Читать книгу "Hört die Kurve!" - Manfred Ertel - Страница 6

Оглавление

Die Herausforderung

Fünfundvierzig Minuten für knapp achtzig Kilometer, das müsste doch eigentlich reichen? Ich sitze in meinem Zimmer in der Redaktion, im 11. Stock mit Blick über die historische Speicherstadt, und versuche mir einen Plan zu machen für diesen wichtigen Tag. Ich bin nervös. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich unter mir, wie der Strom der Hauptverkehrszeit die Innenstadt hochkriecht und sich durch die Hafen-City und den Deichtortunnel Richtung Elbbrücken schiebt.

Ich muss durch dieses Nadelöhr hindurch, auf die Autobahn, an Stillhorn vorbei. Es muss das wohl meistgehasste Stück Autobahn Deutschlands sein, wenn man mal die Münchner Strecke zum Brenner ausnimmt. Immer nur Baustellen, Tempolimit, Staus, Überlastung. Highway to hell. Nie ist auf etwas Verlass auf diesem Teilstück am Rande Hamburgs, zwischen Wohnsilos, Hafenindustrie und der alten Giftmüllkippe Georgswerder, wo man am liebsten umkehren würde, egal ob man aus der Stadt raus oder ob man rein will. Einfach nur weg. Nicht einmal auf den Verkehrsfunk kann man bauen, dass die Typen da schnell genug mitkriegen, was auf der Autobahn abgeht. Und zu spät zu kommen, ausgerechnet heute, das geht gar nicht, das wäre Blamage pur. Ich darf den Termin nicht vermasseln.

Es ist 12.45 Uhr an diesem sonnigen Tag im Mai 2013, als ich mich aus meinem Büro drücke und möglichst unbemerkt mit dem Fahrstuhl abseile. Es muss ja niemand sehen, dass ich mir den Nachmittag frei nehme für die wichtigste Nebensache der Welt. Schließlich will ich gleich den neuen Sportchef für meinen Verein casten, oder zumindest einen der aussichtsreichsten Bewerber für diesen Posten. Er ist wichtig für die sportliche Entwicklung des Vereins. Wie wichtig, das haben wir leidvoll erfahren in den zurückliegenden Jahren, als wir viel zu oft und viel zu lange ohne einen (guten) Sportchef auskommen mussten.

Ich komme besser durch als befürchtet. Die Elbbrücken liegen schon hinter mir, als ich im Kopf wieder und wieder die Stichworte durchgehe. Ich bin aufgeregt wie beim ersten Mal. Und irgendwie ist es das ja auch. Seit rund vier Monaten bin ich nun in meinem neuen Amt, an der Spitze des Aufsichtsrates. Der muss laut Klubsatzung den Vorstand kontrollieren. Aber vor allem muss er die Mitglieder des Vorstands vorher auch aussuchen und einstellen. Und gegebenenfalls wieder feuern. Jetzt bin ich also dran. Ein neuer Sportchef muss gefunden werden. Jemand, der den Profifußball beim HSV sportlich führt und neu justiert. So hat es die Mehrheit von uns gewollt. Und natürlich nicht irgendeinen. Sondern jemanden, der uns endlich wieder dahin bringt, wo wir hingehören, zumindest gefühlt. Und das ist Europa. Und ich soll heute den ersten Schritt dazu machen.

Plötzlich ganz vorn

Ist es wirklich das, was ich immer gewollt habe? Nach über 40 Jahren in der Kurve, immer mittendrin statt nur irgendwie dabei. Und nun auf einmal vorneweg. Nicht mehr nur unterwegs für meinen Lieblingsverein, nicht länger nur ehrenamtlicher Autor für das Mitgliedermagazin Supporters News oder Moderator unseres Fan-TV. Nicht weiter nur ein „Aktivist“ im Vereinsleben, zuletzt als Kontrolleur im Aufsichtsrat. Nein, jetzt bin ich dessen Vorsitzender und muss Verantwortung übernehmen.

Nicht Kommerz um jeden Preis, sondern die Tradition pflegen und die soziale Verantwortung des Vereins stärken.

