Читать книгу "Hört die Kurve!" - Manfred Ertel - Страница 8
ОглавлениеDer Putsch
Ich treffe rechtzeitig in den Hamburger Messehallen ein, früh genug, um das Debakel kommen zu sehen. Als ich die Halle H endlich erreiche, habe ich lange Schlangen von HSVern hinter mir gelassen, die sich zur Mitgliederversammlung anmelden wollen. So groß war der Andrang noch nie. Mir schwant nichts Gutes. „Das wird heute nichts“, sage ich zu einigen Freunden, die ich endlich in dem Gewusel treffe.
„Was können wir machen, sollen wir zurückziehen?“, fragt einer. „Wir ziehen das jetzt durch, es geht um die Sache“, sagt Jojo. Ich pflichte ihm bei: Wir kämpfen, aufgeben geht nicht.
Es ist der 25. Januar 2009, der Tag, der als „Putschversuch der Supporters“ in die schillernde Vita des Vereins eingehen sollte, zumindest wenn es nach dem Willen des mächtigen Blattes mit den großen Überschriften ging. Mit dessen Hilfe und einer beispiellosen PR-Kampagne gelang es dem HSV-Vorsitzenden Bernd Hoffmann noch einmal, seinen Arsch zu retten. Er mobilisierte tatsächlich 4.911 Mitglieder in das Congress Centrum, davon auf dem Höhepunkt über 4.500 stimmberechtigte, indem er ihnen zum Beispiel Freifahrtscheine für U-Bahn oder Busse ins Haus schickte und als Stimmungsaufheller eine kostenlose Bockwurst mit Kartoffelsalat versprach. So etwas hatte es in der Geschichte des HSV noch nie gegeben, weder einen solchen Ansturm noch eine vergleichbare Mobilisierungskampagne. Was war passiert?
Bockwurst zur Belohnung.
Der Grund war auf den ersten Blick banal. Die Supporters hatten für die Wahl des neuen Aufsichtsrates vier eigene Kandidaten vorgeschlagen. Im Kontrollgremium saßen damals zwölf „Aufpasser“. Vier wurden aus den Vereinsgremien entsandt: Amateure, Senioren, Supporters und HSV-Ochsenzoll, wo der Breitensport zu Hause ist. Die anderen acht wurden von der Mitgliederversammlung gewählt, und zwar je vier alle zwei Jahre.
Der Vorschlag der Supporters war eigentlich nichts Weltbewegendes: Vier eigene Bewerber bei acht zu vergebenden Plätzen, das hatte es einige Jahre zuvor schon einmal gegeben. Immerhin einer war damals mit genügend Stimmen durchgekommen. Dazu kam noch ein Delegierter im Namen der Supporters. Niemand hatte sich damals großartig daran gestört, weder an der Vierer-Liste noch an der Wahl. Diesmal war alles anders. Denn Bernd Hoffmann hatte Angst. Angst um seinen Job.
In den Aufsichtsrat?
Es begann irgendwann im Sommer 2008, als mich ein Anruf aufschreckte. „Kannst du dir vorstellen, für den Aufsichtsrat zu kandidieren?“, fragte mich Christian und sorgte damit zunächst einmal für einige Überraschung bei mir. Ich war im HSV ein unbeschriebenes Blatt. Ich war praktisch ein Einzelgänger, immer nur mit ein paar Freunden unterwegs, nie in einem Fan-Klub, nie einer Gruppe zuzuordnen, nicht in der Vereinsarbeit engagiert und überhaupt erst Mitglied seit 2005. Vorher hatte ich das nicht für notwendig gehalten. Mein Verhältnis zu meinem Klub brauchte keinen Stempel, und nur wegen der Preisermäßigung für Dauerkarten wollte ich kein Mitglied werden.
Das änderte sich erst im Laufe der Amtszeit von Bernd Hoffmann. Der eigentliche Wendepunkt für mich war dann die Mitgliederversammlung im Januar 2007 gewesen. Wir waren als Vorletzter in die Winterpause gegangen, eine Situation, die uns aus heutiger Sicht wahrlich nicht fremd ist. Aber damals? Und vor allem: Wer hatte an der Situation Schuld? Auf jeden Fall war die Stimmung schlecht, im Verein rumorte es.
