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5. Hans-Peters Bekehrung

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In diesem Jahr stellen sich die Herbststürme recht früh ein. Als Heiko den Hörer auf die Gabel zurücklegt, blickt er bedrückt aus dem Fenster hinaus. Am grauen Himmel jagen große, schwarze Wolken einander hinterher. Der heftige Sturm, der mit Orkanstärke über der Nordsee tobt, fegt unbarmherzig über das Land und ertränkt es mit sintflutartigem Regen. Weite Flächen der tiefer gelegenen Marschländereien stehen gänzlich unter Wasser. Draußen herrscht eine dramatisch wirkende Dunkelheit. Wie beim Weltuntergang, denkt Heiko und dreht am Schalter seiner Schreibtischlampe. Wie in der Hexenszene von Macbeth, ja, genau so dunkel und unheimlich ist es.

Heiko ist alarmiert wegen des soeben mit Clarissa geführten Gesprächs. Warum war sie nur derart erregt? Ihre Stimme hatte etwas Eigenartiges, ja, einen fast an Verzweiflung grenzenden Unterton. Von dieser Sorge erfüllt, blickt Heiko auf die Pläne des neuen Backofens mit Seitenfeuerung, den man in Kürze in der Fabrik installieren will und mit dessen Auftragsvergabe er sich gerade beschäftigen wollte, als Clarissa anrief. Er blickt auf die Zeichnungen, ohne sie wahrzunehmen.

Es hat heute keinen Sinn mehr, denkt er. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich höre jetzt auf und gehe nach Hause. Dieser Anruf lässt mir keine Ruhe.

„Fräulein Matthiessen?“

„Ja, Herr Keller?“

Heikos Sekretärin, eine große, stattliche Fünfzigerin mit im Dutt streng zusammengebundenen Haaren, erscheint in der Tür.

„Ich muss jetzt weg. Wissen Sie, wo Herr Rembowski ist?“

„Soviel ich weiß, hatte er für heute ein Gespräch beim Orts-Handwerksführer auf dem Terminkalender.“

Verdammt!, denkt Heiko. Da hätte wohl lieber ich hingehen oder ihn wenigstens begleiten sollen. Warum hat er mir nichts davon gesagt?

„Also gut. Wenn Sie ihn noch sehen sollten, dann richten Sie ihm bitte aus, dass ich heute etwas früher gegangen bin und den Wagen mitgenommen habe. Haben Sie sonst noch etwas für mich?“

„Nein, Herr Keller. Nur Ihre Termine für morgen.“

„Gut. Vielen Dank, die können bis morgen früh warten. Ich habe es jetzt eilig. Dann noch einen schönen Abend.“

„Guten Abend, Herr Keller.“ Fräulein Matthiessen verlässt den Raum.

Heiko geht an den Wandschrank, entnimmt Regenmantel und Hut, schaltet die Tischlampe aus und verlässt das Büro. Er eilt die Treppe hinunter und gelangt durch eine Hintertür auf den Hof der Backwarenfabrik. Es regnet in Strömen, und obwohl er den Hof rennend überquert, ist er völlig durchnässt, als er in der ehemaligen Stallung eintrifft, wo nun die Lastwagen untergestellt werden.

„Dat is ja hüüt een Schietwetter, Chef“, begrüßt ihn Hinnerck Reimers, der in einen schwarzen Gummiumhang gehüllt ist.

Heiko kennt Hinnerck seit seiner Kindheit, als dessen Vater und er noch fahrende Gemüsehändler waren und das Herrenhaus der von Steinbergs täglich mit „Grointüch“ aus der Karre belieferten. Vor zwei Jahren war Hinnerck in finanzielle Schwierigkeiten geraten und musste sein Geschäft aufgeben. Als die Backwarenfabrik per Inserat im Courier einen Verantwortlichen für den Fuhrpark suchte – der neben den beiden Geschäftslimousinen mittlerweile aus drei größeren Last- und zwei Kastenwagen bestand –, hatte er sich beworben und die Stelle erhalten.

