Читать книгу Crescendo bis Fortissimo - Manfred Eisner - Страница 10
3. Crescendo1
Оглавление„Heil Hitler!“
Der mittelgroße, schlanke Mann mit blassem Gesicht und traurigem Ausdruck in den braunen Augen fährt mit einer knochigen Hand durch das schüttere Haar. Von seinem Schreibtisch aus blickt er mit Sorge und verunsichert auf die hünenhafte, in der braunen Parteiuniform gekleidete Gestalt, die sich am Türrahmen seines Arbeitszimmers zeigt und deren rechter Arm stramm in die Höhe ragt.
Mit der schwachen Andeutung eines „deutschen Gegengrußes“ und ein hastig heruntergemurmeltes „...tler!“ steht er rasch auf und geht auf den Besucher zu. „Treten Sie doch näher, Herr Ortsgruppenleiter. Was verschafft mir die Ehre?“
„Na ja, Herr Dr. Struwe, da ist etwas von besonderer Wichtigkeit, über das ich meine, mit Ihnen sprechen zu müssen.“
Dr. Struwe schluckt. Er ist nach dieser Eröffnung nicht gerade beruhigt. Unsicher blickt er in das großflächige Gesicht mit der hohen Stirn und den eiskalten, glasig blauen Augen, die ihn durch die runden Gläser, die von einer sehr dünnen, schwarzen Brillenfassung gehalten werden, höhnisch ansehen.
„Ist es etwas Privates oder bin ich in meiner Eigenschaft als Amtsrichter gefragt?“
„Nun, lieber Struwe, kein Grund zur Besorgnis“, versichert ihm der Besucher mit einem schwach angedeuteten Lächeln. „Gewissermaßen trifft wohl beides zu. Können wir uns nicht setzen?“
„Aber selbstverständlich, Herr Straßner. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht schon gleich einen Stuhl angeboten habe. Ich ...“
„Aber warum denn so förmlich, lieber Struwe. Wir sind doch Freunde und Parteigenossen. Nun machen Sie sich bloß keine Sorgen, ich meine wegen meines unangemeldeten Erscheinens. Ich wollte nur mit Ihnen einige Gedanken austauschen, das ist alles.“
Die beiden Männer sind hinüber zum Schreibtisch gegangen und sitzen sich jetzt gegenüber.
„Nun gut. Worum handelt es sich?“
„Sie müssen mich über einige Einzelheiten aufklären, mein lieber Struwe, bevor ich Ihnen alles erzähle. Sie kennen doch – oder besser, so habe ich mir sagen lassen, Sie kannten – eine gewisse Frau Clarissa Keller, damals ein Fräulein von Steinberg, nicht wahr?“
Das blasse Gesicht des Amtsrichters wird noch blasser. Seine Haut wirkt fast durchsichtig und es bilden sich Schweißperlen an seinem Haaransatz.
„Ja, Herr Straßner, gewissermaßen stimmt es. Aber was ...?“ „Nur Geduld, mein Lieber, haben Sie doch noch etwas Geduld. Wie gut kannten Sie diese Dame?“
Willibald Struwe schluckt abermals. Gute Frage. Wie gut kannte er Clarissa von Steinberg wirklich? Er war in dieses bildhübsche junge Mädchen sehr verliebt gewesen. Er hatte Clarissa den Hof gemacht, hatte mit allen Mitteln versucht, ihr seine Liebe zu erklären. Aber nie war er so richtig an sie herangekommen. Immer wieder war in ihm das Gefühl aufgekommen, dass sie ihn nicht für voll nahm und sich sogar über ihn lustig machte. Sicher, sie hatten bei den Tanzvergnügen im Colosseum öfter miteinander getanzt und sich angeregt unterhalten. Einmal, daran kann er sich noch genau erinnern, hatte er bei einer dieser Gelegenheiten sogar das sichere Gefühl verspürt, dass er nun endlich fast am Ziel seiner Wünsche angelangt sei. Und kurz darauf, als er erfuhr, dass Clarissa und ihr ungehobelter Vetter sich verlobt hatten, traf ihn diese Nachricht, als ob man ihm mit einem riesigen Holzprügel auf den Schädel geschlagen hätte. Wie konnte sich nur seine edle Clarissa in diesen wilden und unkultivierten Mann verliebt haben? Wie war es möglich, dass sie diesem Nichts von Heiko ihm, dem Amtsrichter von Oldenmoor, vorgezogen hatte? Ihre Entscheidung war ihm völlig unerklärlich. Er hatte sogar versucht, sich mit ihr zu treffen, um eine Begründung für ihr Verhalten zu erbitten. Einmal hatte er sie am Markt gesehen, als sie im Begriff war, das Café Petersen zu betreten. Er folgte ihr, schlich sich aber eilends davon, als er sah, dass sie sich an den Tisch zu Heiko Keller setzte. Da gab er endlich auf. Er wurde sogar krank und ließ sich für einige Wochen vom Dienst beurlauben. Er hatte diesen Verlust und die Verletzung seiner Gefühle bis zum heutigen Tage nicht überwinden können. So manches Mal befielen ihn wilde Träume, in denen er seinen Nebenbuhler im wütenden Kampf besiegte und die untreue Geliebte aus seinen Fängen befreite.