Thomas Doll war damals gerade mal gut zwei Jahre unser Trainer, und er hatte eigentlich Großes geleistet. Unser ehemaliger Spieler und Nachwuchstrainer hatte die kriselnde Mannschaft im Oktober 2004 von Klaus Toppmöller übernommen, als wir nach acht Spielen nur sechs Punkte auf dem Konto hatten und auf dem letzten Platz standen. Nach einem 0:2 gegen Arminia Bielefeld hatten die Fans zwar noch gesungen: „Außer Toppi könnt ihr alle geh’n.“ Aber es kam genau umgekehrt.
„Dolli“ schaffte nicht nur den Klassenerhalt, er führte die Mannschaft über Platz 8 sogar noch in den UI- und dann in den Uefa-Cup. Und in der anschließenden Spielzeit 2005/06 schafften wir es sogar auf Platz drei in der Bundesliga – Champions League. Wir waren wieder wer. Doch dann kam Hoffmann. Er verkaufte van Buyten und Boulahrouz und trennte sich von Barbarez, jene „Achse“, mit der er den HSV in Europa eigentlich wieder unter den Top 20 etablieren wollte. So hatte es Hoffmann jedenfalls lauthals in den Hamburger Medien verkündet und den Anhängern Flausen in den Kopf gesetzt. Doch kaum versprochen, schon gebrochen. Auch Beinlich und Takahara verließen uns in dem Sommer und das Glück dazu. In der Gruppenphase der Champions League landeten wir kurz vor Weihnachten nach nur einem Sieg und Niederlagen gegen Arsenal, Porto und in Moskau nur auf dem letzten Platz unserer Gruppe. In der Bundesliga war das letzte Spiel der Hinrunde in Aachen symptomatisch für den Saisonverlauf. Wir führten bereits 3:1 gegen die Alemannia, kassierten dann spät den Anschlusstreffer und durch ein Eigentor in letzter Minute sogar noch den Ausgleich.
Verlassen von Beinlich, Takahara und dem Glück.
Hoffmann suchte und fand den Schuldigen – natürlich beim Trainer, der noch in der Vorsaison alles richtig gemacht hatte. Das sind, damals wie heute, die berühmten Gesetze, die bei Erfolglosigkeit im Profifußball greifen. Und zwar immer schneller.
Auf der Mitgliederversammlung im Januar polterte er gegen Thomas Doll und appellierte an dessen „Trainer-Ehre“: Er verlangte ultimativ Erfolge zum Beginn der Rückrunde. Andernfalls sollte Doll Charakter und Ehrgefühl zeigen und freiwillig hinschmeißen, forderte Hoffmann. Kein Wort von seinen eigenen Fehlern, von falschen Versprechungen oder schlechten Transfers im Sommer.
Hoffmanns Frage der Ehre war für mich eine völlig neue Dimension. Und eine ärgerliche. Ich war außer mir und meldete mich spontan zu Wort. Es war schon einiges gesagt worden, als ich mich am Saal-Mikrofon ziemlich weit hinten im Saal anstellte, in der Nähe meines Platzes, und endlich kam ich dran. Ich war aufgewühlt und nervös. Vor tausend Leuten zu reden, war für mich durchaus nicht alltäglich. Ich kritisierte tapfer Hoffmanns Führungsstil und die Transfers im Sommer. Ich erinnerte ihn an seine vollmundigen Versprechungen, mit dem Gerüst von Boulahrouz, van Buyten und Barbarez den HSV wieder an Europas Spitze führen zu wollen. Und ich warf ihm vor, durch die Verkäufe die Fans getäuscht und belogen zu haben. „Wenn Sie an Thomas Dolls Ehre appellieren, zurückzutreten, dann fordere ich von Ihnen so viel Ehre, als verantwortlicher Vorsitzender mit Doll gemeinsam zurückzutreten“, rief ich wütend in Richtung Hoffmann. Das saß.
