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4. Alltag

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Plötzlich zerbirst der Zauber. Das Lenchen tritt ein und schaltet das elektrische Licht ein, um den Tisch zu decken. Bereits vor mehreren Jahren – als Oldenmoor an das Stromnetz angeschlossen wurde – hatte man den gewaltigen Lüster mit elektrischen Kerzen ausstaffiert.

Die Helligkeit verjagt die Gespenstererscheinung und verschluckt deren bläuliches Szenarium. Das Esszimmer kehrt in die Gegenwart zurück. Nicht aber das Lenchen, gleicht es doch selbst eher einem Geist aus der Vergangenheit.

Sie breitet das Tischtuch aus, deckt das Teegeschirr auf und kehrt mit ihrem schweren, wiegenden Gang in die Küche zurück.

Hans-Peter und Frau Annette kommen herein. Ein wenig später stoßen Tante Alexandra, Johann und Ewald dazu.

Auch Clarissa erscheint, ganz leise, mit einem Buch unter dem Arm. Sie begrüßt Tante Alexandra, ihre Eltern, danach Onkel Ewald und zuletzt ihren Patenonkel mit einem Kuss auf die Wange. Johann blickt sie mit seinen trüben Augen an und murmelt einige unverständliche Worte als Begrüßung vor sich hin.

Clarissa bemerkt mit Widerwillen die starke Alkoholfahne, die ihrem Patenonkel anhaftet. Sie setzt sich in einen Sessel in der Nähe der Uhr und beobachtet von dort aus unauffällig Onkel Johann, der sich mit gespreizten Beinen, die Arme über seinem umfangreichen Leib hängend, auf dem Sofa ausgebreitet hat: Seine Augen sind fast geschlossen, wie die eines schläfrigen Ochsen; das gerötete Gesicht, die schlaffen Wangen, das Doppelkinn über dem Stehkragen, die lichten, dünnen Haare, die seine Glatze nicht mehr verbergen können. Ab und zu, ohne erkennbaren Anlass, öffnet er die Augen einen Schlitz weit und gibt seufzend sein übliches „Ach, mein lieber Gott!“ von sich.

Auch wenn sie noch so intensiv versucht, sich dazu zu zwingen, vermag Clarissa es einfach nicht, ihren Patenonkel – diese stets nach Alkohol übelriechende Person – wirklich gern zu mögen. Ganz Oldenmoor weiß, dass Johann von Steinberg, Sohn des seligen Herrn Oberst Oliver von Steinberg, ein Trinker ist, der nicht arbeitet und den ganzen Tag müßig herumhockt; seine Hauptbeschäftigung ist es, auf den Abend zu warten, um sich dann in seiner Stammkneipe „Zur Schleuse“ volllaufen zu lassen.

Mit finsterer Miene sitzt Hans-Peter am Kopf des Tisches, sehr tief in ernste Gedanken versunken.

Tante Alexandra strickt und zeigt dabei Frau Annette ein neues Muster: „Schau mal, eine Masche rechts, dann eine Masche abheben …“, erklärt sie.

Frau Annette meint: „Ach, das ist ja gar nicht so kompliziert, wie ich zunächst dachte, Tante Alexandra!“

„Na siehst du!“

Die Augen auf den Boden gerichtet, spielt Ewald, ganz in seinen Gedanken verloren, mit einer Streichholzschachtel. Er ist sehr mager und hat eine gelbliche, ungesunde Gesichtsfarbe. Seine Haut wirkt derart durchsichtig, dass man glaubt, seinen Schädel durch sie hindurch sehen zu können. Dann und wann verzieht er das Gesicht mit einer gequälten Grimasse.

Clarissa lauschte eines Tages einem Gespräch der Leute in der Stadt: „Siehst du, da geht Ewald von Steinberg, ein guter Kerl, aber hoffnungslos drogensüchtig. Eines Tages wird er elendig krepieren …“

Und sie fühlt, dass alle im Hause von Onkel Ewalds Laster wissen. Man weiß es, man spricht aber nicht darüber.

Hans-Peter blickt seine Frau an. „Annette, lass doch bitte den Tee servieren.“

Die Mama erhebt sich und geht in die Küche. Tante Alexandra, die Brille auf ihre runzlige Nase geklemmt, senkt ihren Vogelkopf über das Strickzeug und hantiert verbissen mit den grünen Galalit-Nadeln herum.

