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2. Rückblende

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Clarissa betritt den kleineren Raum im Erdgeschoss – ihr eigenes Zimmer und Privatsphäre in diesem Hause. An den Wänden hängen die Bilder, die sie am meisten liebt. Bis auf eines sind sie alle von Heiko gemalt worden, lange bevor sie sich in ihn verliebt hat. Ein Bildnis zeigt Onkel Suhl, genauso portraitiert, wie ihn ihre Erinnerung festhält: ein verschmitztes Lächeln mit ironischem Blick, schneeweißes Haar, ein spitzes Bärtchen.

An der Wand gegenüber ein kleineres Bild mit schwarzem Rahmen. Es zeigt einen schönen, rötlichen Vogel, der in den blauen Himmel fliegt. Unten, auf der Erde, sitzt ein kleiner Junge im Schatten eines Baumes und beobachtet den Flug des Vogels. Am unteren Bildrand steht in schwarzer Schrift: „Neid“. Es war damals Heikos größte Sehnsucht, in die weite, weite Welt hinauszuziehen. Jedes Mal, wenn Clarissa dieses Bild betrachtet, muss sie vergnügt an jenen Tag denken, an dem der Deichkater ihr erklärt hat, dass ihn nur ein ganz bestimmtes Ereignis von diesem Entschluss abbringen könne. Ach, wie war sie doch damals noch naiv, nicht gleich zu verstehen, was er damit ausdrücken wollte!

Eine Miniatur, die in einem verkupferten Rahmen hängt, ist das einzige Andenken, das Heiko von seinem Vater besitzt: Clarissas heißgeliebte Sommerwiese vor ihrem Elternhaus, voller bunter Blumen, die von einer strahlenden Sonne am tiefblauen Himmel beschienen werden. Es heißt, dass Heikos Vater und Mutter sich kennenlernten, während dieses Bild entstand.

Nach ihrer Hochzeit mit Heiko zog Clarissa hierher. Kurz darauf schlug ihr Mann vor, ihr diesen Raum als Arbeitszimmer einzurichten. Damals war sie noch Lehrerin in der Schule in Oldenmoor und benötigte einen eigenen Platz, um ihren Unterricht vorzubereiten. Clarissa nahm beim Umzug außer dem Bett sämtliche Möbel aus ihrem Mädchenzimmer mit. Sie hing vor allem an ihrem kleinen Schreibtisch und genoss es, sich in ihr Reich zurückzuziehen, um in Ruhe zu schreiben oder zu lesen.

Als Sohn Oliver geboren wurde, gab Clarissa das Lehramt auf. Neben der liebenden Ehefrau entwickelte sie sich zu einer fürsorglichen Mutter und sehr gewissenhaften Hausfrau. Minutiös wurden sämtliche Ausgaben für den Haushalt in ihrem Rechnungsbuch festgehalten. Obwohl Clarissa, anders als vormals ihre Frau Mama, nach ihrer Heirat keineswegs dazu genötigt war, jeden Pfennig mehrmals umzudrehen, hatte sich die durch mancherlei widrige Umstände erzwungene Sparsamkeit der Frau Annette von Steinberg als eine Selbstverständlichkeit auf ihre Tochter übertragen.

Clarissa pflegte nach wie vor eine Gewohnheit, die sie schon in ihrer Jugendzeit lieb gewonnen hatte: Mit steter Regelmäßigkeit hielt sie mit ihrer schönen und ausgeprägten Handschrift wichtige Ereignisse in einem Tagebuch fest. Seit jenem unvergesslichen Tage vor vier Jahren, an dem sie, eilig dem Ruf ihrer Mutter folgend, unvorsichtigerweise das offene Tagebuch auf dem Schreibtisch liegen gelassen und damit Heiko Einsicht in ihre intimsten Empfindungen ermöglicht hatte, ging sie damit besonders sorgfältig um und hielt behutsam diesen Spiegel ihres Inneren stets unter Verschluss. Zudem blieb die Sammlung ihrer Tagebücher, bereits fünf an der Zahl, in einem geheimen Fach ihres Schreibtisches versteckt. Der französische Tischler, der vor mehr als hundertfünfzig Jahren dieses besondere Möbelstück konzipiert und gebaut hatte, musste ein wahrer Meister seines Metiers gewesen sein. Es war dem Tisch von keiner Seite her anzusehen, dass dieser ein verborgenes Fach enthielt.