Der Saal jubelte, einige wildfremde Menschen klopften mir auf die Schultern. Aber Doll nützte es nichts. Am 1. Februar sollte er gehen müssen. Im Saal auf dem Podium reckte Hoffmann derweil den Hals, um zu erkennen, wer da so despektierlich gesprochen hatte. Besonders die Rücktrittsforderung wurmte ihn. Das wurde mir später erzählt und auch, dass er sogar recherchieren ließ, wer denn dieser ungebührliche Redner gewesen sei.
Aber mehr gab’s von mir danach nicht zu hören. Ich tauchte wieder ab in den Schutz der Anonymität. Es gab in späterer Zeit vielleicht noch den einen oder anderen kurzen Kontakt auf unseren Touren nach Porto, Moskau oder zu Arsenal, vor allem zu Vorstandsmitglied Christian Reichert. Mehr nicht.
Jetzt also der Anruf. Ich wurde zu einem Treffen eingeladen. Das muss im August gewesen sein. Ein gutes Dutzend HSVer kam zusammen, dazu die Führung der Supporters. Wir diskutierten, wer sich vorstellen könnte, für den Aufsichtsrat zu kandidieren oder auch nur für die Abteilungsleitung unserer Fansparte. Es war eine bunte Mischung von Interessenten, mittendrin mein ganz besonderer Freund, genannt „KoRo“. Er war ein sehr spezieller Typus von Fan, eine Art Scheinriese. Auf Vereinstreffen nahm er sich scheinbar besonders kritisch unseren Vorsitzenden Hoffmann zur Brust, bei anderer Gelegenheit ging er dann wieder so respektvoll bis devot mit dem HSV-Boss um, dass er später einer von Hoffmanns engsten Kombattanten wurde und sogar persönlicher Gast in privaten Runden Hoffmanns war. So einer wollte nun also auf Fan-Ticket, als einer von uns, in den Aufsichtsrat segeln. Dafür legte er sich damals mächtig ins Zeug.
Wir diskutierten intensiv über den Sinn unserer Idee, über mögliche Erfolgsaussichten und vor allem sehr ausführlich, als hätten wir’s geahnt, wie belastbar sich jeder Einzelne in einer öffentlichen Auseinandersetzung mit den Medien fühlen würde. Einige Interessierte zuckten daraufhin zurück und ließen von einer Kandidatur ab. Andere erbaten sich Bedenkzeit, auch ich. Als ich mich dann entscheiden musste, sagte ich: „Ja, aber nur ohne KoRo, ich traue ihm nicht.“ Ich hielt ihn schon damals für ein ferngesteuertes U-Boot. Aber meine Sorge war unbegründet. Für den Kreis der letzten fünf möglichen Kandidaten hatten ihn die Initiatoren sowieso nicht vorgesehen. Andere, einflussreichere Mitglieder als ich, hatten bereits ähnliche Bedenken geäußert. Wir ahnten damals noch nicht, dass wir ihn eines Tages als einen unseren schärfsten und vor allem demagogischsten Kritiker wiedertreffen sollten.
Mitten hinein in die Vereinspolitik
Bereits im September 2008 erklärten also Anja Stäcker, Ingo Thiel, Jojo Liebnau und ich unsere Kandidatur zur Aufsichtsratswahl, und die Kampagne gegen uns ging los. „Putschversuch“, titelten die Medien. Ex-Präsident Wolfgang Klein, den ich eigentlich verehrte, ließ sich herab, uns in seinem Lieblingsblatt als „Totengräber des HSV“ zu denunzieren. „Wollen die Supporters die Macht übernehmen?“ Das wurde scheinheilig gefragt oder frech behauptet. Immer schön abwechselnd. Das Ende von Hoffmann sei im Falle unserer Wahl besiegelt, so wurde öffentlich gewarnt, um dessen Anhänger zu mobilisieren. Dabei ging es doch nur um maximal vier von insgesamt zwölf Sitzen. Der HSV wurde für mich zum ersten Mal zum Politikum.
