Читать книгу "Hört die Kurve!" - Manfred Ertel - Страница 7

Оглавление

Der Virus

Wann mich der Virus befiel, das ist nicht mehr genau auszumachen. Es muss irgendwann Ende 1959 oder Anfang 1960 gewesen sein. Das legendäre Tor von Uwe Seeler im Qualifikationsspiel zur Deutschen Meisterschaft gegen Westfalia Herne im Juni 1960 jedenfalls, als er nach einer Flanke, halb unter Nationaltorwart Hans Tilkowski auf dem Boden liegend, den herabfallenden Ball per Fallrückzieher ins Tor schießt, ist fest in meinem Kopf. Und zwar schon in bewegten Bildern. Aus den Anfängen des Fernsehens.

Dass es mich richtig erwischt hatte, muss meinen Eltern spätestens am 25. Juni 1960 klar geworden sein. Es war ein Sonnabend, und es war ziemlich warm, alle Augenzeugen sprachen hinterher von schwüler Hitze im Frankfurter Waldstadion. Die ganze Stadt schwitzte Fußball, wahrscheinlich das ganze Land, aber um das zu bemerken, war ich noch zu klein.

Ich besetzte früh am Nachmittag einen Sessel in unserem Wohnzimmer und stellte zufrieden fest, dass mein Vater nicht etwa schlief, wie so oft nach seinen Nachtschichten. In unserer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung plus Küche – das Klo mussten wir mit der Vermieterin teilen – war das durchaus von Bedeutung. Denn unser Wohnraum war zugleich das Schlafzimmer der Eltern. Zum Schlafen wurde der Wohnzimmertisch vor den mächtigen Schrank geschoben und die Couch zum Bett aufgeklappt. Für den Fernsehsessel war dann kein Platz mehr und für Kinder schon gar nicht. „Ab in dein Zimmer“, hieß es dann. Das war ein gut 1,50 Meter schmaler, etwa drei Meter langer und spitz zulaufender Schlauch mit zwei Türen. Nur mit Hilfe eines Wandklappbettes bot er überhaupt etwas Platz und wurde dem Anspruch „Zimmer“ zumindest halbwegs gerecht.

Neben den Sessel stellte ich die Miniaturausgabe eines Fahnenmastes auf den Wohnzimmertisch, 30 Zentimeter hoch vom Fuß bis zur Spitze. An einem dünnen Band konnte man einen kleinen Wimpel mit der HSVRaute hissen und notfalls auch auf Halbmast setzen. Aber das war ja nicht vorgesehen. Zehn Zentimeter lang war der Wimpel vielleicht, so wie man ihn damals an einer kleinen Sprungfeder auf das vordere Schutzblech von Fahrrädern oder Ballonrollern montieren konnte.

Das Endspiel: Ein Anfang

Nervös wartete ich auf den Anpfiff. Der HSV spielte gegen den 1. FC Köln um die Deutsche Meisterschaft. Der große Favorit mit den Nationalspielern Hans Schäfer, Georg Stollenwerk, Karl-Heinz Schnellinger, Helmut Rahn, Leo Wilden, Karl-Heinz Thielen und wie sie alle hießen. Gegen den HSV mit Deutschlands neuem Idol Uwe Seeler, mit Klaus Stürmer und Gert „Charly“ Dörfel. Aber sonst? Zwei Endspiele hatten die Hamburger zuletzt verloren, 1957 und 1958, dazu noch das Pokalfinale 1956, jetzt versuchten sie es mit einer neuen, stark verjüngten Truppe, die vor allem eines auszeichnete: Elf Hamburger standen da auf dem Platz.

Ich kauerte vor dem Fernseher, der Bildschirm war klein, das Bild damals noch schwarz-weiß. Das Zeitalter der bewegten Bilder hatte eigentlich gerade erst angefangen. Zum Massenmedium war Fernsehen erst im Oktober 1957 geworden, rund eine Million Geräte standen damals in deutschen Haushalten, wir waren nicht dabei. Wir konnten uns eine Fernsehtruhe erst sehr viel später leisten, immerhin noch rechtzeitig zum Endspiel. Die WM in Schweden 1958 mit den berühmten Schlachtgesängen „Heja Sverige“ und Uwe Seelers Feuertaufe bei einem großen internationalen Turnier hatte für mich noch vor dem Radiogerät stattgefunden, das Ohr immer dicht am Lautsprecher neben dem legendären grünen Auge des Röhrengeräts.

Mein Vater mochte Fußball, aber nicht den HSV.