„Jo, mien Hinnerck, so is dat!“, stimmt Heiko ihm zu und schüttelt das Wasser von der Kleidung ab. „Föhrst man dien Laster een beeten to de Siet, ick wull mit mien Wogn rutföhrn.“

„Geiht klor, Chef! Ick wull noch mit di wat beschnacken, ick hef da so ’n Idee hat!“

Heiko nickt seinem Fuhrparkmeister freundlich zu. „Gut, Hinnerck. Kum mol moin to mi int Kontor.“

Nachdem Hinnerck den Lastwagen zur Seite gefahren hat, steigt Heiko rasch in den Opel Kapitän, lässt den Motor an und rollt langsam, zunächst über den Fabrikhof und danach durch das Tor, auf die Straße. Es regnet derart heftig, dass die Scheibenwischer es nicht schaffen, die Wassermassen beiseitezudrängen und ein klares Blickfeld zu hinterlassen. Heiko schleicht deshalb sehr behutsam durch die überfluteten Straßen, bis er vor seiner Haustür angelangt ist.

In diesem Augenblick scheint der Regen etwas nachzulassen, sodass Heiko mit dem Schlüssel in der Hand schnell über den Gehweg eilt und in das Haus gelangt.

„Clarissa, Liebes, ich bin da!“, ruft er freudig, indem er sich des nassen Hutes und des triefenden Regenmantels entledigt.

Clarissa stürmt geradezu die Treppe hinunter und fällt ihrem Mann in die offenen Arme. „Ach, mein Deichkater, ich bin ja so froh, dass du schon ...!“

Ihre letzten Worte werden von dem Kuss erstickt, den ihr Heiko auf die Lippen drückt.

„Warum bist du nur derart aufgebracht, mein Schatz? Was hast du denn?“ Heiko sieht sie fragend an.

„Ach, es ist nicht so schlimm, jetzt, wo du wieder bei mir bist. Wir können uns später über das kleine Problem unterhalten. Komm jetzt. Wir wollen erst einmal zu Abend essen.“

„Haben die Kinder schon gegessen?“, fragt Heiko, immer noch verunsichert.

„Ja, Silke bringt sie gerade ins Bett.“

„Dann will ich ihnen vorher noch kurz einen Gutenachtkuss geben. Ich komme gleich wieder.“

Eilig nimmt er auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal und geht zunächst in Elisabeths Zimmer. „Guten Abend, Silke. Na, was macht denn mein kleines Prinzesschen?“

„Guten Abend, Herr Keller.“ Silke überreicht Lissy ihrem Vater, der sie liebevoll in seine Arme schließt.

„Na, du kleines Wurzelweiblein, wie geht es dir?“ Spielerisch drückt er den Zeigefinger auf das Bäuchlein des Kindes, das vergnügt lacht und ihn anstrahlt. Mit einem Mal hebt Heiko das Baby hoch und dreht es rasch in der Luft herum. „Sieh dir nur die kleine fliegende Ente an!“, ruft er belustigt, während Lissy vor Vergnügen laut kreischt. Heiko hört mit dem Herumtoben auf, als er sieht, dass Clarissa lachend in der Tür steht. Er nimmt Elisabeth wieder auf den Arm und bringt sie zu ihrer Mutter, die ihr einen Kuss auf die Stirn drückt. Danach kriegt sie auch noch einen fetten Schmatzer von ihrem Papa, der sie sanft in das Kinderbettchen legt und ihr ins Ohr flüstert: „Schlaf gut, kleines Prinzesschen. Der Papa und die Mama gehen heute Abend noch aus. Wir sind aber morgen früh, wenn du aufwachst, wieder bei dir, mein Kleines!“

Clarissa und Heiko gehen ins Nebenzimmer, zu Oliver, der bereits sehnsüchtig wartend und mit ausgestreckten Armen am Gitter seines Bettes steht. Der Junge strahlt vor Freude, als seine Eltern in der Tür erscheinen, und strampelt ungeduldig mit den Beinchen.

„Na, mein Herr Sohn, was hast du heute wieder angestellt?“, fragt Heiko mit vorgespielter Strenge.

Oliver lacht freudig seinen Vater an, der ihn aus dem Bette hebt. Nachdem Heiko ihn für einen Augenblick gehalten und ihm über das blonde, gelockte Haar gestreichelt hat, kriegt er von der Mama und vom Papa je einen lieben Gutenachtkuss und wird wieder in sein Bett gebracht und zugedeckt.

„So, Oliver, schlaf recht schön. Wir besuchen noch den Großpapa, aber morgen früh sind wir beide wieder bei dir.“ Während sie die Treppe heruntergehen, fragt Clarissa: „Warum erzählst du den Kindern, dass wir weggehen wollen? Sie verstehen es doch noch gar nicht.“

„Ach, Clarissa, ich hatte als Kind immer Angst, wenn meine Großmama abends wegging und ich im alten Reetdachhaus allein bleiben musste.“

„Was, der große Deichkater hatte auch Angst?“, fragt Clarissa ungläubig.