Eines Tages rief mich Bernd Hoffmann persönlich an. Es sei doch besser, miteinander als übereinander zu reden. Manchmal hatte er eben auch Recht. Wir verabredeten uns im Café Paris am Rathausmarkt und hatten in schickem Jugendstil-Ambiente einen durchaus netten Gedankenaustausch. Es ging um dies und das, um Journalismus, Kindererziehung, den HSV, sein Gefühl, immer nur von allen missverstanden zu werden. Zum Ende des angenehmen Mittagessens erklärte er mir offen und unumwunden: „Sie sind ein netter Kerl, aber ich werde alles tun, damit Sie nicht in den Aufsichtsrat kommen.“ Alle Achtung, mit offenem Visier! Mitten ins Gesicht. Ich kannte so etwas aus dem Job: Ein Gesprächspartner entpuppt sich manchmal als angenehmer, als man aufgrund seiner Politik eigentlich erwartet, und man zweifelt schon an der eigenen Meinung, bis eine einzige Aussage alles wieder zurechtrückt. Der Frontverlauf zwischen Hoffmann und mir war durch die offene Kampfansage wieder hergestellt, und ich war beinahe ein bisschen froh darüber, seiner Charme-Attacke nicht erliegen zu müssen. Ich ahnte damals noch nicht, wie wahr er diese Ankündigung machen würde.
Auch Katja Kraus, Hoffmanns getreue Stellvertreterin, lud mich zu einem persönlichen Plausch ein, wir trafen uns im Jüdischen Café am Grindel. Wir redeten sehr persönlich, über Adoption, Erziehung, Elternsein, viel Privates und nur am Rande etwas über Fußball. Eigentlich sehr nett und interessant. Schon wieder. Vorfühlen und Abtasten kann man das wohl nennen. Geändert hat es nichts.
Im Dezember ging es richtig los. „Revolte beim HSV“, titelte Sport-Bild, und das Mutterblatt legte nach: „Tod und Hass dem SVW – Dieser Mann will in den HSV-Aufsichtsrat.“ SVW, das stand für den verhassten Konkurrenten aus Bremen. Und der Beitrag zielte direkt auf unseren Vorsänger in der Kurve. Ausbildung, Studium, Persönlichkeit, all das zählte bei den Kollegen vom Boulevard nicht, Jojo eignete sich nach ihrem Eindruck offenbar am besten zum Feindbild. Ein anonymer Reporter hatte ihn angeblich in unserem stimmgewaltigen Block 22c belauscht und alle Schmähgesänge protokolliert, auch die, die so jedenfalls nicht von Jojo angestimmt worden waren. Der Journalist war ein besonders mutiger Vertreter seines Blattes, so mutig, dass er statt seines Namens als großer Unbekannter den Artikel nur mit drei Sternchen kennzeichnete. Das war nicht nur feige, sondern sollte wohl dem Beitrag noch zusätzlich etwas besonders Skandalöses geben. Die Parteinahme war offensichtlich. Scheinheilig fragte das Blatt: „Darf ein solcher Typ u. a. darüber entscheiden, ob Bernd Hoffmann weiter Vorsitzender dieses Klubs bleibt?“ Selbst vor Jojos beruflicher Existenz machten die Schreiber nicht Halt: „Was sagt eigentlich sein Arbeitgeber (ein HSV-Sponsor) zum veröffentlichten ‚Hobby’ seines Mitarbeiters?“, fragten sie scheinbar unschuldig. Es war der Höhepunkt einer miesen Kampagne, die vor nichts zurückschreckte und sogar die Vernichtung von Jojos beruflicher Existenz in Kauf nahm.
Dazu passte, dass der verantwortliche Redakteur des Hamburg-Sports im Herbst zum Dienstjubiläum eine goldene Armbanduhr vom HSV-Vorstand geschenkt bekommen hatte. Das enthüllte unter anderem der NDR, und das war ganz und gar nicht im Einklang mit den Compliance-Richtlinien seines Verlags. Aber uns wunderte zu diesem Zeitpunkt schon lange nichts mehr.