Im Salon nebenan sitzen Tante Therese und Hein Piepenbrink und unterhalten sich sehr leise.

Ab und zu fährt ein Automobil vorbei. Gelegentlich hört man einen Hund bellen oder das jammervolle Liebesgeschrei von Katzen.

Alle setzen sich an den Tisch und das Lenchen serviert den Tee. Tante Alexandra und Annette unterhalten sich jetzt über Stickereien. Johann schlürft mit tödlicher Verachtung seinen Tee und seufzt: „Ach, mein lieber Gott!“

Ewald lehnt widerwillig die selbstgebackenen Kekse ab, die Clarissa ihm anbietet.

Stille. Stille, nur von dem unaufhörlichen, rhythmischen Ticken der Uhr begleitet.

„Welch eine traurige Gesellschaft!“, denkt Clarissa beklommen.

Mit wehleidiger Stimme murmelt Johann seinen Brüdern zu: „Morgen ist die Hypothek für das Reetdachhaus fällig.“

Clarissa setzt eine betrübte Miene auf: Hier kommt das peinliche Thema „Geld“ wieder …

Ewald zuckt mit den Schultern. Tante Alexandra unterhält sich sehr angeregt mit Frau Annette.

„Und der Rembowski, will er nicht verlängern?“, fragt Hans-Peter.

Johann weiß nicht so recht und meint, unsicher: „Vielleicht nochmals für sechs Monate.“

„Was, nur für sechs Monate? Verfluchtes Polacken-Gesindel!“

Hans-Peter steht wütend auf. Er geht zum Fenster und sieht hinaus. Dort gegenüber steht die „Bäckerei T. Rembowski u. Sohn“. Gestern noch war es eine kleine Bruchbude, eine Tür, ein kleines Ladenfenster. Heute ist es eine Brotfabrik.

Hans-Peter blickt durch das Fenster und erinnert sich …

Damals, als Tadeusz Rembowski aus Polen ankam, mit einem Bündel Kleider als seine gesamte Habe, seinem Weib und seinem kleinen Sohn, gehörten noch fast alle Häuser in seinem Blickfeld den von Steinbergs. In Oldenmoor pflegte man zu sagen: „Ich gehe in das Von-Steinberg-Viertel.“ Nun gut. Der alte Oliver von Steinberg starb. Der Krieg ging vorbei. Steuern und Inflation verzehrten das geerbte Vermögen, das sowieso längst nicht seinen Erwartungen entsprochen hatte. Mit dem Lauf der Jahre häuften sich die Schulden und es mussten Hypotheken auf die Häuser aufgenommen werden. Als diese dann später fällig wurden, hatte man wiederum kein Geld, um sie abzulösen. Also gingen die Häuser nach und nach in das Eigentum der Rembowskis über. Denen ging es immer besser; sie hatten genügend Geld. Darüber hinaus hatten sie rasch erkannt, dass man mit dem Verleihen von Geld an die von Steinbergs schnell und billig an deren Häuser kam. In einigen Monaten würde auch noch das Haus der armen, alten Tante Alexandra in ihr Eigentum übergehen …

Hans-Peters Augen blicken wütend auf die weiß getünchte Bäckerei-Fassade, deren Fenstergläser spöttisch das Mondlicht widerspiegeln.

„Ausländer-Bagage!“

Ein tiefer Groll wächst in Hans-Peters Brust. Denn er ist ein von Steinberg und diese Ländereien gehörten bereits vor vielen Generationen derer von Steinberg. Sie führen einen geachteten Namen. Sie haben eine ehrenwerte Tradition, die auf einige Jahrhunderte zurückgeht. In Oldenmoor war ihr Name einst eine Institution. Niemandem im Umkreis von fünfzig Meilen wäre der verstorbene Oliver von Steinberg ein Unbekannter gewesen!

Heute aber sind seine Nachkommen völlig erschlafft, untätig, ohne jegliche Hoffnung und befinden sich auf dem sicheren Weg in die Armut, abhängig von der Duldsamkeit eines dahergelaufenen polnischen Bäckers, der nicht einmal seinen eigenen Namen richtig schreiben kann!