Jedes Mal, wenn Clarissa nach einer Eintragung ihr Tagebuch verschloss und es in seinem Versteck wieder in Sicherheit brachte, erinnerte sie sich mit Freude an Heikos freche Neugier, hatte doch diese eine entscheidende Wende in ihrer gegenseitigen Beziehung ausgelöst: Die anfängliche tiefe Abneigung, die sie seit ihren Kinderjahren füreinander empfunden hatten, begann nach einer ersten Aussprache zu schwinden. Allmählich näherten sie sich einander an, bis schließlich Liebe daraus wurde.

Durch Betätigung eines in der mittleren Schublade verborgenen Hebels öffnet Clarissa das Geheimversteck im Schreibtisch und entnimmt daraus eines ihrer früheren Tagebücher. Sie setzt sich und beginnt in der Vergangenheit zu blättern.

Ich kann es immer noch nicht fassen! Wie kann eine junge Frau in meinem Alter (man kann doch von einer Lehrerin wirklich nicht mehr als „Mädchen“ sprechen!) noch so unbedarft und naiv sein! Ich habe lang, allzu lang, dazu gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich in Heiko verliebt bin. Eigentlich, liebes Tagebuch, habe ich dies schon seit längerer Zeit geahnt. Ich konnte es Dir aber nicht einfach so anvertrauen, dazu fehlte mir der Mut. Ich hoffe, Du kannst es verstehen und nimmst mir diesen Mangel an Ehrlichkeit nicht allzu übel. Aber jetzt will ich alles nachholen: Ich liebe Heiko mit der ganzen Kraft meines Herzens!

Einige Tage (genauer gesagt: vier!) sind seit jenem wunderbaren Abend verstrichen, an dem ich endlich die innere Kraft aufbrachte, meine Hemmungen zu überwinden und meinen Empfindungen freien Lauf zu lassen. Als ich Heiko entgegenlief, er mich in seine Arme nahm und seine Lippen die meinen zärtlich berührten, brannte es auf meinem Mund wie Feuer und mein Herz pochte so wild, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen.

Wenn ich das soeben Geschriebene lese, finde ich es ganz schön albern. Aber es fallen mir einfach keine schöneren Worte ein, um es zu beschreiben. Jetzt, wo ich dieser Seite das größte und wichtigste Geheimnis meines Lebens anvertraut habe, muss ich mehr denn je darauf achten, dieses Tagebuch immer gut unter Verschluss zu halten. Am sichersten, ich verstecke es im Geheimfach meines Schreibtisches. Dort wird es mit Bestimmtheit niemand finden!

Ich habe jetzt ziemliche Angst vor der Zukunft. Mit Sicherheit wird meine Familie sehr erbost sein, sollte sie von unserer Liebe erfahren. Der Papa wird vor Wut schäumen: Seine Tochter und der Tunichtgut von Heiko? Undenkbar! Der ist doch keine Partie für ein Fräulein von Steinberg. Dass diese Welt immer Wermutstropfen in das Glück einträufeln muss!

Bewegt blättert Clarissa weiter.