Auch uns anderen wurde in Medienberichten und ganz besonders in Internet-Foren die Integrität und die Kompetenz abgesprochen. Anonym, versteht sich. Sicher ist sicher. Mir wurde als Journalist, obschon in der Außenpolitik tätig, eine Interessenkollision vorgeworfen. Selbst meine Frau Krista Sager, ehemalige Zweite Bürgermeisterin in Hamburg, musste für die Schmutzkampagne herhalten und wurde aufgrund ihrer Mitgliedschaft beim konkurrierenden Stadtteilverein St. Pauli benutzt, um Stimmung gegen mich zu machen.
Showdown in Halle H
Das ist die Lage, als die Mitgliederversammlung endlich losgeht und fast schon etwas Befreiendes hat. Schluss mit den Kampagnen, die Wahrheit liegt diesmal in der Halle. Tausende sind gekommen. „Du bist HSV!“, hatte der Vorstand wochenlang getrommelt und damit unmissverständlich klargemacht: Wir nicht! Aufsichtsrat Rieckhoff und ich stehen zufällig zusammen im Foyer und wechseln ein paar Worte, als der große Vorsitzende fast schon demonstrativ auf uns zukommt. „Schön, dich zu sehen,“ sagt Hoffmann zu Rieckhoff. Zu mir sagt er nichts.
Die Versammlung beginnt mit einem ersten Kräftemessen. Der Vorschlag aus der Mitgliedschaft, zunächst die Leistungsbilanz des Vorstandes zu diskutieren und erst danach zu wählen, wird mit großer Mehrheit abgelehnt. Das Bild von den Mehrheiten festigt sich, meine Prognose erweist sich schon früh als richtig. Das merkt auch Hoffmann. Man muss ihm nur dabei zusehen, wie er locker durch den Saal tänzelt. Dann ahnt man, wie die Partie laufen wird.
Alexander Otto ist der erste der 20 Kandidaten, der zur Vorstellung vor die Mitglieder tritt. Der millionenschwere Unternehmer wirbt für die Idee des Universalsportvereins, als Stifter und Gründer einer Sportstiftung gibt es kaum jemanden, der dies glaubwürdiger vertreten kann. Viel Beifall. Jürgen Hunke, extravaganter Selfmade-Millionär und Ex-Präsident, wird mit Buh-Rufen empfangen, er bekommt einen ersten Vorgeschmack von der Stimmung im Saal. Medien bescheinigen ihm „Drückerkolonnen-Charme“, es wird mit harten Bandagen gekämpft.
Jörg Debatin, unser Professor, hat aus seinen missratenen Vorstellungsrunden im Vorfeld gelernt, als er sich noch freimütig als Schalke-Fan und ehemaliger Freund von Rot-Weiss Essen geoutet hatte und dafür massenhaft Spott wie Häme erntete. Jetzt präsentiert sich der Mediziner rhetorisch geschmeidig als erfahrener Manager und großer HSV-Freund. Er wirbt für hundert Prozent Selbstbestimmung des Vereins und gegen jede Ausgliederung. Das kommt an, auch wenn es sich fünf Jahre später als große Lüge entpuppen sollte. Er will finanzielle Solidität und sportlichen Erfolg, vor allem aber will er eines: Der HSV müsse stets „vor dem SV Werder Bremen“ stehen. Die Halle tobt, Sprechchöre, Begeisterung. Ein Aufsichtsrat schießt offenbar selbst die nötigen Tore.
Ingo ist der erste von uns vier „Putschisten“, der vor die Meute muss. „Fußball muss bezahlbar sein“, fordert er. Der Aufsichtsrat müsse wie der Vorstand mehr Kontakt zur Basis, zu den Fans halten. Der HSV sei mehr als eine seelenlose Kapitalgesellschaft, sagt er. Verhaltener Applaus, viele Zwischenrufe. Mit Nachfragen versuchen unbekannte Mitglieder, ihm so etwas wie eine Mitschuld an der finanziellen Schieflage eines anderen Unternehmens anzudichten, für das er bereits einmal in einem Aufsichtsrat saß. Niemand im Saal versteht den Hintergrund der Fragen, Ingo wehrt sich überzeugend, aber die Agitatoren haben das erste Mal ihr Ziel erreicht: Es bleibt was hängen.
Die Stimmung im Saal ist eindeutig.