Gute Freunde hatten mich gewarnt und mir dann doch zugeredet. „Wir haben das immer gewollt, jetzt musst du springen“, haben sie gesagt und mich gleichzeitig mit Sorgen überschüttet: „Aber pass auf dich auf.“ Das passt heute besonders gut. „Wer sich zu dicht ans Feuer wagt, verbrennt sich leicht“, hatte ein anderer mir mitgegeben, „die machen dich kaputt“. Einer meiner besten Kumpel war am deutlichsten: „Kannst du das? Traust du dir das zu? Willst du das riskieren? Sie werden dich jagen“, hatte er gesagt und das auch so gemeint. Und zwar in dieser Reihenfolge. Doch dann hatte er nachgeschoben: „Aber wir sind ein Mitgliederverein, und wir wollten das so, wir wollten Verantwortung übernehmen, du auch.“ Ein konditioniertes Ja nennt man das wohl.

Und ich, was wollte ich eigentlich? Fußball – das war mein Leben, und der HSV war es ganz besonders. Schon von Kindesbeinen an.

Dann waren wir irgendwann angetreten, ein paar Freunde und ich, zusammen mit Gleichgesinnten, den Verein zu verändern, unseren Verein ein Stück mehr zu „unserem“ Verein zu machen. Nicht Kommerz um jeden Preis, sondern die Tradition pflegen und die soziale Verantwortung des Vereins in Hamburg und der Region stärken. Nicht mehr so kalt und aseptisch wie unter der alten Führung von Bernd Hoffmann, als unsere Vertreter sogar auf DFB- und DFL-Tagungen isoliert herumstanden.

Kein Verein als „Marke“, ein Verein zum Anfassen, Gernhaben und Mitmachen schwebte uns vor. Nicht Mitglieder und Fans als Konsumenten und lästige Beigabe verstehen, sondern sie mitnehmen, einbinden, ihre Potenziale nutzen. Den Präsidenten nicht wie einen Patriarchen über das Vereinsreich schalten und walten lassen, sondern penibel kontrollieren. Wir wollten das, und wir können das.

Kontrolle der Mächtigen in Politik und Wirtschaft – als Journalist für das wohl wichtigste politische Nachrichtenmagazin des Landes war es für mich zur Berufung geworden. Warum also die nicht auch für mein zweites Leben nutzen, für meine Fußballideale? Auch andere Freunde brachten gute Voraussetzungen mit, vielleicht keine großen Namen, aber die nötigen Qualitäten und das Herz an der rechten Stelle.

Jetzt konnten wir den nächsten Schritt machen. Kann man so eine Chance wirklich an sich vorbeiziehen lassen, wenn man etwas bewegen und mitgestalten, etwas verändern will? Und ist es nicht auch ein bisschen Wunschtraum, den man sich selbst nach all diesen Jahren verwirklichen kann? Und will?

Jetzt sitze ich im Auto Richtung Süden und bin auf dem besten Weg, etwas zu bewegen, mitzugestalten. Von möglichen Problemen habe ich noch keinen blassen Schimmer. Ich verlasse mich auf uns. Der neue Aufsichtsrat ist gut zusammengestellt. Verschiedene Qualifikationen und Werdegänge ergänzen sich. Wir haben Finanzexperten und Controller dabei, Unternehmenslenker und Juristen, Fans und frühere HSV-Präsidenten. Und bis hierhin ging ja auch alles ziemlich glatt, noch. Einige von den „Alten“ hat-ten von sich aus das Handtuch geworfen und auf eine erneute Kandidatur verzichtet, den meisten weine ich keine Träne hinterher. Außer vielleicht Alexander Otto. Im Sommer des Vorjahres, als Ernst-Otto Rieckhoff zurücktreten musste, hatte ich viel Kraft darauf verwendet, Otto zu überzeugen, zumindest für eine Übergangszeit bis zur nächsten Mitgliederversammlung den Vorsitz zu übernehmen. Es ging wirklich um Überzeugen, überreden lässt sich so einer wie er nicht. Otto hat als Unternehmenschef und Firmengründer fast alles erreicht, er muss sich nichts mehr beweisen.