„Ja, sogar panische Angst! Meistens waren sie ja alle weg, auch deines Vaters Brüder. Onkel Ewald, um seine Drogenabhängigkeit zu befriedigen, und Onkel Johann, um seinen Bierdurst in der Kneipe zu stillen. Das alte Reetdachhaus war für mich voller Gespenster und ich habe mich oft davor gegrault. Jetzt musst du lachen, nicht wahr? Natürlich, als ich dann etwas älter wurde, zwang ich mich dazu, keine Angst mehr zu empfinden.“

„Und ich habe immer geglaubt, dass der Deichkater mutig und furchtlos auf die Welt gekommen sei!“, witzelt Clarissa und lächelt Heiko an.

„Weißt du, Prinzessin? Mutig sein heißt keineswegs, sich nicht zu fürchten. Mutig ist man vielmehr erst dann, wenn man imstande ist, die Angst, die einen befällt, zu überwinden.“

„Um auf deine Frage zurückzukommen“, sagt Heiko, nachdem die beiden am Esstisch Platz genommen haben, „ich glaube fest daran, dass es immer ratsam ist, den Kindern stets ehrlich alles zu sagen, ohne sie – und auch nicht im Spaß – irgendwie zu hintergehen. Das Schönste, das uns die Kinder schenken können, ist ihr volles Vertrauen. Deswegen haben wir nicht das Recht, es auch nur im Geringsten zu missbrauchen.“

„Oh, mein weiser Deichkater, das hast du mal wieder sehr schön gesagt. Ja, ich denke, dass du recht hast. Damit nimmt man ihnen – sicherlich auch für später – die Angst vor dem Alleinsein.“

„Kluges Mädchen, du hast mich genau verstanden“, sagt Heiko zufrieden und füllt sich mit großem Appetit die aromatisch duftenden Birnen mit Bohnen und Speck auf, die ihnen Silke während dieser Unterhaltung aufgetischt hat.

Als das Abendessen beendet ist, geht Clarissa in das Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Heiko sucht die Zeitung, kann sie aber nirgendwo finden. „Silke, wissen Sie, wo der Courier geblieben ist?“, ruft er in die Küche hinein.

„Heute ist keine Zeitung gekommen, Herr Keller. Ich weiß nicht warum.“

„Seltsam“, murmelt Heiko etwas enttäuscht und begibt sich ebenfalls in das Schlafzimmer. Dort fragt er Clarissa: „Weißt du vielleicht, warum wir heute keine Zeitung bekommen haben?“

„Ja, Heiko. Der Courier ist heute nicht erschienen. – Man hat Friedrich Winkler abgeholt“, flüstert sie ihm leise zu. „Frage mich bitte jetzt nicht weiter, wir sprechen lieber später darüber.“

Beide ziehen sich schweigend um und machen sich zum Ausgehen fertig. Danach gehen sie gemeinsam in die Diele hinaus.

„Silke“, sagt Clarissa zum Hausmädchen, „wir sind bei meinen Eltern. Passen Sie bitte gut auf die Kinder auf. Sollten Sie uns brauchen, rufen Sie die 305 an, Sie wissen schon.“

„Ist gut, Frau Keller, machen Sie sich nur keine Sorgen.“ Nach einer kurzen Pause fragt sie: „Dürfte ich bitte im Salon noch den Rundfunk anhören? Heute gibt es im Reichssender Hamburg ein schönes Programm.“

„Ja, ist gut. Aber bitte schauen Sie ab und zu nach den Kindern, ja?“

„Vielen Dank, Frau Keller. Selbstverständlich passe ich gut auf die Kinder auf. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“

„Vielen Dank, Silke, ebenfalls gute Nacht.“

Heiko geht als Erster hinaus, um den Wagen aufzuschließen. Es hat aufgehört zu regnen, aber es bläst noch ein sehr starker Wind. Als er die Tür geöffnet hat, gibt er Clarissa ein Zeichen. Diese zieht rasch die Haustür hinter sich zu und steigt in den Wagen. Heiko setzt sich ans Steuer und fährt los.

„Ach, Heiko, endlich kann ich mit dir allein sprechen!“ Clarissa atmet erleichtert auf und rückt ganz nahe an den Deichkater heran.