Heute herrscht bei uns wieder eine bedrückte Stimmung. Die Hypothek für das Herrenhaus ist in zwei Wochen fällig und der Papa teilte uns beim Mittagessen mit, dass er kein Geld habe, um sie abzulösen. Als er damals das Geld aufnahm, um Onkel Ewalds Kur im Sanatorium in Schleswig zu bezahlen, hatte er sich vorgenommen, mit dem Rest des Betrages ein Geschäft zu eröffnen. Auch diesmal blieb es leider beim Vorsatz, ohne dass er etwas unternahm. So zerrannen Zeit und Geld. Nachdem Heiko in Onkel Suhls Haus umgezogen ist und uns keine Miete mehr bezahlt, ist mein kleines Gehalt als Lehrerin die einzige Einkommensquelle, die dazu beiträgt, wenigstens einen Teil des Haushalts zu bestreiten. Es ist so deprimierend, dass weder der Papa noch Onkel Johann bereit sind, etwas für den Unterhalt der Familie zu tun. Auch Tante Therese, Mamas Schwester, lebt immer noch bei uns, da ihr Verlobter, Hein Piepenbrink, nicht genügend Geld verdient, um sie zu heiraten. Wie soll das nur weitergehen? Ich weiß es wirklich nicht! Wenn es dem Papa nicht gelingen sollte, irgendwie doch noch das Geld zu beschaffen, dann werden wir wohl ausziehen müssen. Wie auch bei den anderen Häusern werden die Rembowskis, von denen wir das Geld geliehen haben, darauf bestehen, dass wir das Herrenhaus räumen. Sie wollen es sicher für die Erweiterung ihrer Backwarenfabrik verwenden. Ich mache mir große Sorgen um unsere Zukunft.

Es ist etwas Unglaubliches passiert. Als heute der Papa zu den Rembowskis ging, um wegen einer Verlängerung der Hypothek vorzusprechen, sagten sie ihm, dass sie diese Forderung an jemand anderen abgetreten hätten. Der Papa konnte aber den Namen des neuen Gläubigers nicht erfahren, da dieser ausdrücklich zur Bedingung gemacht habe, dass sein Name nicht genannt werde. Niemand kann sich dies erklären. Wer und was steckt dahinter?

Heiko und ich treffen uns jetzt fast täglich im Café Petersen am Markt. Als ich ihm heute Abend davon erzählte, sah er mich sehr amüsiert an und sagte, ich solle mir nur keine Sorgen machen, es werde mit Sicherheit eine gute Lösung für dieses Problem geben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie wir aus dieser Klemme herauskommen sollen und woher der Deichkater seinen Optimismus nimmt. Er hat sich inzwischen bei der Bäckerei Rembowski sehr rasch hochgearbeitet. Der alte Herr Rembowski hat ihn in der letzten Woche neben seinem Sohn Josef (ich muss mich jetzt immer zusammennehmen, damit ich Josef nicht mehr „Klumpfuß“ nenne, wie früher, in meiner Kindheit) zum gleichberechtigten Geschäftsführer ernannt und ihm eine entsprechende Gehaltsaufbesserung gegeben.

Nach unserem heutigen Treffen begleitete mich Heiko nach Hause. Als wir an der Haustür standen, nahm er mich zärtlich in seine Arme und küsste mich. Danach sah er mir tief in die Augen und fragte mich, ob ich seine Frau werden wolle. Ich empfand ein solch großes Glück, dass ich augenblicklich alle diese Sorgen vergaß. Ja, auch ich möchte so sehr den Deichkater heiraten. Aber jetzt, wo mein Herz noch vor lauter Aufregung bis zum Hals hinauf wild schlägt, überlege ich, wie schwierig doch alles für uns sein wird. Trotz der wiederholten Versuche, die ich bisher unternommen habe, um die Familie umzustimmen, meinen vor allem der Papa und Onkel Johann, dass der Deichkater das schwarze Schaf der Familie ist und bleibt. Als die Mama neulich versuchte, den Papa davon zu überzeugen, dass Heiko sich grundlegend geändert und jetzt eine sehr gute Stellung habe, wo er viel verdiene, brach zwischen den beiden ein großer Streit aus. Der Papa wurde sehr wütend und ging laut schimpfend aus dem Esszimmer. Werden Heiko und ich je seine Einwilligung zu unserer Hochzeit bekommen? So sehr ich mir dies wünsche, kann ich es kaum glauben.

