischen Klassik und Romantik, auch die japanischen Zen-Dichter, die gottestrunkenen persischen Sufi-Poeten – sie alle treten als Künder höherer Weltengeheimnisse auf; sie alle besitzen ein tiefes Wissen um die Geistige Welt, das sie in ihren Dichtungen mal nur andeuten, mal wieder klar und deutlich aussprechen. Deshalb ist die Dichtung des Morgen- und Abendlandes, zumal in ihren heiligen Anfängen, eine randvolle Schatzkammer spirituellen Wissens. „Dichtung kommt aus Gott und mündet in Gott. Sie schafft magisch die große Vereinigung zwischen Dingen und Geist, zwischen Denken und Sein, zwischen Welt und Schöpfer. Am farbigen Abglanz erschaut sie das Leben, und Natur hat für sie weder Kern noch Schale. Man könnte, ein Wort Spinozas variierend, sagen: Die Dichtung ist nicht die Vorstufe zu einem seligen Jenseits, sie ist dieses Jenseits selbst. Oder: Das Jenseits ist nur das anders angeschaute Diesseits. Denn jenseits dieser Welt gibt es nichts. Noch das Nirwana … ist diesseits. Die Sterne leuchten auch den Toten, diese Blumen blühen auch für sie. Nur dass die verklärten Gesichter sie anders sehen. Mit übermenschlichen oder unmenschlichen Augen. So sehen auch die Dichter diese Welt mit über- oder unterirdischen Blicken. Gott ist der Geist. Und seine Geister sind die Dichter.“9

Von den Sängern Gottes handelt vorliegendes Buch – von den Dichtern, Sehern, Mystikern und Eingeweihten aller Zeiten. Wirkliche Dichtung ist ein Weg zum kosmischen Bewusstsein, zum All-Einheits-Bewusstsein der Mystiker. Solche Erfahrung, wie sie R. M. Bucke in seinem Buch Cosmic Consciousness in charakteristischer Weise schildert, eignet dem Mystiker wie dem Dichter gleichermaßen: „Wie in einem Blitz offenbart sich seinem Bewusstsein eine klare Vorstellung, eine globale Vision von Sinn und Ziel des Universums. Er kommt nicht zu einer bloßen Überzeugung, sondern er sieht und weiß, dass der dem Ichbewusstsein als tote Materie erscheinende Kosmos in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist – nämlich tatsächlich eine lebendige Gegenwart…. Er sieht, dass das dem Menschen innewohnende Leben ewig ist wie alles Leben, dass die Seele des Menschen so unsterblich ist wie Gott, sieht, dass das Universum so geschaffen und geordnet ist, dass ohne jeden Zweifel alles zum Besten aller zusammenwirkt und dass das Grundprinzip der Welt das ist, was wir Liebe nennen, und dass das Glück eines jeden einzelnen letztlich gewiss ist….“10 In der Tat: Der Dichter muss das ganze Welten-All in sein Inneres hineinnehmen, muss das Schicksal der ganzen Welt mittragen, mit allen Wesen mitfühlen, um den vielfältigen Stimmen des Seins im lyrischen Gedicht – oder im Epos, im Drama, im Roman – Ausdruck zu verleihen.

Die Weisheit der Dichter

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