Es ging auch darum, ein Stück Vertrauenskultur zurückzugewinnen, für den Verein, für den Aufsichtsrat, für uns. Und dafür war Alexander Otto, Prototyp eines hanseatischen Kaufmanns und sozial engagierten Millionärs, genau der Richtige: erfolgreich und auf Konsens ausgerichtet, kommunikativ und bereit zur Team-Arbeit.

Das war nicht selbstverständlich an der Vereinsspitze. Und das hatte ich in meinen ersten zwei Jahren im Rat schmerzlich erfahren müssen. Hinter den Kulissen, da war bisweilen mehr los als bei unserer Mannschaft auf dem Rasen. Befürchtet hatte ich das immer. Nun, wo ich selbst hin und wieder mal den Vorhang lüften konnte, hatte ich Gewissheit.

Anfangs verstand ich zum Beispiel nicht, warum einer meiner Vorgänger, Ernst-Otto Rieckhoff, im Verein den Spitznamen „Sonnenkönig“ weghatte.

Ältere Mitglieder, die lange dabei waren, länger als ich, kolportierten den Ruf genüsslich und keineswegs ironisch. Inzwischen wusste ich, warum: Um den Sonnenkönig herum standen alle anderen im Schatten, zumindest offenbar für ihn selbst. Das war angeblich schon bei seinem früheren Arbeitgeber, einem Mineralölkonzern, so, erzählten zumindest die Alten. „Lass mich mal machen“, das waren Rieckhoffs liebste Worte, als ich an seine Seite rückte. Das galt für Abfindungsgespräche mit Ex-Vorständen und -Sportchefs ebenso wie für Vertragsverhandlungen mit neuen Kandidaten. Dazu traf man sich auch gern mal im noblen Fischrestaurant am Hafen. „Ich mach das schon“, war sein Lieblingssatz. Er hätte auch sagen können: Friss oder stirb. Denn was er mir als Stellvertreter damit abverlangte, und auch den anderen Räten, waren absolutes Vertrauen und totale Loyalität. Und Unterordnung. Gerade das sollte es in einem Mitgliederverein aber eigentlich nicht geben. Und auf eitle Machtspielchen alternder Männer hatte ich so überhaupt keinen Bock.

Trotzdem war es bis zur Mitgliederversammlung im Juni 2012 zwischen uns ganz gut gegangen. Wir waren in der abgelaufenen Saison nur 15. geworden. Das lag weit hinter unserem Anspruch, wieder einmal. Es gab einiges zu besprechen, glaubte ich. Sportlich. Aber manche im Klub hatten ganz andere Probleme. Rieckhoff und Horst Becker, sein Vorgänger, wollten einen anderen Verein. Sie warben zum Beispiel für eine Verkleinerung des Aufsichtsrates und die Einführung der Briefwahl. Beides hoch umstritten im Verein. Und beides erkennbar ohne Mehrheit. Sie sprachen von mehr Demokratie bei wichtigen Entscheidungen, ihre Gegner befürchteten genau das Gegenteil: mehr Manipulationen und die Ausgrenzung von Mitgliedern und Fan-Interessen. Von erfolgreicherem Fußball war keine Rede.

Um den Sonnenkönig herum standen alle anderen im Schatten.

An Rieckhoffs und Beckers Seite gesellte sich unter anderem unser Medizin-Professor im Aufsichtsrat. Eigentlich ein Fan von Rot-Weiss Essen, später Schalke 04. Mit seinem Wechsel nach Hamburg hatte er auf einmal sein Herz für den HSV entdeckt, zumindest für das Ehrenamt und damit für den gesellschaftlichen Rahmen, den er sich offenkundig davon versprach. Er hatte selten Zeit für unsere Sitzungen, aber er wusste fortan alles besser, was gut für den HSV sei. Vereinsdemokratie gehörte nicht dazu.