Hans-Peter kehrt an den Tisch zurück.

„Gibt’s denn hier nichts zu trinken?“, fragt Johann.

„Möchtest du noch eine Tasse Tee?“, lächelt Frau Annette.

„Ach, mein lieber Gott!“, gibt er entmutigt zurück.

Clarissa liest Verse von Reimer Madrigal, ihrem Lieblingsdichter. Es muss ein Künstlername sein, denkt sie. Der Name ist viel zu schön, um echt zu sein. Das Buch heißt „Gedichte auf dem Wasser“. Wie herrlich sie doch sind! Alles, was er schreibt, kann man wirklich nachempfinden. Manchmal sind ihr einige Verse zwar nicht ganz verständlich, aber schön sind sie trotzdem … Reimer Madrigal schrieb sein Buch in Flensburg. Er stellt sich sicherlich nicht vor, dass in einem großen, alten Haus inmitten eines Städtchens auf dem Lande sein Buch von einem jungen Mädchen im Kreise einer solch traurigen Familie eifrig gelesen wird.

Ewald steht auf, steckt die Hände in die Hosentaschen und fängt an, mit einem zunehmenden nervösen Zucken im Gesicht auf und ab zu gehen. Lächelnd bemerkt Tante Alexandra: „Ach, diese ungeduldigen Jungs! Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, als mit ihnen nach Hause zu gehen.“ (Für die Alte sind Hans-Peter und seine Brüder immer noch jene Jungs, die sie auf dem Arm trug, als diese noch Kinder waren.) „Kaum sind sie einige Minuten beisammen, wollen sie schon wieder raus. Da war doch Christian der Häuslichste …“

Auf einmal sind alle sehr still und gedenken des lieben Gefallenen. Für einige Augenblicke beherrscht die Seele des Toten die Erinnerung der Lebenden.

Dann öffnet sich die Tür und Heiko erscheint aus der Dunkelheit der Diele.

Tante Alexandra setzt die Brille ab und fragt: „Wer ist dort, Annette?“

„Es ist Heiko.“

„Komm her, mein Junge.“

Heiko geht auf sie zu, beugt sich über sie und küsst sie sanft auf die Stirn: „Guten Abend, Großmama.“

„Wo treibst du dich denn noch so spät herum?“

„Ach, so überall und nirgends …“

Der Bursche wirkt zerstreut, greift ungeniert nach einem Keks von dem Teller, der auf dem Tisch steht, und beginnt zu kauen.

Unauffällig beobachtet Clarissa ihren Vetter. Heiko sieht sie nicht einmal an. Da steht der Deichkater unter dem Lüster, die wilden, blond gelockten Haare auf dem Kopf, das braungebrannte Gesicht mit dem entschlossenen, harten Blick, die Krawatte lässig um den geöffneten Hemdkragen gelockert …

Jetzt konzentrieren sich alle Blicke auf ihn. Hans-Peter muss seinen Groll auf die Rembowskis auf irgendjemanden entladen: „Sag mal, Heiko, das sind ja schöne Geschichten, die ich über dich heute erfahren musste …“

„Ach, wirklich? Sieh mal einer an!“ Heiko setzt sich auf die Sessellehne neben Tante Alexandra, legt seinen Arm liebevoll über ihre Schultern und sagt – Hans-Peter vollkommen ignorierend – mit einem Lächeln: „Großmama, du musst aber jetzt ins Bett. Dies ist keine Zeit für kleine Mädchen, um noch auf zu sein …“

Welch eine Frechheit!, denkt Clarissa. Er beachtet den Papa überhaupt nicht. Heiko müsste dafür Hiebe bekommen. Es stimmt also doch, dass er der Tunichtgut der Familie ist.

Hans-Peter pflanzt sich vor den Deichkater. Da der Junge keinen Vater hat, meint wohl der Hausherr, dass er den Platz des Erziehers einnehmen müsse; er fühlt sich hierzu als der Älteste der männlichen von Steinbergs geradezu berufen. „Du Faulpelz bist heute nicht bei der Arbeit erschienen! Hauke Holm hat sich bei mir beschwert.“ Er verschränkt seine Arme. „Glaubst du nicht, dass es langsam Zeit wird, dass du zur Vernunft kommst?“

Johann öffnet die Augen: „Ach, mein lieber Gott!“

Ewald schreitet weiter im Zimmer auf und ab, wie ein Raubtier im Käfig.