Kurz vor dem Anpfiff kam mein Vater dazu. „Was soll das denn?“ Er zeigte auf meinen HSV-Wimpel mit der Raute, als traute er seinen Augen nicht: „So’n Tinnef! Nützt sowieso nix!“ Immerhin verbot er mir den Aufzug nicht. 1:0 für mich.

Mein Vater mochte Fußball, aber nicht den HSV. Nicht dass er eine Zecke war. Aber wenn er zu größeren Spielen ging, dann zu den Braunweißen vom FC St. Pauli. Dem ewigen Konkurrenten in der Stadt. Wunstorf, Porges, Osterhoff, das war seine Welt. Hinter dem Tor am Millerntor stand er dann, stritt mit Zuschauern, die nicht seiner Meinung waren, und pflaumte, wenn’s nicht lief, abwechselnd den eigenen Torwart und notfalls auch den Schiedsrichter an. „Du Gurke“, brüllte er mal Harry Wunstorf zu, dem legendären Keeper der Paulianer, „mit der Mütze musst du den holen“.

Und dem Schiedsrichter, der am Millerntor damals praktisch durch die Kurve zu den Umkleidekabinen musste, sagte er auch gern, was er von ihm hielt: „Pfeifenheini“. Mit dem HSV hatte mein Vater nichts am Hut. „Lackaffen“ waren das für ihn, warum, das hat sich für mich nie so recht erschlossen. Er hielt die Rothosen für Geldheinis und St. Pauli wohl für einen Arbeiterverein, der besser zu ihm passte.

Mein Vater war ein herzensguter Kerl, ich mochte ihn sehr. Aber manchmal war er mir peinlich, vor allem beim Fußball. Ich musste, wenn meine Mutter arbeitete, als Kleiner oft mit ans Millerntor zu den Zecken, wie sich die Pauli-Fans heute ironisch selbst nennen. Sonntagvormittags ging er mit mir dann auf die Grandplätze im Viertel, den unterklassigen Vereinen beim Kicken zuschauen und mit anderen Besuchern schnacken. Das war Fußball in seiner reinsten Art. Danach ging’s zum Frühschoppen in die Kneipe. Er drei kleine Bier, ich ’ne Limo und ’ne Dauerbrezel, bis das Mittagessen fertig war.

Bei meinen eigenen Spielen hatte ich ihm früh Stadionverbot erteilt. Ich spielte, seit ich neun war, in Barmbek beim SC Adler 25, der später mit Uhlenhorst Hertha zu UH-Adler fusionierte. Heute spielen die in der Bezirksliga, das ist im Hamburger Fußball die 7. Spielklasse. Erst viel später ging ich zum SC Sperber Hamburg, der damals zweitklassig spielte. Ich kam so viel rum in der Stadt, lernte Hamburg aus der Sicht von Grandplätzen und Rasenfeldern kennen, bis in die entlegensten Ecken, an der Landesgrenze. Meist war ich Mittelläufer oder Halbstürmer, später Libero, weil ich ein gutes Stellungsspiel hatte und am Ball ganz gut war, mit präzisem Schuss und Passspiel, aber zu langsam für großes Tempo. Manchmal spielte ich auch im Tor, und das ebenfalls ziemlich ordentlich. Ich konnte gut fangen und war mutig genug, mich auch „zu schmeißen“. So nannte man das im Hamburger Straßenjargon der 1960er Jahre, wenn Torhüter auch auf Grand ohne Rücksicht auf Schrammen und Wunden nach den Bällen hechteten.

Mein Vater stand anfangs meist neben unserem Tor, kommandierte die Abwehr, schimpfte mit dem Trainer oder dem Schiedsrichter und, wenn das nicht half, auch mit mir oder meinen Mitspielern. Er konnte es einfach nicht lassen. „Schläfst du?“, oder „Decken, du Döspaddel, der steht doch ganz frei“, rief er dazwischen – Wichser und Hurensohn waren offenbar noch nicht erfunden. Mir war damals schon das unangenehm, ich schämte mich oft dafür. Ich erinnere mich noch wie heute: Wir spielten auf dem Sportplatz Birkenau, ein trister Acker hinter der Kunsthochschule. Wir in Weiß-Rot, den Vereinsfarben von Adler, unser Gegner Hanseat in schwarzen Hosen und weinroten Hemden, 1. Schüler.

Ich weiß nicht mehr, ob es schlecht lief für uns, schlechter als normal. Auf jeden Fall versuchte mein Vater unsere Abwehr bei einer Ecke für den Gegner mit lauten Anweisungen umzudirigieren. „Kurze Ecke, jeder seinen Mann! Hört auf zu pennen“, brüllte er. „Geh weg“, sagte ich zu ihm, „ich will das nicht mehr hören. Ich will nicht, dass du weiter zuguckst.“ Und das Überraschendste: Von dem Tag an kam er nie wieder.