Spätestens jetzt zeigt sich unmissverständlich: Die Stimmung im Saal ist eindeutig. Es gibt die Bewerber, für die das Ganze ein Heimspiel ist. Es gibt die, denen mit höflichem Applaus für ihre Kandidatur gedankt wird, und tschüs. Und es gibt die Supporters. Sie und ihre Fürsprecher werden mit Buh-Rufen und Schreiereien traktiert. Vor allem diese eindeutige Anti-Stimmung lässt „Hoffmann 10 Zentimeter wachsen“, schreibt Zeit-Online in ihrem Live-Ticker. Nur schwer kann der Vorsitzende seine Genugtuung verbergen. Als Hunke redet und dabei immer wieder gestört wird, schaut Hoffmann wiederholt an die Decke und beißt sich geradezu auf die Lippen, um sein Grinsen zu verbergen.
Unser ehemaliger Spieler Sergej Barbarez kommt damit durch, dass er zugibt, von Bilanzen keine Ahnung zu haben. Er sagt, dass er lieber über Fußball reden würde, und es wird von den Zuhörern geschluckt. Er will sich über den Aufsichtsrat für andere, bezahlte Jobs beim HSV empfehlen. Er kommt auch damit durch, obwohl die Satzung für den Aufsichtsrat überhaupt keine sportliche Mitsprache des Kontrollgremiums vorsieht.
Ich komme als 14. der Kandidaten dran, endlich. Ermüdung macht sich bereits breit. „Guten Tag, ich bin der Totengräber“, sage ich. Immerhin hören die Leute jetzt zu. Ich rede von den Fehlern des Vorstandes, von der sportlich wenig nachhaltigen Transferpolitik, die vom amtierenden Aufsichtsrat allzu wohlgefällig abgenickt werde. Ich fordere eine „ernsthafte Kontrolle“ Hoffmanns und des Vorstandes durch die Mitgliedschaft ein: „Wir sind der HSV“, sage ich in Anspielung auf den Vorstandsslogan und mahne eine sachliche Betrachtung der Kandidaten an. Ich sage auch, man müsse nicht auf dem gesellschaftlichen Parkett in Hamburg zu Hause sein, um ein guter Kontrolleur im Namen des Vereins zu werden. Das Hamburger Abendblatt schreibt in seinem Live-Ticker, ich erreiche „viele der anwesenden Mitglieder mit einer inhaltlich wertvollen Rede“, die Zeit notiert: „Neben Debatin beste Rede, bester Redner“.
So denken aber nicht alle. Im Gegenteil. Ich bekomme zwar viel Applaus, werde aber immer wieder unterbrochen von lautstarken Zwischenrufen und Pöbeleien. Vor allem ein Block hinten rechts führt sich auf wie in der Kurve. „Hör doch auf, wir wollen das gar nicht hören“, johlen die. Mein Sohn Robin, der zufällig in der Nähe sitzt, ist erschüttert. Richtig zur Sache geht es bei den Fragen. Ein junger Mann nimmt das Mikro aus dem Ständer und schlendert durch den Gang, als stünde er auf einer Bühne und wäre der Solist. Er wirft mir als Journalist einen programmierten Interessenskonflikt vor, wenn ich über vertrauliche Kenntnisse im Aufsichtsrat verfügen würde. Offenbar hat er noch nie was davon gehört, dass Politik und Sport nicht im gleichen Ressort einer Redaktion bearbeitet werden. Er versteigt sich sogar zu der Lüge, ich hätte einen Hoffmann-kritischen Bericht bei SPIEGEL Online lanciert und inhaltlich manipuliert. Riesenapplaus. Die Gegner johlen vor Begeisterung.
Ich bin sprachlos. Ich habe mit vielem gerechnet, damit nicht. Ich habe keine Ahnung, wovon der Mann redet, der Vorwurf ist glatt erfunden, zumal SPIEGEL Online eine völlig selbstständig arbeitende Redaktion ist, die mit dem gedruckten Nachrichtenmagazin, „meinem“ SPIEGEL, nichts zu tun hat. Ganz zu schweigen davon, dass ich als politischer Redakteur im Ressort Ausland des Printmagazins sowieso null Berührungspunkte mit der Sportberichterstattung habe. Ich sage das so deutlich und werde dafür niedergebuht. An Wahrheiten ist niemand interessiert, auch die Versammlungsleitung nicht. Die mahnt mich nur, schneller zum Ende zu kommen.
