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4. Lieber Besuch

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Clarissa sitzt mit dem kleinen Oliver auf dem Boden und hilft ihm beim Bau einer Burg, die aus hölzernen Bauklötzen entstehen soll. Mit diebischem Lachen und lautem Freudengeschrei bringt Oliver von Zeit zu Zeit eine Wand zum Einsturz, indem er sehr geschickt einen Baustein mit dem kleinen Zeigefinger aus ihr herausdrückt.

Clarissa schüttelt dabei mit gespieltem Bedauern den Kopf, was die Belustigung und die Freudenausrufe des Buben noch steigert. Ab und zu steht Clarissa auf und geht in das Nebenzimmer, um nach der kleinen Elisabeth zu sehen, die sanft in ihrer Wiege schläft.

Das sich stets wiederholende Spiel mit ihrem Sohn vermag jedoch nicht, die ernsthaften Sorgen aus Clarissas Gedanken zu vertreiben. Ununterbrochen muss sie an das vor dem Bücherregal in Heikos Arbeitszimmer kniende Hausmädchen denken – und an die auf dem Boden liegende Bücherliste. Was hat das zu bedeuten? Werden sie bespitzelt? Weshalb? Von wem?

Wie oft hat sie Heiko schon gewarnt, er solle sich endlich dieser politischen Bücher entledigen. Wie kann man nur verhindern, dass diese Liste außer Haus gelangt? Wenn bloß Heiko rasch nach Hause kommt, denkt sie, damit wir beraten können, was nun zu tun ist!

In diesem Moment läutet die elektrische Klingel an der Haustür. Rasch erhebt sich Clarissa, sagt ihrem Sohn ein eiliges „Spiel nur weiter, Oliver, Mami kommt gleich wieder!“ und läuft geschwind die Treppe hinunter, um noch vor dem Hausmädchen an der Tür zu sein.

„Lassen Sie nur, Silke, ich gehe schon!“, ruft sie dem verwunderten Mädchen im Vorbeigehen zu, das sich, von der Waschküche kommend und seine Hände in der Schürze trocknend, gerade auf den Weg zur Haustür begeben wollte, um den Besuch hereinzulassen.

Mit großer Erleichterung erkennt Clarissa auf den matten Glasscheiben die Umrisse einer vertrauten Männergestalt. Ungeduldig öffnete sie die Haustür. „Oh, Papa!“, ruft Clarissa freudig und fällt mit Tränen in den Augen ihrem Vater in die offenen Arme. „Wie schön, dass du gerade jetzt gekommen bist!“

Äußerst überrascht von der Heftigkeit dieser Begrüßung umarmt Hans-Peter von Steinberg liebevoll seine Tochter.

„Komm doch herein, lass uns ins Wohnzimmer gehen. Trinkst du mit mir eine Tasse Tee?“ Sie hilft ihrem Vater aus dem Mantel und weist, ohne auf seine Antwort zu warten, Silke an: „Sie sind doch sicher bald fertig mit dem Waschen, Silke. Bitte bereiten Sie danach den Tee und servieren Sie ihn im Wohnzimmer.“

„Guten Tag, Herr von Steinberg. – Ich gehe sofort in die Küche, Frau Keller, und setze das Wasser für den Tee auf.“ „Guten Tag, Silke.“

Vater und Tochter gehen Arm in Arm durch die Diele in das Wohnzimmer.

„Wie geht es dir, mein Kind?“, fragt Hans-Peter mit besorgter Stimme. „Du hast doch etwas. Was ist los?“

Im Gehen nähert Clarissa ihr Gesicht dem ihres Vaters, lehnt sich an seine Schulter und flüstert ihm leise ins Ohr: „Nicht jetzt, Papa, nachher!“

Während es sich Hans-Peter in einem der großen Sessel gemütlich macht, setzt sich Clarissa auf das Sofa. Mit einem Mal spürt sie die Kälte im Raum. Sie steht auf und geht an den Kamin. „Es ist kühl hier. Ich zünde uns ein paar Holzscheite an.“ Sie entnimmt drei kleine weiße Alkoholpastillen aus einer Blechschachtel und legt sie unter das im Kamin gestapelte Holz. Von einem brennenden Streichholz springt rasch die Flamme auf die Pastillen über. Bald fängt auch das trockene Holz an zu brennen und rasch verbreitet sich wohlige Wärme im Wohnzimmer.