Heiko lächelt herablassend. (Er zieht eine Fratze wie der Teufel, denkt Clarissa.) Kaltschnäuzig blickt er in Hans-Peters Augen: „Faulpelz? Arbeiten? Aber ich tue doch genau das Gleiche wie ihr alle! Überhaupt, ich habe bisher niemals jemanden von euch arbeiten sehen. Für diese gesamte Abteilung herrscht wohl ständig Ruhepause, was?“

Er lässt das gleiche mokierende, kurze Gelächter los wie in seiner Kindheit.

Hans-Peter tritt nervös von einem Bein auf das andere. Seine Frau sieht ihn vorwurfsvoll an, als ob sie ihm sagen wolle: „Hans-Peter, warum lässt du nicht von dem Jungen ab? Er ist doch nicht dein Sohn!“

Heiko greift nach einem weiteren Keks, bricht ein Stück davon ab, wirft es in die Luft und fängt es mit dem Mund auf.

„Du ungezogener Flegel!“, brüllt Hans-Peter.

„Mit deiner viel gerühmten, guten Erziehung hast du doch auch nicht viel erreicht, nicht wahr?“, kontert Heiko wie aus der Pistole geschossen, indem er aufsteht, sich ihm gegenüber aufstellt und ihm scharf in die Augen blickt.

Hans-Peter zittert, ballt seine Fäuste und explodiert: „Du verfluchter …!“ Er blickt auf die Frauen, dann aber wieder auf Heiko. Er kann das beleidigende Wort „Hurensohn“ gerade noch verschlucken, bevor es über seine Lippen kommt. Es verbleibt ihm ein bitterer Geschmack im Munde.

Verängstigt und erregt sitzt Clarissa in ihrer Ecke. Weshalb ist denn Heiko so? Warum provoziert er stets die Älteren? Immer rebellisch, seit seiner Kindheit. Wie schön wäre es, wenn Heiko vernünftig wäre. Eigentlich sieht er doch nicht hässlich aus, er hat ein männliches, charaktervolles Gesicht, ist groß gewachsen, gewandt …

„Streitet euch nicht, Kinder!“, versucht Tante Alexandra zu schlichten.

Hans-Peter macht auf seinen Absätzen kehrt, geht zum Fenster, öffnet es und holt tief Luft. Ewald greift nach seinem Hut und verlässt wortlos den Raum.

„Ach, mein lieber Gott!“, gibt Johann mit schläfriger Stimme von sich.

Von dem Streit angelockt, stehen Hein und Tante Therese wortlos und verängstigt in der Tür zum Salon.

Hans-Peter kehrt an den Tisch zurück und setzt sich an das Kopfende. Er breitet seine Arme auf der Tischdecke aus und sagt, auf Heiko deutend: „Hätte der alte Oliver von Steinberg diesen Taugenichts noch erlebt, dann wäre er sicherlich vor Kummer gestorben.“

Ungerührt fixiert Heiko die Zimmerdecke.

„Ich weiß, ich weiß, für euch bin ich das schwarze Schaf der Familie …“, mokiert er sich.

„Du bist der Schandfleck der Familie!“, krächzt Johann mit matter Stimme, der die Überzeugung fehlt.

„Lasst doch den armen Jungen endlich in Ruhe!“, gebietet Tante Alexandra.

Der Deichkater pfeift leise vor sich hin.

„Wo ist denn Ewald hingegangen?“

„Sicherlich dorthin, wo er sich sein Kokain besorgen kann.“

Aufruhr!

„Heiko! Das ist aber eine geschmacklose Respektlosigkeit!“, zürnt Hans-Peter und sieht ihn wütend an.

„Es ist keine Respektlosigkeit, es ist einfach die Wahrheit! Ihr wisst doch genauso gut wie ich, dass Onkel Ewald seit seiner Verschüttung im Krieg nicht mehr ohne dieses Zeug leben kann. Oder wollt ihr es einfach nicht wissen?“

„Junge!“, ruft Frau Annette ihm vorwurfsvoll zu und blickt erschrocken zu Tante Alexandra, die, ohne etwas verstanden zu haben, ruhig lächelt.