Clarissa schließt dieses Tagebuch und greift zum nächsten Band. Langsam blättert sie darin. Schließlich findet sie die gesuchte Stelle:

Ich glaube, dass mein Leben sich zurzeit wie in einem Roman abspielt. Anders kann ich alles, was heute passiert ist, nicht beschreiben. Heute gab es eine riesige Aufregung in unserem Hause. Es war der Fälligkeitstag der Hypothek. Der Papa war äußerst gereizt und nervös. Niemand wusste, was auf uns zukommen würde. Als die Türklingel läutete, während wir bei der Nachspeise waren, horchten alle auf und richteten automatisch ihre Blicke auf den Papa. Kathrein, unser einziges Hausmädchen, seit das Lenchen vor drei Monaten verstarb, öffnete die Tür und kam mit eigenartig verkniffenem Gesicht ins Esszimmer, um zu melden, dass ein Herr, der seinen Namen nicht genannt haben wolle, um ein persönliches und vertrauliches Gespräch mit Herrn Hans-Peter von Steinberg ersuche.

Der Papa sprang erregt auf, befahl Kathrein, die Tür zwischen Esszimmer und Salon zu schließen und den Herrn in Letzteren zu führen. Danach strich er nervös mit seiner Hand durch die Haare und ging ein paar Schritte auf und ab. Schließlich sah er jeden von uns an, zuckte mit den Schultern und eilte hinüber in den Salon. Wegen der verschlossenen Tür konnten wir den Besucher nicht erspähen.

Schweigend saßen wir alle wie auf Kohlen am Esstisch, bemüht, irgendein Geräusch aus dem Nebenzimmer zu hören. Mit einem Mal konnten wir die laute Stimme des Papas ausmachen, allerdings ohne seine Worte zu verstehen. Danach wurde es wieder ruhig und wir konnten nichts mehr vernehmen, bis plötzlich die Tür aufging und der Papa mit blassem Gesicht hereintrat. Mit einem eigenartigen Blick musterte er zunächst mich, dann die Mama. „Annette und auch Du, Clarissa, kommt bitte herein!“, bat er mit heiserer Stimme.

Liebes Tagebuch, mit welchen Worten soll ich meine Empfindungen niederschreiben? Als ich sah, wer der Besucher war, blieb ich wie angewurzelt stehen und mein ganzes Blut muss augenblicklich in mein Gesicht geschossen sein, denn ich empfand darin eine brennende Hitze! Vor mir stand niemand anderer als Heiko, in einen sehr eleganten, schwarzen Anzug gekleidet, der mich breit lächelnd anstrahlte und mir mit einem Auge zuzwinkerte.

Der Papa legte mir beide Arme auf die Schultern und drehte mich zu sich herüber. Er hob langsam mein auf den Boden gesenktes Gesicht mit einem Finger hoch, bis ich ihm in die Augen sehen musste. Danach sagte er mit bewegter Stimme: „Dieser Herr hier hat behauptet, dass Ihr beide Euch liebt, und er hat auch noch um Deine Hand angehalten. Was hast Du mir dazu zu sagen?“