Natürlich konnte man über Vorschläge zur Reform der Vereinsstrukturen durchaus nachdenken und streiten. Es gab etliche Mitglieder, vor allem unter den Fans, die irgendwo weit weg in Deutschland zu Hause waren, die zum Beispiel einer Fernwahl in der Theorie etwas abgewinnen konnten. Nur: Wie praktisch umsetzen und zugleich Manipulationen in der Anonymität des Internets ausschließen? Außerdem leben 75 Prozent unserer Mitglieder in und um Hamburg herum. Wir sind der Hamburger Sport-Verein, unser Vereinsleben findet nun mal in Hamburg statt. Und Mitgliederversammlungen sind das höchste Vereinsorgan und Beschlussgremium, nicht nur in Fußballvereinen. Wir debattierten die Vorschläge deshalb auch innerhalb unseres Gremiums heftig, manchmal sogar konstruktiv. Aber der Vorstoß auf der Mitgliederversammlung im Juni 2012 kam aus dem Hinterhalt. Und mit der Ruhe war’s endgültig vorbei.

Unerwartete Attacke

Die Versammlung läuft bereits seit Stunden, als Rieckhoff noch einmal am Rednerpult steht. Es geht jetzt um die Verkleinerung des Aufsichtsrats. Es ist heiß, vielleicht zu heiß, nur ein laues Lüftchen weht durchs Stadion. Die Mitglieder erwachen aus ihrer Lethargie, unser Vorsitzender sonnt sich in seiner Rolle. Er spricht zu den Mitgliedern auf der Tribüne, meint aber uns, seine Kollegen, die ihm im Weg stehen, als er den Aufsichtsrat auf einmal zum Rücktritt auffordert. Wir sollen freiwillig unsere Ämter niederlegen, verlangt er, um Platz zu machen für eine Reform. Seine Reform, die Amputation des Rates, für die es gar keine Mehrheit gibt. Noch jedenfalls nicht.

Die Rücktrittsforderung ist ein Paukenschlag, ein Schuss aus der Deckung, ein Putsch. Ohne jede Vorankündigung. Mit uns Aufsichtsräten, zumindest mit der Mehrheit und erst recht mit mir als seinem ersten Stellvertreter, hatte er vorher nicht darüber gesprochen. „Manfred, wir sind enger beieinander, als du manchmal glaubst“, das sagte er zwar häufiger zu mir, wenn er Nähe suchte und Unterstützung brauchte. „Wir ziehen am selben Strang.“ Nur: In welche Richtung, das wollte er offenbar allein bestimmen.

Ich bekomme endlich auch das Wort und bin sprachlos. „Vertrauensbruch“, fällt mir als Erstes ein, ich werfe ihm vor, einen wohlkalkulierten Alleingang ohne Absprache und ohne Mehrheit geplant zu haben, einem hinterhältigen Umsturzversuch gleich. Ich leiere noch einmal meine Argumente gegen eine Verkleinerung herunter. Neu sind die nicht. Denn natürlich zielt Rieckhoffs Versuch nur darauf, Leute wie mich, Fans und einfache Mitglieder, von Macht und Einfluss fernzuhalten. Und vor allem, uns keinen Einblick zu gewähren. Ich hatte das mehrfach zum Thema gemacht.

Ich gebe mir Mühe, die Form zu wahren und meine Empörung in diplomatische Worte zu kleiden.

Kollegen und Mitglieder auf den Sitzen der Tribüne sind weniger zimperlich. Sie schimpfen und rufen dazwischen. Aber natürlich hat Rieckhoff auch Unterstützer, die ebenso heftig auszuteilen wissen. Da ist er wieder, der gespaltene Verein, die Medien haben ihr Thema. Die Wut auf Rieckhoff ist groß, die Unterstützung für seine Idee nicht. Er bekommt nicht die nötige Mehrheit, noch nicht.

Am nächsten Tag tritt er zurück, das sagt er mir am Telefon. Ob’s ehrlich gemeint ist? Ich denke ja, jedenfalls kommt die Botschaft bei mir so an.