Die kalte Stimme des Ortsgruppenleiters holt Dr. Struwe in die Gegenwart zurück: „Ich hatte Sie gefragt, wie gut Sie diese Dame kannten!“
„Nun ja ... Ich habe ihr vor einigen Jahren den Hof gemacht und sie gelegentlich getroffen. Wir tanzten, unterhielten uns ... Eben wie das so ist, wenn man einer jungen Dame den Hof macht.“
„Aber, um es klar und deutlich zu sagen, sie hat Ihnen einen Korb gegeben und diesen Keller, Heiko Keller, geheiratet, nicht wahr?“
Durch die brutale Offenbarung dieser Wahrheit gedemütigt, blickt Dr. Struwe betroffen auf den großen Tintenfleck auf seiner Schreibunterlage. Er bleibt stumm und nickt.
„Dieser Keller ist doch ein Vetter von ihr, oder?“
„Tja, ein Großvetter. Soweit ich mich erinnere, war seine Mutter eine Cousine von Clarissas Vater, Hans-Peter von Steinberg.“
„Und Kellers Vater? Wissen Sie irgendetwas über dessen Vater?“
„Ich habe einmal munkeln gehört, dass er ein Bohemien war, so ein dahergelaufener Kunstmaler. Ich glaube kaum, dass es bekannt sein dürfte, woher er kam. Er hat damals jenes Fräulein von Aulendorf gegen den Willen der Familie geheiratet.“
„Elisabeth, wenn ich richtig informiert bin?“
„Ihr Name war mir nicht geläufig, sie kann durchaus Elisabeth geheißen haben. Nun gut, er heiratete sie und nach einiger Zeit zogen sie fort aus Oldenmoor, ich glaube nach Kiel. Später erzählte man sich, dass Frau Kellers Mutter sie und ihren Sohn zurück nach Oldenmoor holte, als der Maler seine Familie verlassen hatte. Nach einigen Jahren nahm sich ... ach ja, Elisabeth ... Elisabeth nahm sich das Leben. Der Junge wuchs bei den von Steinbergs auf.“
„Ja, ja, so ähnlich habe ich diese Geschichte auch schon gehört. Aber mich interessiert vor allem der Vater dieses Heiko Keller. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?“
Dr. Struwe denkt angestrengt nach. „Nein. Aber man könnte ja mal in seinen Heiratsakten nachsehen, woher er stammt, vielleicht würde das helfen.“
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, das ist keine schlechte Idee.“
„Darf ich fragen, warum Sie sich so sehr für diesen Mann interessieren?“
„Also gut. Ich hatte Ihnen ja versprochen, diese Angelegenheit zu erläutern. Sie kennen doch die Großbäckerei dieses widerlichen Polacken Rembowski. Heiko Keller ist dort anscheinend leitender Angestellter oder sogar Geschäftsführer.“
Dr. Struwe stimmt nickend zu.