So wie dieser Tag mein Verhältnis zu meinem Vater veränderte, so veränderte jener 25. Juni 1960 mein Verhältnis zum Fußball. Der HSV gewann nach 0:1-Rückstand mit 3:2, Uwe Seeler schoss zwei Tore, den Siegtreffer, der eigentlich Klaus Stürmer gehörte, drückte er in der 88. Minute praktisch nur noch über die Linie. Stürmer hatte zuvor nach einer Flanke Torwart Fritz Ewert überlupft. Mein Wimpel wehte am Topp.

Ein Bild prägte sich mir damals so ein, dass es bis heute auf meiner inneren Festplatte eingebrannt ist: Uwe Seeler auf den Schultern jubelnder Fans auf dem Rasen des Waldstadions, in dunklem Hemd und weißer Hose. Das Trikot war blau, schlicht und schmucklos, nur die Raute auf der Brust. Natürlich konnte man die Farbe auf dem Bildschirm nicht erkennen, das Farbfernsehen brauchte noch über sieben Jahre.

Hamburg war im Ausnahmezustand. Am nächsten Tag, als die Mannschaft mit dem ehrwürdigen TEE, rot und gelb, am Dammtor-Bahnhof ankam, sollen 20.000 Menschen entlang der Rothenbaumchaussee Spalier gestanden haben. Die Spieler fuhren in offenen VW-Käfern zum Stadion am Rothenbaum mitten in der Stadt, wo der HSV damals zu Hause war. Hier bejubelten noch einmal gut 30.000 Menschen den neuen Meister, andere Quellen sprechen von insgesamt 100.000 begeisterten Fans zum Empfang. Ich saß vor dem Fernseher, ich war noch zu klein und durfte nicht dabei sein, mein Vater hatte es verboten. Aber der Virus, der Virus hatte mich angesteckt.

Meine Tage definierten sich jetzt immer mehr nach meinem Verein.

Meine Karriere als Fan begann. Meine Tage definierten sich jetzt immer mehr nach meinem Verein. Ich stand stundenlang bei Wind und Wetter vor dem Eisentor des Platzes am Rothenbaum und wartete vor und nach dem Training auf die Spieler, um sie Autogramme in meine Alben schreiben zu lassen. Ich lungerte da mit einigen Freunden rum, die häufig auch Konkurrenten waren. Wir kämpften um jede einzelne Unterschrift. Wir hatten immer neue Fotos, Mannschaftsbilder, Spielszenen, Porträts, ich auch. Nie hatte ich genug. Nach dem Training, wenn die Spieler über die Straße zum Vereinslokal auf der anderen Seite mussten, versuchte ich mit ihnen durch den Nebeneingang zu schlüpfen. Was kaum einmal gelang.

Hinter der Haupttribüne gab es einen kleinen Bolzplatz aus Sand. Eines Nachmittags war kein Training. Alle wussten das offenbar, außer mir, der wie immer vor dem Tor stand, und Gert Dörfel. „Charly“ riefen sie ihn, weil er so viel Quatsch machte und manchmal nicht gerade den tiefen Teller erfunden zu haben schien. Dörfel war immer ein bisschen anders, und er war neidisch auf Uwe Seeler, den „Bomber“, auf Jürgen Werner, den Intellektuellen, auf Klaus Stürmer, das gut aussehende Talent. Aber er war ein klasse Linksaußen, wie wir ihn in Deutschland selten hatten. Ein Flankengott und torgefährlich dazu. Dörfel, Seeler, Tor – so hieß es damals oft nach seinen Flankenläufen.

Jetzt stand er wie vergessen auf dem Bolzplatz, auf dem sie sich sonst warm machten, und schoss lustlos den Ball gegen die Tribünenwand aus Holz, dass es nur so schepperte, noch mal und noch mal. Ich traute mich aufs Gelände, was eigentlich streng verboten war („Eltern haften für ihre Kinder“). Und Charly rief: „Ey, Lütter, hol ma’ den Ball, man“, als einer versprang, „mach mal ’n beten to“.

So ging das eine Weile, Charly bolzte, und ich machte den Balljungen. Ich empfand das durchaus als Ehre. Wer von den anderen konnte so eine Geschichte schon erzählen? Als Dank bekam ich Autogramme und eine ganz persönliche Widmung für meine neueste Errungenschaft, ein Sortiment von Schwarz-Weiß-Fotos der aktuellen Nationalspieler, zu denen Dörfel damals gehörte. Das Album mit den Fotos steht noch heute bei mir im Regal.