„Den Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden finde ich konsequent und logisch“, antworte ich ihm, als er mich im Büro anruft: „Du hast unser Vertrauen gebrochen. Aber einfaches Mitglied im Aufsichtsrat kannst du meiner Meinung nach bleiben. Jeder macht mal Fehler, jeder hat einen zweiten Versuch gut.“

Was für ein kapitaler Irrtum von mir. Ich habe sicher einige Fehler gemacht in meiner Amtszeit, das war wohl einer meiner größten. Ich dachte, es geht doch nur noch um ein paar Monate bis zur Nachwahl des halben Rates im Januar, bei der er ohnehin keine Chancen mehr haben würde. Aber ich hatte ihn unterschätzt. Denn von nun an arbeitete er gegen mich, gegen uns, gegen alles, was ihm nicht passte. Daran änderte auch nichts, dass es mir und anderen gelang, Alexander Otto tatsächlich für die Übergangszeit als Vorsitzenden zu gewinnen. Für ein gutes halbes Jahr, vom Sommer 2012 bis zur teilweisen Neuwahl des Aufsichtsrates auf der Mitgliederversammlung im Januar 2013. Immerhin.

Konspiratives Warm-up

Ich bin schon von der Autobahn runter und gut in der Zeit, als mir das alles noch einmal durch den Kopf geht, im Zeitraffer, tack, tack, tack, wie unsere Stadionuhr. Das Dino-Barometer, das bis auf die Sekunde anzeigt, wie lange wir als einziger Bundesligaklub inzwischen ununterbrochen in der Liga sind. In einem kleinen Heide-Hotel wenige Kilometer vor Soltau will ich den möglichen Sportdirektor treffen, konspirativ, weil wir die Medien nicht zu früh wild machen wollen. Die haben sowieso ihre eigene Agenda. Magath, Hrubesch, von Heesen, am liebsten sollen alle zusammen kommen, immer das gleiche Lied. Die Alten sollen es richten, zurück in die Zukunft. In Blogs und groß aufgemachten Artikeln versuchen uns die selbst ernannten HSV-Experten mit Gerüchten zu manipulieren. Und wir wollen das nicht zulassen. Erfolgreiche Vergangenheit lässt sich nicht einfach wie durch eine Zeitmaschine wiederbeleben.

Im kleinen Kreis haben wir uns Gedanken über ein Anforderungsprofil für unseren Neuen gemacht, der Vorsitzende des Rates, seine beiden Stellvertreter und der Sprecher des Finanzausschusses. Bloß nichts durchsickern lassen, das ist unser Ziel, es gibt im Verein seit Jahren eh schon Indiskretionen genug. Deshalb haben wir den Kreis bewusst klein gehalten und uns dafür das Mandat der Kollegen geholt. Wir haben notwendige Qualifikationsmerkmale diskutiert und Präferenzen formuliert. Wir haben Namen aufgerufen und wieder verworfen. Am Ende blieben drei Kandidaten übrig. Und ich bekam den Auftrag, mit allen dreien Vorgespräche zu führen, um Möglichkeiten und Bereitschaften zu erkunden.

Aber wie sondiert man unerkannt, unter den Augen der Öffentlichkeit bzw. den Blicken einer gierigen Journalisten-Meute, die Tag für Tag Spalten und Seiten füllen muss, und das nicht nur, wenn es wirklich etwas zu berichten gibt? Und die dabei zum Teil ganz eigene Interessen verfolgt. Ich bin Journalist mit langer investigativer Erfahrung und nicht doof. Ich weiß, wie man Geheimnisse oder vertrauliche Abreden aufbohrt. Und auch, wie man das am besten verhindern kann. Regel Nummer eins: Nicht darüber reden, Treffen nicht in Hamburg, nicht auffallen, keine Dritten hinzuziehen, jeden offiziellen Charakter vermeiden.

Er ist auf dem Markt, hat sich von seinem letzten Arbeitgeber getrennt, sein Renommee ist gut.

Mit dem Finger auf der Landkarte entschied ich mich für das kleine Konferenz-Hotel am Rande der Heide, auf halbem Weg zwischen meinem Gast und mir. Ich reservierte als Privatmann eine Suite, bestellte belegte Brötchen und Softdrinks aufs Zimmer und war guten Mutes: Passt.