Nachdem sie um die Ecke gefahren sind, hält Heiko den Wagen an und sieht seine Frau fragend an. „Was ist los, Clarissa? Du bist ja ganz aus dem Häuschen. Seit dem Tag unserer Hochzeit habe ich dich nicht mehr derart aufgeregt gesehen. Was ist denn passiert?“

Clarissa erzählt Heiko, wie sie Silke in seinem Arbeitszimmer beim Auflisten seiner Bücher überrascht hat.

Heiko schmunzelt und versucht sie zu beruhigen. „Aber, aber, mein Schatz. Das ist doch alles nicht so schlimm. Wer weiß, was sie überhaupt damit anfangen will.“

„Das ist noch nicht alles. Heute haben zwei Gestapomänner Friedrich Winkler verhaftet. Und zwar wegen eines Kommentars, den er im Courier über das Blutschutzgesetz geschrieben haben soll. Er wurde von Ortsgruppenleiter Straßner in Berlin bei Dr. Goebbels denunziert. Erinnerst du dich noch? Dieser widerliche Straßner, der sich damals bei meinem Rektor in der Schule beschwerte, dass sein Sohn in meiner Klasse neben dem Judenbub Moses Kovacs sitzen musste.“

„Und was soll das mit meinen Büchern zu tun haben? Überhaupt, von wem hast du dies alles?“

„Der Papa war heute bei uns und erzählte, dass die beiden Gestapoleute Friedrich Winklers Bibliothek durchgesehen und dabei mehrere Bücher beschlagnahmt haben, die sie als volksverräterisch bezeichneten. Sie haben ihn übrigens auch noch brutal zusammengeschlagen, bevor sie ihn abführten. Oh, Heiko! Auch du hast so viele Bücher über Kommunismus und Politik, die heute so gefährlich sind. Und ich bin sicher, dass Silke gerade diese aufgelistet hat. Verstehst du? Ich habe eine solche Angst!“

„Nun beruhige dich erst einmal, Clarissa.“ Heiko umarmt seine Frau, die jetzt ihren Tränen freien Lauf lässt. Er küsst sie zärtlich und drückt sie fest an sich.

Währenddessen denkt Heiko fieberhaft nach. Wer oder was könnte hinter Silkes Tat stecken? Sie selbst? Nein. Unwahrscheinlich. Plötzlich kommt ihm ein Gedanke: BDM! Versammlung beim Bund Deutscher Mädchen. Dort tummeln sich wahrscheinlich auch die älteren Parteigenossen. Vielleicht sogar der feine Herr Ortsgruppenleiter Straßner persönlich. Könnte nicht vielleicht dieser ...? Andererseits, welches Interesse hätte dieser Herr Straßner an mir – Heiko Keller? Moment mal, hat er mich nicht schon mehrmals aufgefordert, der NSDAP beizutreten? Sollte es deswegen sein? Auch nicht sehr wahrscheinlich. Warum nur, verdammt noch mal, warum nur?

Clarissa hat aufgehört zu weinen. Mit einem Taschentuch wischt ihr Heiko sorgfältig die Tränen aus dem Gesicht.

„Nun, Prinzessin der madigen Erbse, bemühen Sie sich einmal gütigst, Ihrem Erretter ein strahlendes Lächeln zu schenken. Sehen Sie, so ist es schon viel besser!“ Als Anerkennung erhält Clarissa einen Kuss auf die Nase.

„Übrigens, noch etwas, Heiko, aber dieses Mal wenigstens etwas Lustiges!“

„Was denn?“, fragt Heiko neugierig.

„Gesche und Gesine waren heute auch zu Besuch bei uns. Es hat die beiden einfach so zu uns getrieben. Wir haben uns sehr freundschaftlich unterhalten. Als ich ihnen von Rollo und Heide erzählte und erwähnte, dass die Familie Claaßen uns am zweiten Weihnachtstag besuchen wird, da kam mir eine Idee. Oh, Deichkater, ich hoffe, dass du deswegen nicht böse bist!“

„Es wird schon nicht so schlimm sein, also erzähl!“

„Ich habe auch Gesche und Gesine für den zweiten Weihnachtstag zum Mittagessen eingeladen. Ich dachte, wir machen daraus ein Treffen mit der ganzen Bande. Was sagst du dazu?“

Heiko lächelt sie amüsiert an.