Später kommt ein Kollege von SPIEGEL Online zu mir und berichtet, den angeblichen Artikel, den der Redner angesprochen hatte, habe es nie gegeben. Glatt gelogen also, und auf einmal erinnere ich mich, und später nicht nur ich, an eine Mitgliederversammlung im November 1999, als bezahlte Provokateure auftraten, um die Wahl von Werner Hackmann zum ersten hauptamtlichen Chef des Vereins zu verhindern. Der SPIEGEL entlarvte damals einen Profi-Schauspieler namens Krieg als Hauptredner, und der machte seinem Namen alle Ehre. Der Mime hatte sich als langjähriges HSV-Mitglied ausgegeben, dabei war er erst drei Tage vor der Versammlung in den Verein eingetreten. Am Mikro hetzte er gegen Hackmann, der manchen in und um den Verein herum wohl zu mächtig geworden war. Krieg bediente sich dabei der Stichworte, die eine PR-Agentur aufgeschrieben hatte, die eng mit dem damaligen Vermarkter Ufa Sports zusammenarbeitete. Medien berichteten zudem von Laiendarstellern, die für 500 Mark pro Person angeheuert werden sollten.
November 1999: bezahlte Provokateure.
Ufa Sports machte ihren damaligen Pressesprecher für die Aktion verantwortlich und erklärte den Skandal zum Alleingang dieses leitenden Angestellten. Er wurde entlassen. Bernd Hoffmann war damals Geschäftsführender Vorstand und erster Mann des Vermarkters. Er behauptete laut Morgenpost: „Wir haben uns nie eingemischt.“ Hackmann sagte zum Abendblatt: „Ich habe das zur Kenntnis genommen, glauben kann ich es nicht.“ Der Deutsche Rat für Public Relations sprach gegen die Agentur und die Ufa eine öffentliche Rüge aus, wegen „arglistiger Täuschung“.
Nun also ein Déjà-vu. Zu viele der Redner waren wie damals in unseren HSV-Reihen auch diesmal völlig unbekannt, nie zuvor irgendwo gesehen worden oder aufgefallen. Das bestätigten viele altehrwürdige Mitglieder. Zu viele Redner waren ungewöhnlich eloquent und agierten an den Mikros, trotz der 5.000 Zuhörer, rhetorisch geschult. Auch Jojo bekommt das später zu spüren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?
Um 17.55 Uhr steht fest: Die Wahl, so das Abendblatt, wird zu einem „Triumphzug“ für Hoffmann und Ex-Aufsichtsratschef Udo Bandow, der vier sogenannte Wirtschaftsweise aus dem Hut gezaubert hatte. Sie kommen alle durch: zwei Unternehmer und Millionäre, ein Radiologieprofessor, der Präsident der Handwerkskammer. Der Rat wird zum Sammelsurium aus Alt-HSVern ohne Rückgrat, Pfeffersäcken und anderen vereinsfremden Newcomern. Von Sportkompetenz, die später so oft gefordert werden sollte, oder zumindest HSV-Kompetenz keine Rede – „ein Blanko-Scheck für den Vorstand“, räume ich enttäuscht vor Fernsehmikrofonen ein. Es ist das erste Mal, dass sich „mein“ Verein für mich etwas fremd anfühlt. Dass von Gemeinschaft und Wir-Gefühl wenig zu spüren ist. Offenbar haben wir zu sehr am Thron gerüttelt.
Hoffmann ist schier aus dem Häuschen. Er tigert über die Bühne, erklärt aufgekratzt, wie „stolz“ er auf diese „tolle Vereinsdemokratie“ angeblich sei, und appelliert an uns: „Lasst uns wieder eine Einheit werden.“ Wie ernst er das zu nehmen gewillt ist, sollte sich schon bald erweisen.