Jetzt bin ich wenige Kilometer vor dem Ziel. Für die schöne Landschaft, die in warme Frühsommersonne getaucht ist, habe ich keinen Blick. Fachwerkhäuser fliegen vorbei, gemütliche Dorfkrüge, kleine Wäldchen, Wiesen- und Knicklandschaften, wie in eine watteweiche Traumwelt gegossen. Kein wirkliches Interesse, heute geht es nur um Fußball. Der Verkehr ist spärlich, nur wenige Autos sind um diese Zeit unterwegs, die Wahl scheint passend gewesen zu sein. So abgelegen von der pulsierenden Großstadt, was soll da schon passieren? Der Schock kommt auf dem Parkplatz: Der ist voll besetzt. Lauter Hamburger Kennzeichen. Na klar, Konferenzhotel vor den Toren der eigenen Stadt, einer Handels- und Wirtschaftsmetropole, wie blöd kann man eigentlich sein? Immerhin liegt die von mir gebuchte Suite im anderen Flügel des Hotels, abseits von den Tagungsräumen. Und als mein Gast endlich auf den Hof fährt, kann ich ihn ohne großes Aufsehen durch einen Nebeneingang ins Haus lotsen.

Im Zimmer sitzen wir wie bei einem Blind Date, zwei Kerle beim ersten Warm-up, wie im schlechten Film. Er ist auf dem Markt, hat sich von seinem letzten Arbeitgeber getrennt, sein Renommee ist gut. Die Chemie zwischen uns auch, das Gespräch läuft schnell in angenehme Bahnen, ohne dass wir uns lange wie zwei Boxer abtasten. Wir reden über Fußball, natürlich, über seinen Ex-Verein, meinen Klub und unsere Visionen. Und wir suchen nach gemeinsamen Schnittmengen, wie man in der Politik sagt.

Wir haben als Verein wenig Geld, wollen auf die Jugend setzen, einen Neuanfang finden, mit jungen Spielern aus der Region, sage ich. Hamburger Nachwuchsspieler wie Kruse, Harnik, Sam sollen nicht immer nur bei anderen Vereinen ihren Durchbruch schaffen, sondern am liebsten auch mal bei uns.

„Die Qualität von Spielern wie Bruma, Mancienne, Sala muss man auch in Deutschland bekommen können“, ist seine Antwort. Und: „Habt ihr einen wie Daniel Schwaab überhaupt auf dem Zettel?“

Haben wir. Oder besser gesagt: Hatten wir. Ein Transfer wäre finanziell machbar gewesen. Doch der Abwehrmann von Bayer Leverkusen war unseren sportlich Verantwortlichen nicht gut genug, er ging später zum VfB Stuttgart. Aber die konzeptionellen Ideen des Kandidaten, sie scheinen etliche Gemeinsamkeiten mit unseren Vorstellungen zu haben.

Das Gespräch erreicht den Punkt, an dem die Worte besonders offen sein müssen. „Wie steht’s mit der Presse?“, frage ich: „Es heißt, Sie hätten ein gestörtes Verhältnis zu den Medien“, vor allem zum selbst ernannten Zentralorgan mit den vier großen Buchstaben. „Ich mache alles mit, lasse aber nicht alles mit mir machen,“ lautet seine Antwort.

Passt, der Mann gefällt mir. Viel zu oft sucht der Fußball den Schulterschluss mit den Massenmedien, die plumpe Kumpanei, auch in Hamburg. Viel zu sehr wird über Bande gespielt: Hilfst du mir, helf’ ich dir. Je größer die Schlagzeilen, desto besser das Gegengeschäft für den Informanten. Das ist vielleicht gut für die Auflage und die Wertschätzung des Maulwurfs bei einzelnen Journalisten, meist aber nicht für den Verein.

Alles gut, denke ich. Noch schnell die Gretchenfrage: Was wollen Sie verdienen? Ich frage ganz direkt, ohne lange herumzueiern. Er zögert nur kurz.

Zurück auf der Autobahn bin ich zufrieden mit mir. Und mit ihm. Fast schon ein bisschen euphorisch. So einfach hatte ich es mir nicht vorgestellt. Gute Leute müssen also nicht zwangsläufig auch Arschlöcher sein. Das könnte was werden. Ich bin mit meinen Gedanken weit weg, als ich mich wieder Stillhorn nähere. Und dann sehe ich es: Bremslichter. Stau. Highway to hell. Am liebsten würde ich umdrehen, bloß weg.



Подняться наверх