Clarissa mustert ihren Vetter Heiko. Sogar sein Name klingt hart, er hört sich wie ein Peitschenhieb an: Heiko! – Etwas Wendiges, Raues, Schroffes. Sie denkt verängstigt an jenen Tag zurück, an dem er sie in den Keller einsperrte, und an die Panik, die sie vor dem Ungeziefer ausgestanden hatte. Seit diesem Tage fürchtete sie sich vor diesem Verrückten … Seitdem war die Zeit vergangen, beide waren älter geworden, jeder auf seine Weise, fast ohne einen Kontakt miteinander zu pflegen. Und jetzt steht Heiko auf einmal wieder da, ein ganzer Mann, allerdings mit einem sonderbaren, fremdartigen Gesichtsausdruck, mit Manieren, die ganz anders als die üblichen sind – herb, lässig, provozierend, aggressiv, unerzogen –, aber eben seine eigenen, niemand anderem ähnlich.

Clarissa sieht Heiko direkt ins Gesicht und vermag nicht zu entscheiden, was sie genau für ihn empfindet: Sympathie oder Hass. Hass? Was für ein hochtrabendes Wort!

Heiko schlägt vor: „Großmama, lass uns bitte jetzt gehen, ja?“

Johann steht schwerfällig auf: „Ein sehr guter Vorschlag, ich habe einen riesigen Durst!“

Hein erscheint in der Tür: „Gute Nacht euch allen!“

Seit zwölf Jahren wiederholt er allabendlich, pünktlich um zehn Uhr, diese Worte.

Hans-Peter und Frau Annette küssen Tante Alexandra. Sie verlässt das Haus, auf Heikos Arm gestützt. Johann folgt ihnen mit schweren Schritten bis zur nächsten Straßenecke. Dann schlägt er eilig die Richtung zu seiner Stammkneipe ein.

Tante Therese verabschiedet sich von ihrem Verlobten und zieht sich anschließend in ihr Zimmer zurück. Hans-Peter, seine Frau und die Tochter verbleiben im Esszimmer. Der Papa hadert mit dem Zeitgeist: „Es ist doch unglaublich, dass die heutige Jugend keinen Respekt mehr vor dem Alter hat. Tradition bedeutet ihr überhaupt nichts mehr! Was soll aus dieser Welt noch einmal werden? Alles hat sich verändert.“ Pause. „Clarissa!“

Ach, dass man sich meiner überhaupt noch erinnert! „Ja, Papa?“

„Wie hieß noch jener bekannte Schriftsteller, der einmal sagte, dass die Jugend die Alten nicht verstehen kann und die Alten die Jungen nicht verstehen möchten?“

Clarissa denkt kurz nach. „Tut mir leid, Papa, der Name fällt mir gerade nicht ein.“

„Macht nichts. Jener Herr Schriftsteller, wie er auch heißen mag, irrt gewaltig. Die Jugend kann, aber möchte nicht verstehen. Die junge Generation ist viel zu haltlos, sie ist verloren! Ich verabscheue diese Modernismen. Und ich wünsche nicht, dass mein Fräulein Tochter mit solchen Individuen Umgang hat! Habe ich mich wohl deutlich genug ausgedrückt?“ Der Unterton in seiner Stimme enthält eine unverhüllte Drohung.

„Ist schon gut, Hans-Peter“, besänftigt ihn Frau Annette. „Schimpf nicht mit Clarissa, sie kann doch nichts für Heikos flegelhaftes Benehmen.“

Clarissa, gekränkt, senkt ihre Augen auf das Buch. Ihr Poet sagt: „Im Grunde existiert nur diese traurige Wahrheit: Wir alle leben in Einsamkeit.“

Frau Annette und ihr Gatte verlassen das Esszimmer. Clarissa schließt das Buch und geht hinauf in ihr Zimmer. Sie tritt ans Fenster und öffnet es. Ein heller Halbmond erleuchtet die klare Nacht. Aus der Ferne erklingt leise Musik.

Ohne zu wissen warum, verspürt sie auf einmal ein unwiderstehliches Gefühl, weinen zu müssen.

Leise Musik aus der Ferne

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