Ich musste meinen gesamten Mut aufbringen, um dem Papa meine volle Erwiderung von Heikos Gefühlen zu beichten und ihm zu gestehen, dass für mich eine Heirat mit Heiko das größte Glück auf Erden bedeuten würde. Als dann der Papa die Mama ansah und sie um ihre Meinung bat, fing sie an zu weinen, nahm mich in ihre Arme (zum ersten Mal, seit ich denken kann!) und wünschte uns von ganzem Herzen, dass wir miteinander sehr glücklich werden sollten. Dann sah der Papa den Deichkater an und sagte: „Nun gut, in Gottes Namen, mir bleibt sowieso keine andere Wahl! Meinen Segen hast Du, Du Halunke, aber pass mir bloß gut auf meine Clarissa auf. Du bist mir ab heute für sie verantwortlich!“ Dann machte er bewegt kehrt und ging Hand in Hand mit der Mama ins Esszimmer hinüber. Galant reichte mir Heiko seinen Arm und wir folgten ihnen. Trotz der Tränen, die inzwischen reichlich aus meinen Augen flossen, blickte ich mit großer Genugtuung in die erstaunten Gesichter der restlichen Familienmitglieder, als der Papa ihnen eröffnete, dass Heiko und ich uns soeben verlobt hätten! Nur Tante Alexandra, Heikos Oma, weinte, allerdings vor Glück. Aus ihrem Schaukelstuhl hielt sie mir ihre dünnen Arme entgegen, damit ich sie umarme, und sprach mir dann ihren Segen aus. Leider ist sie wegen ihres hohen Alters nicht mehr ganz zurechnungsfähig und spricht oft nur wirres Zeug. Trotzdem, ich weiß von früher, dass sie Heiko sehr liebt und ihm immer die Stange hielt, als die ganze Familie gegen ihn war.

Als nach all diesen aufregenden Ereignissen Heiko und ich endlich allein gelassen wurden und wir uns einen langen, innigen Verlobungskuss gegeben hatten, fragte ich ihn trotz meiner Atemnot, wie er es denn geschafft hätte, den Papa so rasch herumzukriegen. Darauf hat er nur gelacht und gesagt, ich würde es später schon noch erfahren. Das Wichtigste sei doch, dass dieser letztendlich zugestimmt habe. Ich gab ihm recht und fragte nicht weiter.

Wieder blättert Clarissa einige Seiten weiter.

Heute zeigte mir Heiko Onkel Suhls letzten Brief an ihn, den ihm Notar Dr. Looft nach der Testamentseröffnung überreichte. Wahrscheinlich war es auch der einzige Brief, den er je von Onkel Suhl empfangen hat. Durch diesen ist mir alles klar geworden. Ich erfuhr die wahren Gründe, die Onkel Suhl zu seinem Entschluss bewogen haben, sein Haus und Vermögen Heiko zu hinterlassen.

Trotz meines früheren Widerstrebens erkenne auch ich heute leider die Tatsache an, dass die Familie, aber vor allem der Papa und Onkel Johann, nur in den grandiosen Träumen ihrer Vergangenheit schwelgt. Sie sind deswegen absolut unfähig, sich den Tatsachen ihrer hoffnungslosen finanziellen Lage zu stellen. Sie rühren keinen Finger und sind auch nicht bereit zu arbeiten. Sie glauben immer noch, ihnen stünde es einfach zu, dass andere für sie zu sorgen hätten. Auch Onkel Suhl sprach dies voller Bedauern sehr deutlich in seinem Brief aus und begründete damit seine Entscheidung zugunsten Heikos.

Da er selbst keine Familie und somit auch keine Nachkommen hatte, machten sich die Mitglieder unserer Familie ziemliche Hoffnungen, ihn nach seinem Tode zu beerben. Da aber Onkel Suhl sehr klar voraussehen konnte, dass das Erbe früher oder später den gleichen Weg wie das bereits zerronnene Habe der von Steinbergs gehen würde, ersann der listige Alte einen Umweg, um uns wenigstens in einen Teilgenuss seines Besitzes kommen zu lassen, ohne dass der Familie ein direkter Zugriff auf dessen Substanz ermöglicht werde.

Der an Heiko gerichtete Brief enthielt neben allgemeinen Ratschlägen für die Anlage der Güter einige Bitten. Die vordringlichste war, er möge die Hypothek auf das Herrenhaus ablösen, um dessen Verlust abzuwenden, da sonst die gesamte Familie von Steinberg auf der Straße stünde.