Um den Papa zu beruhigen, dem eine große Unruhe ins Gesicht geschrieben steht, macht Clarissa beschwichtigende Gesten, während sie die Zeit mit belangloser Konversation vertreibt.

Nachdem Silke mit dem Tablett hereingekommen ist und den Tee serviert hat, bittet Clarissa sie, nach oben zu gehen und auf die Kinder aufzupassen. Nach einigen Augenblicken schleicht sie sich vorsichtig hinaus, um sich zu vergewissern, dass die Deern tatsächlich in das obere Stockwerk gegangen ist. Als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrt, setzt sie sich auf die Sessellehne neben ihren Papa. Sehr leise erzählt sie ihm, wie sie Silke bei der heimlichen Auflistung der Bücher beobachtet habe.

Tiefe Sorgenfalten durchziehen Hans-Peters Stirn beim Zuhören. „Ach, mein Kind, gerade deswegen wollte ich heute mit euch sprechen.“ Und er erzählt Clarissa ausführlich von dem, was an diesem Morgen Friedrich Winkler widerfahren ist, und auch von seinem darauf folgenden Gespräch mit Clarissas Mutter.

Clarissa ist entsetzt. „Papa, das ist ja schrecklich! Was sollen wir nur tun? Ich weiß einfach nicht weiter. Ich habe solche Angst um Heiko. Er ist sowieso schon sehr wütend über dieses verwünschte Reichsbürgergesetz. Wie soll er nur die Herkunft seines Vaters nachweisen? Und jetzt werden wir auch noch im eigenen Haus bespitzelt. Was soll bloß aus uns werden?“

„Nun beruhige dich erst einmal, mein Kind. Nur keine Panik. Mit Angst im Herzen kann das Gehirn nicht kühl denken.“ Aber in seinem Inneren muss sich auch Hans-Peter eingestehen, dass er vollkommen ratlos ist.

In diesem Moment klingelt es wieder an der Haustür. Clarissa blickt verdutzt auf die Standuhr. Wie auf Befehl schlägt diese halb vier. Wer kann das sein? Um diese Zeit?

Clarissa springt auf und eilt an die Haustür. Die zwei weiblichen Umrisse auf den Glasscheiben sind ihr nicht geläufig. Oder doch?

Als sich die Tür öffnet, sehen sich die drei Frauen für einen Augenblick erstaunt und zunächst wortlos an. Dann fallen sie sich in die Arme.

„Gesche und Gesine. Welche Überraschung! Wie schön, euch nach so langer Zeit wiederzusehen! Kommt herein, kommt herein, der Papa ist auch gerade da.“

Während die beiden Besucherinnen ihre Mäntel ablegen, blickt Clarissa die Treppe hoch und sieht die oben stehende Silke, die gerade die kleine Elisabeth im Arm hält.

„Silke, bringen Sie bitte die Kinder herunter und machen Sie doch für meine beiden Freundinnen noch etwas Tee! – Kommt herein, ihr Lieben, kommt herein!“

Gesine und Gesche folgen Clarissa und sehen sich anerkennend im Hause um. Auch sie haben in ihrer Kindheit zusammen mit Heiko und Clarissa Onkel Suhl hier besucht und mit seinem sagenumwobenen Teleskop den Mond beobachten dürfen. Sie sind von den baulichen Veränderungen sehr angetan.