Zu Spielen der Regionalliga Nord am Rothenbaum ging ich nun regelmäßig. Ich stand in der Kurve vor der Kirche am Turmweg. Oft schaffte ich es, ungesehen über den Zaun zu klettern, und sparte mein Taschengeld. Es waren besondere Spiele, vor allem die Atmosphäre in dem kleinen, engen Stadion, wenn es proppenvoll war. Bis zu 30.000 Zuschauer sollen manchmal dabei gewesen sein, für heutige Verhältnisse unvorstellbar. Von Sicherheitsvorkehrungen war damals keine Rede. Einmal war das enge Stadion gegen Werder Bremen so überfüllt, dass wir Zuschauer uns aus der Kurve direkt bis hinters Tor und an die Torauslinie drängten. Mit Fahnen und allem Klimbim. Der Schiri ließ trotzdem unbeirrt weiterspielen. Manchmal legte sich Charly Dörfel auch vor einer Ecke erst mal mit Zuschauern an, die auf der Haupttribüne bis dicht an den Spielfeldrand saßen und nicht immer nur nette Kommentare abgaben.

Dörfel, Seeler, Tor.

Es dauerte noch ein Jahr, bis meine Mutter mich im Sommer, rechtzeitig vor meinem Geburtstag, eines Tages fragte: „Was wünschst du dir? Hast du schon einen Wunschzettel geschrieben?“ Die Frage war lieb gemeint, aber ziemlich rhetorisch. Denn geschenkt wurde damals vor allem „etwas Nützliches“, wie meine Mutter gern sagte.

Meine Eltern mussten ihr Geld zusammenhalten, mein Vater war einfacher Hafenarbeiter, meine Mutter verdiente etwas durch Putzen bei einem Augenarzt dazu. Wenn ich mir also einen roten Pullover oder „Nicki“ wünschte, weil alle so einen hatten, bekam ich schon mal einen blauen. „Ist doch auch schön. Und viel praktischer“, hieß es dann, gemeint war natürlich „billiger“. Ich verfluchte meine Eltern manchmal dafür.

Im Sommer 1961 war alles anders. Ich hatte ein neues Leben und brauchte nichts „Nützliches“. Ich brauchte eine HSV-Fahne. „Andere Wünsche habe ich nicht“, verkündete ich. Was sollte daran so schwer sein? Andere hatten ja schließlich auch eine.

Tatsächlich war das gar nicht so einfach, selbst wenn man gewollt hätte. HSV-Flaggen gab es bei Fahnen-Fleck und sonst nirgends, zumindest in meiner kleinen Welt. Fan-Shops waren noch nicht erfunden, andere Bezugsquellen gab es nicht. Eine Größe hatte Fahnen-Fleck vorrätig, das hatte ich gecheckt. 50 mal 78 Zentimeter, aus festem Baumwolltuch und mit aufgenähter Raute, kostete rund 40 Mark. Es gab wohl auch eine größere, aber die war sowieso nicht drin. Schon die kleine war meinen Eltern, na klar, zu teuer. „Kommt nicht in Frage, für so’n Tinnef“ – die Ansage war hamburgisch und glasklar: Unsinn. Meine Taktik war aber auch glasklar: Ich wollte nichts anderes, um keinen Preis. Die Fahne. Oder nichts. Natürlich bekam ich dann doch Geschenke, aber halt irgendwelche, die meine Mutter sich ausgedacht hatte und praktisch waren, der Tag war jedenfalls im Eimer.

Zu solchen Kraftproben kam es noch zweimal, dann hatte ich mich durchgesetzt. Zu Weihnachten war meine Ansage ebenso deutlich: „Eine HSV-Flagge, sonst nichts.“ Und ebenso zum nächsten Geburtstag. Als dieser Machtkampf am darauf folgenden Weihnachtsfest schon wieder nach hinten loszugehen schien, griff mein Vater triumphierend in einen toten Winkel zwischen unserem schweren, dunkelbraunen Wohnzimmerschrank und der Wand. Und da stand sie: an einem schwarzen Stiel mit goldener Spitze. Es war Heiligabend 1962, und es war ein Wunder geschehen. Ich hatte meine erste HSV-Fahne.

Es gibt sie noch heute. Jetzt liegt sie verstaubt im Schlafzimmer im toten Winkel. Mit den Unterschriften der Kumpels, mit denen ich zusammen den Europacup-Sieg 1977 in Amsterdam gesehen hatte. Aber ohne goldene Spitze.



Подняться наверх