„Die neuen Gesetze, die der Führer zum Schutze des deutschen Volkes erlassen hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Sie sind sicher mit mir einer Meinung, dass demzufolge ein für Oldenmoor so wichtiges Unternehmen wie diese Bäckerei unmittelbar in reine, deutsche Hände zu überführen ist und nicht weiter von einem dieser Untermenschen geführt werden darf. Da die Bäckerei andererseits voll funktionsfähig gehalten werden muss – das Stopfen vieler Münder hängt davon ab –, dachte ich daran, das Ganze in die Hände dieses Heiko Keller zu legen, der ein recht tüchtiges Bürschlein zu sein scheint. Jedoch ...“
Dr. Struwe fühlt in seinem Inneren das Aufkommen einer heimlichen Schadenfreude. „Ach so, Herr Ortsgruppenleiter, ich glaube zu verstehen. Sie hegen ernsthafte Zweifel an der rein arischen Herkunft dieses Heiko Keller?“
„Wohl, wohl, lieber Struwe. Auch das. Außerdem fällt unangenehm auf, dass er bisher nicht in die Partei eingetreten ist, obwohl ich ihn persönlich mehrmals dazu aufgefordert habe. Eine derart wichtige Funktion könnte selbstverständlich nur einer vollends vertrauenswürdigen Person übertragen werden.“
„Gut, Herr Ortsgruppenleiter. Ich werde meine Nachforschungen anstellen und Ihnen alsbald berichten.“
Nach erneutem Austausch der üblichen Grußformeln trennen sich die beiden Männer.
Als der Besucher fort ist, eilt Dr. Willibald Struwe mit beschwingtem Gang an ein Wandschränkchen und entnimmt ihm einen größeren Schlüssel. Mit diesem in der Hand geht er hämisch grinsend in Richtung Aktenkeller.
* * *
Silke kniet vor dem großen Regal in Heikos Arbeitszimmer und staubt die zahlreichen Bücher ab. Sie entnimmt jeweils einen Band und stellt ihn nach der Reinigung sorgfältig an seinen Platz zurück, bevor sie den nächsten reinigt. Ab und zu öffnet sie das eine oder andere Buch, blättert darin und legt es kopfschüttelnd zurück. Die verschiedenen Werke Tucholskys, Erich Mühsams, Remarques, Kellermanns und vor allem „Das Kapital“ von Karl Marx entgehen neben den zahlreichen Büchern in verschiedenen Fremdsprachen nicht ihrer Aufmerksamkeit.
Als das Hausmädchen seine Arbeit nach eineinhalb Stunden beendet hat, bleibt es für einige Augenblicke unentschlossen vor dem Regal stehen. Es geht an den Schreibtisch, entnimmt ein Blatt Papier aus einer Schreibmappe und einen Bleistift aus einem runden Topf. Danach geht Silke an das Regal zurück und beginnt jene Bücher aufzulisten, die ihr besonders aufgefallen sind.
Sie ist derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht bemerkt, wie sich hinter ihr die Tür öffnet und Clarissa im Türrahmen erscheint. Clarissa verharrt wie versteinert, als sie diese Szene wahrnimmt. Nach einigen Sekunden schließt sie sehr behutsam und leise die Tür. Sie ist unbemerkt geblieben.
Nachdem Silke die Auflistung vervollständigt hat, faltet sie das beschriebene Blatt Papier sorgfältig zusammen und versteckt es unter dem Kittel in ihrer Bluse. Sie legt den Bleistift an seinen Platz zurück und verlässt eilig das Arbeitszimmer.
* * *
„Ich mache mir große Sorgen, Annette.“
Während er diese Worte zu seiner Frau spricht, geht Hans-Peter von Steinberg im Esszimmer des Herrenhauses unruhig auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Der gut gekleidete, grau melierte Mittfünfziger mit den buschigen Augenbrauen macht ein sorgenvolles Gesicht.