Im Wohnzimmer erhebt sich Hans-Peter und begrüßt herzlich die Sandkastenkameradinnen seiner Tochter, wie er sie scherzhaft nennt. „Wie schön, euch nach so langer Zeit wieder zu Gesicht zu bekommen, Gesche und Gesine. Wie geht es denn eurer lieben Frau Mutter?“

„Danke, Herr von Steinberg“, antwortet Gesine, „leider nicht so gut. Sie leidet sehr unter ihrem Rheuma und kann sich kaum noch bewegen.“

„Ja, ja, wir werden eben alle nicht jünger. Das Alter verlangt uns seinen Zoll ab.“

Hans-Peter denkt eine Weile nach, während sich die drei jungen Frauen angeregt unterhalten, um sich gegenseitig auf den derzeitigen Stand zu bringen. Dann sagt er, mitten hinein in eine Redepause: „Ich glaube mich erinnern zu können, dass gerade das Bürgerwehrfest stattfand – es muss im Februar 1931 gewesen sein –, als wir uns das letzte Mal sahen. Da haben wir alle gemeinsam im Herrenhaus gefeiert. Tja, damals lebte Onkel Suhl noch.“ Plötzlich verstummt er. Ihm fällt ein, dass er doch später noch bei Gesches Hochzeit im Uhlenhof zu Gast war. Dann blickt er betreten auf die schwarz gekleidete Gesche und schweigt. „Ssssie wwwwwaren dddddoch noch bbbei uuuuns-unserer Hoch...“

„Hochzeit, Herr von Steinberg“, eilt Gesine ihrer Schwester zu Hilfe.

„Ach ja, natürlich, ihr habt ja recht, das hatte ich tatsächlich total vergessen. Da seht ihr, wie das bei uns Alten ist. Bei eurer Mutter ist es das Rheuma, bei mir das Gedächtnis“, scherzt Hans-Peter erleichtert.

Durch die offene Tür kommt eine kleine Prozession herein: Angeführt von Oliver folgt Silke, die vorsichtig mit einer Hand einen Teewagen schiebt, während sie auf dem anderen Arm Elisabeth trägt.

Clarissa eilt dem Hausmädchen zu Hilfe. Sie nimmt ihm Elisabeth ab, sodass Silke den beiden Schwestern den Tee servieren kann. Oliver bemächtigt sich sofort des Schoßes seines Großvaters und kichert vergnügt, während er an dessen Schnurrbart zupft. Hans-Peter lässt ihn fröhlich gewähren, während er wie ein aufgebrachter Dackel grunzt und bellt. Oliver kann sich vor Lachen kaum auf dem Schoß halten, sodass ihn der Großvater vor dem Herunterfallen bewahren muss.

„Oliver, benimm dich! So darfst du doch nicht mit deinem Großpapa umspringen!“, versucht Clarissa lächelnd zu zürnen.

„Ach, lass ihn doch, Clarissa“, lacht der Papa belustigt. „Er ist so herzerfrischend!“

Ein Schatten fährt über Clarissas Gesicht. Wie recht du hast, lieber Papa, denkt sie. Wir haben in diesen Zeiten doch wirklich nicht viel, über das man lachen könnte. Unbewusst drückt sie ihr Baby fester an sich.

„Ddddarf ich ddddas Bb...?“ Gesches feuchte Augen blicken Clarissa bettelnd an.

„Aber natürlich, Gesche. Hier, Lissy, jetzt darfst du zur Tante Gesche auf den Arm.“

Hans-Peter erhebt sich von seinem Sessel und stellt Oliver vorsichtig auf die Füße. „So, junger Mann, und nun muss dein Großvater wieder nach Hause, denn sonst macht sich deine Großmama Sorgen um ihn.“ Freundlich schüttelt er Gesche und Gesine die Hände. „Meine herzlichsten Grüße und Wünsche zur raschen Genesung an Ihre Frau Mama.“ Mit einem Blick auf Clarissa ergänzt er: „Liebes, begleitest du mich noch an die Tür?“

„Aber selbstverständlich, Papa. – Ihr entschuldigt mich bitte einen Augenblick?“

Gesche und Gesine nickten.