„Prinzessin, das war mal wieder einer deiner lieben, wunderbaren Einfälle. Ich finde die Idee sehr gut. Morgen werde ich auch Josef dazu einladen.“ Nach einer Pause fügt er hinzu: „Schön, die ganze Bagage mal wieder zusammenzuhaben! Prima Idee! Hast dir noch einen Nasenkuss verdient.“

Als er Clarissa ihre Prämie überreicht hat, lässt Heiko den Motor wieder an und sie fahren durch die menschenleeren Straßen Oldenmoors, bis sie am Herrenhaus angelangt sind. Unterdessen berichtet Clarissa dem Deichkater ausführlich von ihrer Unterhaltung mit den Zwillingen.

Kathrein öffnet ihnen die Haustür.

„Guten Abend, Frau Clarissa. Guten Abend, Herr Heiko. Schön, Sie wiederzusehen“, grüßt sie freundlich lächelnd. „Einen schönen guten Abend, Kathrein, wie geht es dir?“ Clarissa und Heiko geben Kathrein die Hand und betreten das Herrenhaus.

* * *

Nach dem Tod von Lenchen, dem treuen Faktotum der von Steinbergs, die bereits bei Clarissas Großvater im Dienst der Familie gestanden hatte, war Kathrein das Kommando über die Küche des Herrenhauses übertragen worden. Geflissentlich erledigt sie die Pflichten eines Hausmädchens, da jetzt nur noch drei Personen in diesem Haushalt zu versorgen sind.

Neben Hans-Peter und Frau Annette wohnt Johann von Steinberg, Hans-Peters Bruder, im Herrenhaus. Ewald, der dritte Bruder, ist nach seinem vormaligen Aufenthalt im Sanatorium in Schleswig nicht mehr nach Oldenmoor zurückgekehrt. Er hat bei der dortigen Forstverwaltung eine gute Stelle gefunden und fühlt sich glücklich und zufrieden inmitten seiner Wälder.

Tante Alexandra, Schwester des alten Oliver von Steinberg und Heikos Großmama, die diesen nach dem tragischen Tode seiner Mutter aufgezogen hatte, starb wenige Tage nach der Hochzeit von Clarissa und Heiko. Frau Annette meinte damals, Tante Alexandra habe sich nur deshalb so lange am Leben gehalten, um ihren über alles geliebten Heiko glücklich und in gesicherten Verhältnissen zu wissen. Tante Therese und ihr langjähriger Verlobter, Hein Piepenbrink, heirateten endlich, als Hein schließlich die ihm lange versprochene Gehaltserhöhung bei der Lederfabrik Christiansen erhielt. Er vermochte sowohl dem beständigen Drängen seiner Braut als auch den eindringlichen Vorhaltungen Hans-Peters, endlich die längst fällige Ehe einzugehen, nicht länger zu widerstehen.

Nachdem auch Tante Therese ausgezogen war, herrschte eine große Ruhe im Herrenhaus. Eine viel zu große Ruhe, wie Hans-Peter sich selbst häufiger eingestehen musste. Ach, was waren es herrliche Zeiten, damals ...

Nachdem er – zu der Zeit wider Willen, weiß Gott! – der Verlobung Clarissas mit Heiko zugestimmt hatte, traf es ihn wie ein Schlag, auch noch erfahren zu müssen, dass Heiko die auf das Herrenhaus lastende Hypothek von den Rembowskis erworben hatte und er jetzt sozusagen der Mieter seines zukünftigen Schwiegersohnes war. Na ja, „Mieter“ war nicht der richtige Ausdruck, denn von welchem Geld hätte Hans-Peter seine Miete bezahlen sollen?

Hans-Peter von Steinberg war stets ein sehr traditionsbewusster Mann. Er lebte deshalb früher in dem festen Glauben, dass man es seiner Familie schuldig war, diese ohne Gegenleistung zu erhalten. Es stünde doch der Familie von Steinberg selbstverständlich zu! Waren sie nicht früher Herren über fast das gesamte Oldenmoor? War nicht sein Vater, der ehrenwerte und von allen respektierte Oberst Oliver von Steinberg, ein sehr wohlhabender Mann, der all denjenigen zu Hilfe kam, die sie benötigten? Jetzt, wo Hans-Peter und seine Familie einer derartigen Hilfe bedürften, sei es doch nicht zu viel verlangt, diesen Anspruch wiederum an jene zu stellen, denen man früher so großzügig geholfen habe. Nach und nach musste aber Hans-Peter die bittere Erfahrung machen, dass ihm niemand für das früher Gehabte etwas herausrückte.

