Читать книгу "Hört die Kurve!" - Manfred Ertel - Страница 9
ОглавлениеDer Anfang
Fußball-Fan zu sein, das war damals etwas ganz anderes als heute. „Anhänger“ nannten wir uns, wenn man mal auswärts fuhr, war man „Schlachtenbummler“. Und auswärts, das waren für uns bis zur Einführung der Bundesliga auch die Hamburger Adolf-Jäger-Kampfbahn von Altona 93 oder das Marienthal mit dem SC Concordia.
Zum Rothenbaum, der traditionellen Heimat des HSV, fuhr man mit der Straßenbahn oder marschierte zu Fuß, von der Uhlenhorst, wo ich wohnte, um die halbe Alster rum auf die andere Seite. Ins Volksparkstadion, das bis 1953 auf Kriegsschutt erbaut worden war, war es für mich eine halbe Tagesreise. In der Saison 1958/59 trugen die Rothosen in der Betonschüssel zum ersten Mal ihre Qualifikationsspiele zur Deutschen Meisterschaft aus, von da an regelmäßig und dann auch die Europapokalspiele. Für mich hieß das, mit der Straßenbahn Linie 3 oder 18 von der Uhlenhorst östlich der Alster erst mal zum Hauptbahnhof, dort umsteigen in die Linie 1 nach Bahrenfeld und von dort gut 20 Minuten zu Fuß durch den Volkspark. Anderthalb bis zwei Stunden gingen dafür gut und gern drauf, ein Grund für viele, den HSV zu meiden.
Mein Vater sprach abfällig vom „Vorstadtverein“ und meinte damit vor allem das Stadion im Volkspark, „da draußen“. Er weigerte sich lange, mit mir dahinzufahren. Zwei Doppelschichten im Hafen, am Kai von Schuppen 59, und dann noch mal zwei Stunden in den Volkspark und auch wieder zurück, das war mit ihm nicht zu machen.
Die Deutsche Meisterschaft 1960 veränderte vieles. Im Frühjahr des folgenden Jahres, zum Viertelfinale im Europapokal der Landesmeister gegen den FC Burnley, nahm er überraschend die Tortur auf sich. Ich sollte nie erfahren, wieso eigentlich. Das Ergebnis zählte: Als zehnjähriger Steppke war ich endlich zum ersten Mal im Volksparkstadion, meinem Vater sei Dank.
Das Hinspiel im Nordwesten Englands fand bereits am 18. Januar 1961 statt. Ich hatte es im Fernsehen gesehen und durfte dafür extra länger aufbleiben. Ich seh’ die Bilder bis heute vor mir: dunkel, nass, matschig. Und am Ende eine klare Niederlage. Nur ein Tor von Charly Dörfel eine Viertelstunde vor Schluss zum 1:3 hielt uns für das Rückspiel überhaupt noch am Leben. Aber wir lagen dem Fußballtod praktisch schon auf der Schippe.
Das Rückspiel in Hamburg folgte erst fast zwei Monate später, am 15. März. Festgelegte Spieltage gab es damals noch nicht, aber so eine lange Pause zwischen den Begegnungen war trotzdem nicht normal. Der Grund waren Terminprobleme. Amateurhaft wie die Spieler des HSV, die auf britische Vollprofis trafen, waren bei uns auch die Voraussetzungen für internationale Spiele: Hamburg hatte kein Licht, zumindest kein Flutlicht. Obwohl mitten in der Woche, an einem Mittwoch, musste das Spiel schließlich auf den Nachmittag angesetzt werden, zu der für ein Europapokalspiel völlig unüblichen Anstoßzeit um 16.30 Uhr. Das sorgte für Unruhe, auch im Stadion. Noch bevor die Mannschaften überhaupt den Rasen betraten, protestierten deshalb Anhänger mit Transparenten vor der proppevollen Westkurve. „Wir wollen Flutlicht!“, stand da unter anderem drauf.