„Weshalb, Hans-Peter? Was hast du?“
„Man hat heute in aller Herrgottsfrühe Friedrich Winkler, den Redakteur des Couriers, verhaftet.“
„Wieso, Hans-Peter, was hat er denn verbrochen?“
„Man weiß nichts Genaues. Alles nur Mutmaßungen. Ich habe es heute Vormittag von Detlef Bartels, dem Referendar in der Anwaltskanzlei von Dr. Looft, erfahren. Winklers Frau rief gegen neun Uhr sehr aufgeregt in der Kanzlei an. Zwei Männer der Geheimen Staatspolizei seien extra aus Berlin eingetroffen und hätten ihren Mann um sechs Uhr morgens geradewegs aus dem Bett verhaftet und mit unbekanntem Ziel mitgenommen. Bartels rief daraufhin Dr. Looft zu Hause an. Dieser machte sich sofort auf den Weg zu Frau Winkler, um Näheres zu erfahren. Viel soll dabei nicht herausgekommen sein. Nur dass man seine Papiere durchwühlt und verschiedene Bücher aus seiner Bibliothek konfisziert habe – mit der Bemerkung, es handele sich bei diesen um staatsfeindliche Werke. Als Winkler von den beiden Männern Aufklärung über den Grund seiner Verhaftung erbat, schlugen sie ihn brutal zusammen. Der eine brüllte: ‚Das wirst du noch früh genug erfahren, du verräterische Sau!‘ Und der Frau riet man, unbedingt zu schweigen, wenn ihr daran gelegen sei, ihren Mann wiederzusehen. Was sind das bloß für Zeiten, mein Gott!“
„Und was ist danach geschehen?“, murmelt Frau Annette sehr leise, ergriffen von der Schilderung ihres Gatten. Sie ist eine gutmütig anmutende, vollschlanke Frauengestalt und mit jener klassischen Schönheit gesegnet, der das wahre Alter kaum anzusehen ist.
Hans-Peter setzt sich in den Sessel am großen Eichentisch und erzählt: „Dr. Looft rief bei der hiesigen Polizei an. Zunächst tat man so, als ob man von der ganzen Angelegenheit nichts wisse. Als er später mit einem der Polizisten unter vier Augen sprach, gab dieser zu, etwas gehört zu haben – ganz inoffiziell, versteht sich. Ortsgruppenleiter Straßner hatte sich an einem Kommentar Winklers zu den Rassengesetzen im Courier gestoßen und sich daraufhin schriftlich an das Reichspropagandaministerium gerichtet, um bei Dr. Goebbels persönlich Beschwerde gegen Winkler einzulegen. Wahrscheinlich haben sie ihn deswegen abgeholt. Der Courier musste vorübergehend sein Erscheinen einstellen.“
Hans-Peter macht eine Pause. Er sieht seine Frau mit feuchten Augen an.
„Annette, ich beginne zu ahnen, dass ich – nein, wir alle – einen schwerwiegenden Denkfehler begangen habe, für den wir noch bitter bezahlen werden. Ich gebe zu, ich habe damals den Tag herbeigesehnt, an dem hier jemand an die Regierung kommt, der endlich wieder einmal für Recht und Ordnung sorgt, der jenem widerlichen und sinnlosen politischen Hin-und-her-Gerangel der Weimarer Republik ein Ende setzt. Ja, ich gebe auch zu, dass ich damals in Adolf Hitler jenen Mann sah, der dies schaffen könnte, und dass ich deswegen bei jeder Wahl meine Stimme für ihn abgegeben habe.“
Nach einer kurzen Denkpause fährt Hans-Peter fort: „Ich erinnere mich an die wütende Diskussion, die Heiko und ich am Tage der Machtergreifung führten, weil er mein Handeln wahnsinnig und verantwortungslos nannte. Heute muss ich kleinlaut zugeben, dass Heiko wahrscheinlich recht hatte. Er hat damals so ziemlich genau das vorausgesagt, was wir alle heute erdulden müssen: die totale und gnadenlose Unterwerfung eines jeden Menschen. Der Preis, der uns für solch eine Friedhofsordnung und für dieses Unrecht einmal in Rechnung gestellt werden wird, wird ungeheuerlich sein. Und das Schlimmste ist – und auch da muss ich Heiko heute recht geben –, dass kaum jemand gemerkt hat, wie ahnungslos das deutsche Volk in sein düsteres Schicksal hineingeschlittert ist. Da stehen sie bei jeder Gelegenheit und jubeln fanatisch jenen zu, die sie ins Verderben führen. Am Anfang habe auch ich mitgejubelt. Heute ist mir das Jubeln gründlich vergangen und mir wird jedes Mal schlecht, wenn diese Massenhysterie ausbricht. Die Wenigen, die noch klar denken und die bittere Wahrheit durchschauen und noch dazu den Mut aufbringen, laut zu warnen, werden als Volksschädlinge erbarmungslos beseitigt. Nach der damaligen Auseinandersetzung mit Heiko habe ich mir die Mühe gemacht, Hitlers ‚Mein Kampf‘ sehr aufmerksam zu lesen. Wenn der das alles in die Tat umsetzt, was er sich vorgenommen und darin niedergeschrieben hat, dann gnade uns Gott!“
„Konnte denn Dr. Looft nichts ausrichten?“, fragt Frau Annette ihren Mann.