Während Clarissa in der Diele dem Papa in den Mantel hilft, sagt dieser: „Schade, wir konnten unsere Unterhaltung nicht zu Ende führen. Es wäre aber sehr wichtig, darüber ausführlich zu sprechen. Komm doch mit Heiko heute Abend zu uns zum Tee. Sagen wir, so gegen neun Uhr, ja? Dann sind wir ungestört.“

„Sehr gut, Papa, ich rufe gleich Heiko im Büro an, damit er heute nicht allzu spät nach Hause kommt. Also, gegen neun bei euch! – Grüß mir herzlich die Mama!“, ruft sie ihrem Vater hinterher, der sich auf der Straße nochmals umdreht und mit einer übertriebenen Geste sowie einem Lächeln auf den Lippen den Hut sehr tief vor seiner Tochter zieht.

Ebenfalls lächelnd kehrt Clarissa zurück zu ihren Besucherinnen. Silke geht mit den beiden Kindern in das obere Stockwerk.

„Ddddddein Pppppappa ssssieht abbbber ss...“, stottert Gesche.

Gesine beendet ihren Satz: „Ja, dein Papa sieht sehr gut aus.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Weißt du, Clarissa, irgendwie habe ich mir früher immer vorgestellt, dass Hans-Peter von Steinberg auch mein Papa ist, weil ja unser Vater sehr früh gestorben ist und wir ihn nie richtig kennengelernt haben. Und da wir in unserer Kindheit fast ständig zusammen waren und uns öfter in eurem als in unserem Hause aufhielten, habe ich ihn immer als eine väterliche Figur betrachtet. Es ist eigenartig, vor einigen Tagen sprachen Gesche und ich davon. Sie hat es mir nie vorher gesagt, aber sie empfand dasselbe, stimmt’s, Gesche?“

Gesche nickt eifrig.

Clarissa ist von dieser Offenbarung ihrer Freundinnen sehr gerührt.

„Ja, sie waren wirklich schön, die Jahre unserer Kindheit. Sehr oft muss ich daran denken – an Heiko, natürlich auch an euch, an den Klumpfuß und an Rollo und Heide.“

„Hast du etwas von den anderen gehört?“, fragt Gesine. Wir leben ja so abgeschieden, dass wir kaum Kontakt mit der Außenwelt haben.“

„Nun ja, dass mein Deichkater – ich nenne ihn immer noch so, ihr braucht gar nicht so zu grinsen – beim Klumpfuß – ich meine, bei Josef Rembowski – in der Backwarenfabrik arbeitet, das wisst ihr sicher noch, oder?“

Die Zwillinge nicken.

„Kurz nachdem der alte Tadeusz Rembowski starb, hat Josef Heiko zum gleichberechtigten Geschäftsführer gemacht. Es ist kaum zu glauben, aber die beiden verstehen sich sehr gut. Obwohl ich ihn aus alter Gewohnheit immer noch ‚Klumpfuß‘ nenne – natürlich nur, wenn er es nicht hört –, muss ich zugeben, dass Josef in der letzten Zeit sehr viel selbstbewusster geworden ist und ihn sein krummer Fuß anscheinend nicht mehr deprimiert, wie wir es von früher kennen. Jedenfalls versucht er nicht mehr, den Fuß zu verbergen. Ich freue mich sehr für ihn. Heiko hat mir erzählt, dass Josef sich verliebt haben soll. Er kämpft jetzt mit sich selbst, um den Mut aufzubringen, sich seiner Erwählten zu erklären. Der Arme!“

„Wwwwer ist es dddddenn?“

„Ich weiß es leider nicht. Angeblich jemand aus der Umgebung Oldenmoors.“

„Iiiiich ggglaubbbbe, ich wwwee...“

„Was, Gesche, du weißt, wer es ist? Wieso? Erzähl schon!“ Gesine bedrängt derart ungeduldig ihre Schwester, dass diese vor Aufregung kaum noch ein Wort hervorbringen kann.