Ein historischer Sieg
Der 15. März 1961 wird im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Tag, an dem Fußball Geschichte schreibt. Denn in Kiel streiken an diesem Nachmittag die Arbeiter der Howaldtswerke. Nichts geht mehr auf der großen deutschen Werft. Die Arbeiter wollen eine Stunde früher Schluss machen, sie wollen das Spiel sehen, den HSV, und um den früheren Feierabend durchzusetzen, entschließen sie sich zum wilden Arbeitskampf. Die Werftleitung billigt ihnen nur 30 Minuten zu, die noch dazu nachgearbeitet werden sollen, doch das kümmert die Docker nur wenig. „8.000 Schiffbauer machten da nicht mit: Sie nahmen sich die volle Stunde. Pünktlich um 15.30 Uhr packten sie zusammen und strömten zu Fuß, mit Fahrrädern und Mopeds eilig durch die Tore der Werftanlagen, um rechtzeitig zu Hause zu sein. Zum Fußballgucken.“ Das schreibt SPIEGEL Online auf den Tag genau 50 Jahre später in einem historischen Rückblick.
Offiziell sind 71.000 Zuschauer im pickepackevollen Volksparkstadion, mein Vater und ich mittendrin, in der Ostkurve, rechts vom Marathontor. Rund 30 Millionen Menschen sitzen in Deutschland vor den Fernsehern, schreiben später die Chronisten. Unglaublich! Und HSV-Kapitän Jochen Meinke heizt die Stimmung noch zusätzlich an. Im Programmheft zum Spiel, der HSV-Post, erklärt er die Begegnung mit viel Pathos zur nationalen Sache: „Wir kämpfen nicht nur für den HSV, sondern für die Interessen des deutschen Fußballs.“
Tief beeindruckt von der Atmosphäre im Hinspiel in Burnley fordert Meinke die Hamburger auf, ebenso stimmgewaltig hinter ihrer Mannschaft zu stehen. Dazu ruft er einen alten Schlachtruf vom Rothenbaum in Erinnerung, der Jahre später – als es gegen den Abstieg geht – noch einmal für Schlagzeilen sorgen sollte: „Auf, Ihr Männer.“
Nach sieben Minuten wird der Volkspark zum Tollhaus. Klaus Stürmer hechtet einen Flugkopfball ins Tor von Burnley, noch kurz vor dem Halbzeitpfiff erhöht Uwe Seeler ebenfalls mit dem Kopf auf 2:0. Als die Engländer nach der Pause zum 1:2 verkürzen, fließen bei mir Tränen. Aber ausgerechnet mein Vater glaubt an uns. „Hör auf zu flennen, die packen das“, sagt er. Und wie. Dörfel und noch mal Seeler schaffen das schier Unmögliche. Die Amateure werfen die Profis raus, Tausende stürmen das Feld und tragen die Spieler auf den Schultern vom Platz. Es ist ein Fußballwunder, und ich bin dabei. Es ist der Tag, schreibt später SPIEGEL Online, als der pathetische Spitzname „Uns Uwe“ erfunden worden sein soll.
„Uns Uwe“ wird erfunden.
Döskopp
Sechs Wochen später bin ich wieder auf dem Weg ins Volkparkstadion, diesmal allein, ohne Begleitung eines Erwachsenen oder Erziehungsberechtigten, wie man damals sagte. Zum ersten Mal. Auf dem Kopf einen Strohhut, der mit Fotos meiner Lieblingsspieler beklebt ist, in der Hand eine Spielzeug-Klarinette mit HSV-Wimpel. Die ist laut, einen halbwegs akzeptablen Ton bringt sie hervor, wenn man drei bestimmte Tasten gleichzeitig drückt. So war das damals: Wer sich kein Dreiklanghorn leisten konnte, und das waren die meisten, der improvisierte. Fan-Artikel wurden noch selbst gebastelt, gestrickt, genäht, geklebt. Das galt für Schals und Mützen, aber auch später für die Jeans-Kutten, die mit Aufnähern vollgepflastert waren. Noch viele Jahre lang.