Als ich Heiko fragte, ob er derjenige gewesen sei, der den Rembowskis die Hypothek abgekauft hätte, bejahte er mit einem frechen Grinsen. Auch ich musste darüber lachen, konnte ich mir doch jetzt Papas Entsetzen vorstellen, als er es an jenem Tage erfuhr, als Heiko uns besuchte und um meine Hand anhielt. Lächelnd sagte ich zum Deichkater: „Du mieser Schuft, so hast Du also den Papa um die Herausgabe der Tochter erpresst, nicht wahr?“ Heiko umarmte mich laut lachend und erwiderte, ich solle ihm dies nicht allzu sehr übel nehmen, es sei doch nur eine winzig kleine, süße Rache gewesen für all jene Erniedrigungen und Bosheiten, die er in seiner Kindheit und auch noch später von dem Papa und dem Rest der Familie über sich hätte ergehen lassen müssen. Zudem könne nunmehr die Familie von Steinberg auch weiterhin im Herrenhaus frei wohnen. Hätte er dies nicht getan, wäre unser Heim mit Sicherheit für immer verloren gegangen. Gern und auch mit tiefem Dank gab ich dem Deichkater hierfür recht.

Des Weiteren empfahl Onkel Suhl in seinem Brief, dass Heiko in seinem Haus wohnen und es in seinem Besitz erhalten möge. Ich musste sehr stutzen, als ich den Satz las: „Du wirst sicherlich bald ein Heim benötigen, um jemanden (den wir beide sehr gut kennen und der uns teuer ist) dorthin zu führen. Ich spreche Euch beiden meinen innigsten Segen aus.“ Hatte etwa Onkel Suhl bereits alles geahnt, bevor wir uns selbst darüber im Klaren waren? Seltsam! Als ich Heiko darauf ansprach, nickte er nur. Danach sagte er mir, er wolle das Haus umbauen und modernisieren lassen. Sein letzter Satz gefiel mir am besten: „Sobald alles fertig ist, heiraten wir!“

Besonders schmunzeln musste ich über eine weitere, eindringliche Bitte, die Onkel Suhl an Heiko gerichtet hatte:

Sollte dieser nämlich irgendwelche „Besonderheiten“ an seinem Teleskop oder an anderen Gegenständen der Hinterlassenschaft entdecken, möge er diese Entdeckungen unbedingt für sich behalten und niemandem verraten. Natürlich konnte Onkel Suhl nicht ahnen, dass Heiko und ich bereits kurz nach seinem Tode im Arbeitszimmer herumstöbern würden. Dabei hatten wir sein falsches Teleskop mit den von ihm speziell präparierten Abbildungen von Mond, Sonne und Sternen entlarvt. Damit hatte er uns schon als Kinder genauso hereingelegt, wie er die Bürger von Oldenmoor hinters Licht führte. Er hatte sich dadurch einen Ruf als bedeutender Astronom und Gelehrter geschaffen und wollte nun (auch nach seinem Tode) nicht bloßgestellt werden.

Nur Heiko hatte damals instinktiv den Alten durchschaut. In seinem Abschiedsbrief zollte daher Onkel Suhl Heiko seinen Respekt und Dank dafür, dass dieser es zwar gewusst, aber nie darüber gesprochen habe. Armer Onkel Suhl! Du brauchst Dich nicht zu fürchten. Weder der Deichkater noch ich werden davon jemals ein Sterbenswörtchen verraten. Dieses Geheimnis bleibt zwischen uns dreien!

Ein Lächeln auf Clarissas Lippen verrät, dass sie auch heute noch über die Schelmereien Onkel Suhls amüsiert ist. In der Stadt hält man ihn immer noch in ehrenvollem Andenken. Der Papa hat vor Kurzem bemerkt, dass es sehr schade sei, dass es unter der heutigen Jugend Oldenmoors anscheinend keinen würdigen Nachfolger mit dem Wissen und der Weisheit Onkel Suhls gäbe.

Elf dumpfe Schläge der Standuhr im Wohnzimmer bringen Clarissa abrupt in die Gegenwart zurück. Sie steht auf, legt die Tagebücher in das sichere Versteck und eilt in die Küche, um für das Mittagessen zu sorgen.

Crescendo bis Fortissimo

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