Diese Erkenntnis vertrieb nur allmählich die Nebelschwaden der Großherrlichkeit aus Hans-Peters Gehirn. In seinen Gedanken erdachte er sehr oft – ja man könnte sogar sagen: täglich – ertragreiche Geschäfte oder wichtige Aufgaben. In die Tat setzte er allerdings nichts davon um. Erst an jenem Tage, an dem er mit der bitteren Realität konfrontiert wurde, dass er von nun an ein Mieter im eigenen Hause sei und darüber hinaus diese Miete nicht einmal bezahlen könne, wuchs sein gekränkter Stolz über seine bisherige Trägheit und Indifferenz hinaus.

Tief in seiner Seele begrub er also seinen Stolz und begab sich kleinlaut zur Eisenwarenhandlung des Herrn Hannes Timm in der Deichstraße. Hannes Timm hatte ihm bereits vor einigen Monaten eine Stellung in seinem Geschäft angeboten. Hans-Peter war damals über diese Dreistigkeit äußerst erbost gewesen. Er hatte angenommen (oder ehrlicher gesagt, es als Ausrede vor sich selbst und seiner Familie behauptet), dass Hannes Timm ihm nur deshalb ein solch „übles“ Angebot gemacht haben könne, um sich später über ihn und seine Familie in ganz Oldenmoor lustig machen zu können. Er hatte deshalb das Angebot schroff abgelehnt, sodass Hannes Timm beleidigt und zugleich wütend weggegangen war.

Hans-Peter empfand den Weg bis zur Eisenwarenhandlung wie den Gang nach Canossa. Er hatte das Ganze aber reiflich überlegt und sich vorher mit seiner Gattin ausführlich beraten. Je näher er seinem Ziele kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Vielleicht hätte ihm sogar am Ende der Mut zum Hineingehen gefehlt, hätte sich nicht zufällig gerade in dem Augenblick, als er vor der Tür des Geschäftes angelangt war, diese plötzlich geöffnet.

Vor ihm stand Hannes Timm und blickte ihn überrascht an. „Sie hier, Herr von Steinberg?“

„Ja, ich bin es, Hannes Timm. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ich weiß, ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig.“

„Na ja, Mann, denn kommen Sie man rinn!“

Zackig drehte sich Hannes Timm auf den Absätzen herum und schritt, gefolgt von Hans-Peter, durch das Geschäft in sein Kontor. Als sie dort angelangt waren, zeigte er stumm auf einen Stuhl und schloss die Tür.

„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte er bissig.

„Zunächst möchte ich mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen, Herr Timm, für mein törichtes Beneh...“

„Geschenkt, von Steinberg. Ich war zwar damals stinksauer wegen Ihrer so grimmigen Absage, die einem Rauswurf sehr nahe kam. Später habe ich oft darüber nachgedacht. Es muss Ihnen vorgekommen sein, als ob ich Ihnen ein Almosen hinwerfen wollte. Das ist natürlich für einen Herrn von Steinberg unzumutbar, von Ihrer Warte aus gesehen. Nein, nein, unterbrechen Sie mich nicht! Ich möchte Ihnen nur noch sagen, wie leid es mir tat, dass wir derart erzürnt auseinandergingen. Ich hatte es nur gut mit Ihnen gemeint, das müssen Sie mir glauben.“

„Ich glaube und danke Ihnen sehr für Ihre freundlichen Worte. Dennoch muss ich auf meine Entschuldigung bestehen. Wie dem auch sei, ich hätte mich Ihnen gegenüber einfach nicht derart unhöflich benehmen dürfen. Ich bitte Sie, meine Entschuldigung gütigerweise annehmen zu wollen, Herr Timm.“

„Na denn, wenn es Ihnen auf der Seele brennt, mein lieber von Steinberg, dann wollen wir doch Ihren Qualen ein Ende setzen und Ihnen die Absolution erteilen. Also dann: Entschuldigung vollständig angenommen, Konto ausgeglichen!“

Hannes Timm lächelte und auch Hans-Peter war sichtlich erleichtert. Die beiden Männer gaben sich die Hand.

„Un dat ward nu glix or’nlich fiert, wie sich dat ’hört!“

Vergnügt leerten die beiden einige Gläser Korn. Als Hans-Peter von Steinberg leicht beschwipst den Weg zurück ins Herrenhaus beschritt, war er der glückliche Inhaber einer Anstellung im Kontor des Herrn Timm. Und von dem Verdienst, so sagte er sich auf dem Nachhauseweg, von dem Verdienst können wir leben! Und sogar meinem Herrn Schwiegersohn in spe seine Miete bezahlen!

Crescendo bis Fortissimo

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