Zusammen mit Tausenden anderen sind wir auf dem Weg durch den Volkspark, von der Straßenbahn zum Stadion. Es ist der Tag des Halbfinal-Rückspiels gegen den FC Barcelona. Das Hinspiel hatten wir überraschend nur 0:1 verloren, gegen eine mit Stars gespickte Truppe: Der ungarische Traumsturm mit Kubala, Kocsis und Czibor gehörte dazu, der Brasilianer Evaristo und die spanischen Internationalen: Ramallets im Tor, Foncho in der Abwehr und dazu noch der geniale Mittelfeldstratege Luis Suárez. Kaum jemand hatte dem HSV deshalb diese Leistung im Hinspiel zugetraut.
Das Rückspiel ist aber auch der Tag meines ersten großen HSVTraumas, und zwar gleich in doppelter Hinsicht. An der Stadionstraße, Ecke Friedhof, ist die erste Kartenkontrolle, ohne gültiges Ticket kommt hier keiner durch. Ich hatte mir meine Schülerkarte schon Wochen vorher besorgt, an einer der vielen Vorverkaufsstellen in der Stadt. Ich wühle also in meiner Hosentasche, um sie hervorzukramen und – finde sie nicht. Sie steckt nicht in den Gesäßtaschen, sie ist nicht im Hemd, nicht in der Jacke. Mein Kumpel steht längst auf der anderen Seite der Sperre, als mir klar wird: Ich habe meine Karte vergessen. Sie klemmt zu Hause am Küchenbuffet zwischen Scheibe und Holzrahmen. Dort, wo meine Mutter immer alles hinsteckte, was auf keinen Fall vergessen werden durfte. Sie, die sonst immer dreimal fragte: „Hast du auch alles?“, hatte diesmal nichts gesagt. Ich bin das Opfer.
Heulend kehre ich um, den ganzen Weg zurück, gegen den Strom, den Hut längst nicht mehr auf dem Kopf. „Falsche Richtung, Kleiner“, sagt jemand. Ich höre und sehe nichts.
Als ich endlich wieder zu Hause am Mundsburger Damm bin, wieder mit der Straßenbahn, einmal umgestiegen, komme ich gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff im Fernsehen. Auf Mitleid brauche ich nicht zu zählen. „Döskopp“, sagt mein Vater. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Meiner Mutter tut es eher um das verlorene Geld leid.
Das Spiel macht das Ganze auch nicht viel besser. Wir führen überraschend 2:0 durch Tore von Peter Wulff und Uwe Seeler, gegen den großen Favoriten aus Spanien, die Zuschauer sind aus dem Häuschen, als Barcelona zu einem letzten Angriff kommt. Es sind noch neun Sekunden zu spielen – Chronisten haben das nachgerechnet, Nachspielzeit gab’s damals noch nicht – als Uwe Seeler unnötig den Ball verliert, Suárez diesen vor unser Tor tritt und Kocsis, ein exzellenter Kopfballspieler, das Leder einköpft. Horst Schnoor ist machtlos. 2:1, im Stadion ist es totenstill.
Nur noch neun Sekunden …
Knapp 50 Jahre später stehe ich im Museum des spanischen Traditionsvereins im Estadio Camp Nou vor zwei schön gerahmten Fotos, aufgenommen aus der Sicht einer Hintertorkamera im Rücken von Schnoor, der Ball im Netz. „Gol!“ steht groß darüber. Noch einmal läuft dieser tragische Tag, der in jeder Beziehung ein schwarzer Tag in meiner Fan-Laufbahn war, vor meinem inneren Auge ab, als wär’s gerade gestern gewesen.
Das Entscheidungsspiel verloren wir eine Woche später in Brüssel mit 0:1, ich war noch nicht dabei. Aber es sollte das letzte Mal gewesen sein, das schwor ich mir.