Dann erzählt Gesche mit Hilfe von Gesines Ergänzungen, dass sie von ihrem Hausmädchen erfahren habe, dass vor einiger Zeit häufiger ein hinkender Herr bei Frauke Eggers, Tochter des Gutsherrn, auf dem Holstenhof zu Besuch gewesen sei. Allerdings sei der alte Knut Eggers über diese Besuche nicht sehr erbaut gewesen und es habe deswegen einen ernsten Krach zwischen Vater und Tochter gegeben. Seitdem hätten auch keine Hausbesuche dieses Herrn auf dem Hof mehr stattgefunden. Gelegentlich ließe sich Frauke Eggers durch den Gutsverwalter, Olaf Lütjens, ausfahren. Man vermutet, dass sie den hinkenden Herrn irgendwo heimlich trifft.

Nachdem diese prickelnde Romanze von den drei Freundinnen bis ins Einzelne kolportiert und kommentiert worden ist, fragt Gesine: „Ist Rollo immer noch bei der Reichswehr? Und hast du etwas von Heide gehört?“

„Ja! Roland Claaßen ist jetzt Obergefreiter und immer noch bei seinem Infanterie-Regiment 46 in Neumünster. Aber den Rest der Geschichte, den werdet ihr mir bestimmt nicht glauben!“ Clarissa macht eine Pause, um die Spannung zu erhöhen.

„Eerzzzzz...“, beginnt Gesche aufgeregt und Gesine vervollständigt: „Nun sag schon, Clarissa. Was ist denn mit Heide?“

„Also gut. Wie ihr wisst, war Heide sehr krank und lebte unter äußerst ärmlichen Bedingungen mit ihren beiden Kindern im ‚Jammertal‘. Heiko und ich haben sie damals dort besucht und wir dachten, dass sie sterben würde, weil es ihr so schlecht ging. Als Heiko Onkel Suhls Vermögen erbte, ließ er Heide sofort nach Aukrug ins Sanatorium bringen. Die beiden Jungs wurden zunächst auch dort untergebracht, und zwar im Kinderheim. Man päppelte sie auf, weil sie vollkommen unterernährt waren. Heide blieb fast achtzehn Monate im Sanatorium und konnte danach erfreulicherweise vollständig geheilt entlassen werden.“

„Oh, dddasss iiissst abbbber wwwunddderbbbbar ...!“ Eine Träne rollt aus Gesches Auge.

„Da die Kinder nach Neumünster zur Schule mussten“, fährt Clarissa fort, „besorgte ihnen Rollo dort eine Pflegestelle. Er hat sich während der ganzen Zeit sehr intensiv um die beiden gekümmert. Als Heide entlassen wurde, stellten sie und Rollo überrascht fest, dass sie sich sehr mochten, und haben dann, nach einigen Monaten, kurz entschlossen geheiratet! Sie leben dort in einer kleinen Wohnung und sind gesund und zufrieden.“

„Wie schön für die beiden“, sagt Gesine, ebenfalls sichtlich bewegt.

„Nnnnnein, ffffür ddddie vvvvvvier!“, meint Gesche.

„Natürlich, Gesche, wie recht du hast. Rollo hat nämlich die beiden Jungen adoptiert. Heide schrieb mir vor etwa zwei Wochen. Sie wollen uns am zweiten Weihnachtstag besuchen. – Oh! Ich glaube, ich habe eine gute Idee: Was haltet ihr davon, wenn wir uns alle, die ganze Bande, am zweiten Weihnachtstag hier treffen?“

Mit glänzenden Augen wird Clarissas Vorschlag von den beiden Schwestern begeistert aufgenommen.

„Wie herrlich!“, seufzt Gesine. „Ich freue mich schon jetzt riesig darauf!“

„Und wie ist es euch in der letzten Zeit ergangen? Wir haben uns ja sehr lange nicht mehr gesehen“, sagt Clarissa nach einer kurzen Pause.

„Ssssag nnnur allllles, ddddu wwwweißt ...“, spricht Gesche ihre Schwester an.