„Detlef Bartels sagte mir, er habe gehört, wie Dr. Looft zunächst mit der Reichsanwaltskammer in Berlin telefoniert habe, um sich beraten zu lassen. Annette, begreif doch, hier hat jeder Angst, es herrscht der reinste Terror! Wenn irgendjemand etwas Falsches tut oder sagt, blüht ihm das Gleiche. Auch wir müssen jetzt verdammt vorsichtig sein!“
Pause.
„Nein. Kurzum: Dr. Looft kann für Friedrich Winkler so gut wie nichts tun. Es heißt, er befände sich in Schutzhaft. Die deutsche Volksgemeinschaft sei vor diesen Volksschädlingen zu schützen. Dies hat man ihm klipp und klar aus Berlin mitgeteilt. Ein solcher Fall bewege sich zunächst ‚außerhalb des Rechtsweges‘. Erst wenn Anklage erhoben werden sollte, hätte der Angeklagte ein Recht auf Verteidigung. Davor stünde ihm keinerlei Rechtsbeistand zu.“
„Und was wird jetzt aus der armen Frau Winkler? Können wir ihr nicht irgendwie helfen?“
„Um Gottes willen, Weib, halt an dich! Habe ich nicht soeben gesagt, dass wir von nun an sehr vorsichtig sein müssen?“
„Aber Hans-Peter, mach dich doch nicht lächerlich! Es wird wohl noch erlaubt sein, einer alleinstehenden Frau behilflich zu sein!“
„Du verkennst die Lage, meine Liebe. Nicht wenn diese Frau die Ehefrau eines Mannes ist, der unter schwerstem Verdacht steht, ein schlimmes Vergehen gegen diesen Staat begangen zu haben.“
Hilflos stützt Hans-Peter seinen Kopf mit beiden Händen. „Du hast recht, Annette. Sieh dir nur an, auch ich bin schon in Schweiß gebadet, nur bei dem bloßen Gedanken, dieser armen Frau beistehen zu wollen. Aber wir müssen äußerst vorsichtig sein, es hat wirklich keinen Sinn, sich unnötig in Gefahr zu bringen.“
Frau Annette nickt zustimmend.
„Wir müssen unbedingt mit Clarissa sprechen. Sie muss ernsthaft mit Heiko reden. Dieser Trotzkopf wird sich mit seinen offenen Meinungsäußerungen noch fürchterlich den Schnabel verbrennen. Wenn er schon nicht an sich denkt, so muss er es wenigstens für seine Frau und seine Kinder tun.“
„Ja, Annette, stimmt. Ich hatte auch schon daran gedacht. Und ich tue es noch heute, ohne Aufschub. Morgen könnte es schon zu spät sein. Wie bei diesem bedauernswerten Friedrich Winkler.“
* * *
Die beiden jungen Frauen gehen schweigend nebeneinander her. Die eine ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt einen großen Asternstrauß in der Hand. Die Begleiterin, deren Gesicht der schwarz gekleideten Frau zum Verwechseln ähnlich sieht, trägt ebenfalls dunkle Kleidung. Am Friedhof angelangt, öffnet diese das eiserne Tor, über dessen Bogen die Inschrift ‚Ehre den Helden des Vaterlandes‘ ins Auge fällt, und lässt der Schwester den Vortritt.
„Geh du voraus, Gesche.“
Die beiden Frauen gehen wortlos an den zahlreichen Gräbern vorüber, bis sie an ihrem Ziel angelangt sind: das durch eine grüne Hecke eingefriedete Familiengrab der Carstens. Dort befindet sich ein mächtiger, geschliffener, schwarzer Marmorstein, auf dem zu lesen ist:
Siegfried Thode
* 30. Januar 1908
† 11. September 1932
Gesche Thode legt den mitgebrachten Blumenstrauß auf die schwarze Grabplatte. Tränen überströmen das rundliche Gesicht mit den geröteten Wangen und der kleinen, knolligen Nase.