„Nun, Clarissa, du weißt ja, unter welch tragischen Umständen Siegfried, Gesches Mann, ums Leben kam. Seit seinem Tode leben wir sehr zurückgezogen auf dem Uhlenhof. Die Mama hat einen Verwalter, Herrn Siemsen, eingestellt. Er kümmert sich um die gesamte Landwirtschaft. Zurzeit haben wir große Sorgen, dass die in der Marsch sich rasch verbreitende Maul- und Klauenseuche auch auf unseren Viehbestand übergreifen könnte. Das wäre sehr schlimm. Bei Eggers sollen auch schon einige Tiere erkrankt und notgeschlachtet worden sein. Es ist so schrecklich!“

„Ja, es ist wirklich schlimm! Letzte Woche las ich es im Courier.“ Bei der Erwähnung der Lokalzeitung befallen Clarissa plötzlich wieder düstere Gedanken und sie verfällt in Schweigen.

Nach einigen Augenblicken bricht Gesine die Stille, die lediglich durch das Ticken der Standuhr untermalt worden ist. „Ich habe es damals sehr bedauert, dass Heiko und Siegfried nicht miteinander auskamen. Es ist so schade, dass wir uns deswegen auseinandergelebt haben.“

„Ja, auch mir tat es furchtbar leid“, antwortet Clarissa. „Aber ihr kennt ja Heiko gut genug. Er hat nun einmal seine feste Meinung und es ist sehr schwer, ihn davon abzubringen. Ihre Grundeinstellungen waren zu konträr. Es war vielleicht auch besser so, es hätte sonst nur Streitereien gegeben.“ Clarissa seufzt.

„Wie kommt er denn jetzt zurecht? Mit der heutigen Lage, meine ich.“

„Ach, er vertieft sich in seine Arbeit. Damit hat er den Kopf voll genug. Er arbeitet von früh bis spät und kommt abends todmüde nach Hause. Trotzdem sind wir als Paar und mit unseren Kindern sehr glücklich!“

Gesche und Gesine blicken sich gegenseitig an.

„Wwwwir mmm...“, beginnt Gesche und Gesine vervollständigt den Satz: „... müssen jetzt wieder nach Hause. Herr Siemsen wartet sicher schon mit dem Automobil auf dem Marktplatz.“

Die drei jungen Frauen erheben sich und gehen gemeinsam zur Garderobe in der Diele.

„Also abgemacht? Ihr kommt am zweiten Weihnachtstag zum Mittagessen und bleibt dann bis zum Abend bei uns. Die anderen lade ich auch ein. Sagen wir, um halb eins, ja?“ „Vielen Dank, Clarissa, wir freuen uns schon bannig auf dieses Wiedersehen.“

Als Clarissa die Haustür öffnet, weht draußen ein kräftiger, eiskalter Wind. Liebevoll umarmt Clarissa ihre beiden Sandkastenfreundinnen und steht noch so lange in der Tür, bis sie mit einem letzten Winken um die Straßenecke verschwinden.

Nachdem sie die Haustür geschlossen hat, geht sie in Heikos Arbeitszimmer und lässt sich von der Dame im Telefonamt mit Heikos Büro in der Backwarenfabrik verbinden.

„Deichkater?“

„Hallo Prinzessin. Was gibt’s Neues?“

„Der Papa war vorhin hier. Wir müssen etwas sehr Wichtiges besprechen. Kommst du bitte heute mal früher nach Hause? Wir sollen nach dem Abendessen ins Herrenhaus zum Tee kommen. Bitte, Heiko“, fleht sie ihn an, „es ist sehr wichtig, verstehst du?“

„Was hast du denn, Liebes, was ist los?“ Heiko ist beunruhigt, als er die Eindringlichkeit in Clarissas Stimme wahrnimmt.

„Ach, mach dir nur keine Sorgen. Aber bitte, bitte, komm bald.“

„Gut, mein Schatz, ich verspreche es. Ich erledige hier noch rasch etwas sehr Wichtiges und komme dann sofort. Zufrieden?“

„Ja, Deichkater, ich liebe dich!“ Clarissa hängt auf. Sie verlässt, sehr nachdenklich auf das Bücherregal blickend, Heikos Arbeitszimmer und schließt die Tür. Danach geht sie in Elisabeths Zimmer, wo Silke gerade dabei ist, dem Baby die Windeln zu wechseln.

Crescendo bis Fortissimo

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