Zwillingsschwester Gesine nimmt sie liebevoll in ihre Arme und versucht sie zu trösten, indem sie ihr zärtlich über das Haar streicht.
„Wwwwwarum mmmmussste denn ausggggerechnet Ssssiegfried stststerben?“, stottert Gesche mit verzweifelter Stimme. „Er wwwar sssso gut zzzu mmmmmir, ich ffffinde dddoch nnnnnie wwwwieder s... sss...“
„Beruhige dich doch, Gesche. Ganz ruhig, meine Liebe, ganz ruhig.“ Während Gesine versucht, ihre Schwester zu trösten, laufen vor ihren Augen die Ereignisse aus dem Jahre 1932 wie ein Film ab.
Gesche Carstens und Siegfried Thode hatten sich 1930 während eines Sommerurlaubs in Saßnitz auf der Insel Rügen kennengelernt. Siegfried stammte von einem Bauernhof in Dithmarschen und war der jüngste Sohn der Familie Thode. Da Gesches früh verwitwete Mutter, die Witwe Carstens, in der Nähe Oldenmoors ein großes Gut, den Uhlenhof, besaß und zudem keine männliche Nachkommenschaft hatte, war die Familie über diese Freundschaft und die daraus entstandene Verlobung hocherfreut. Gesche und Siegfried heirateten kurz nach der Bekanntgabe der Verlobung von Heiko und Clarissa – Gesches und Gesines enge Freunde aus der Kindheit. Clarissa und Rollo, der ebenfalls einer der Spielgefährten und damals schon Gefreiter des Heeres gewesen war, waren die Trauzeugen. Drei Tage lang feierten über zweihundert Gäste und Familienangehörige auf dem Uhlenhof die Vermählung des Paares, das nach der Trauung nach Saßnitz in die Flitterwochen fuhr.
Einige Monate nach der Hochzeit ließ sich Siegfried von Knut Eggers, dem Gutsherrn des benachbarten Holstenhofes, dazu überreden, in die SA einzutreten. Dies hatte eine merkliche Abkühlung der Freundschaft zu Heiko und Clarissa zur Folge, sodass man sich danach aus dem Wege ging. Siegfried engagierte sich zunehmend in der SA und nahm oft an deren Versammlungen teil sowie an den kämpferischen Einsätzen und Auseinandersetzung vor allem mit KPD- und SPD-Anhängern. So geschah es, dass Siegfried bei einem Anschlag auf ein Versammlungslokal der KPD in Brunsbüttel im September 1932 durch das unvorsichtige Hantieren eines seiner SA-Kameraden mit Sprengstoff ums Leben kam.
Gesche war damals im vierten Monat schwanger und der grausame Tod ihres Mannes verursachte eine schwerwiegende Fehlgeburt, an deren Folgen sie beinahe selbst gestorben wäre. Sie erholte sich nur sehr langsam und lebt seit damals zurückgezogen auf dem Uhlenhof. Lediglich ihre Schwester, Gesine, bekommt man gelegentlich in Oldenmoor zu Gesicht.
Von der Wärme und dem Streicheln ihrer Schwester etwas beruhigt, hört Gesche auf zu weinen und trocknet ihre Tränen mit einem Taschentuch. Lächelnd nickt Gesine ihr zu. Die Zwillingsschwestern haken sich ein und gehen gemächlich durch das Friedhofsportal.
Plötzlich bleibt Gesche stehen und sagt zu Gesine: „Wwwwweißt du, an wwwwwwaaaas ich dddenke?“
„Nein, Gesche, an was denn?“
„Wwwas mmeinst du, wwwwennn wir Cl...?“
„Du meinst, wir sollten Clarissa besuchen? Meinst du wirklich? Hast du dir das auch gut überlegt?“
Gesche nickt heftig mit dem Kopf.
„Gut, wenn du es willst. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns nach alledem mit Freude empfängt. Du weißt ja ...“
„Gggggehen wwwir gleich, ja?“ Gesche wirkt ungeduldig.
„Also einverstanden! Du magst recht haben. Es sind ja inzwischen einige Jahre vergangen!“
Mit neu gewonnener Freude machen sich die Zwillingsschwestern auf den Weg in Richtung „Onkel Suhls Haus“.