Читать книгу Der Weg des Vagabunden - Manfred Lafrentz - Страница 4
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ОглавлениеAn der Vorderfront des Hauses führte eine Treppe zum Eingangstor hinauf. Darüber erhoben sich unregelmäßig rechteckige Aufbauten und Türme, deren höchster weit über das Dach hinausragte. An den Seiten des trotz seiner seltsamen Form geräumig wirkenden Hauses befanden sich niedrigere Anbauten, die nach hinten hinaus lagen und die ich für Stallungen hielt. Das ganze Gebäude wirkte verlassen und still und auf beunruhigende Weise – so empfand ich es jedenfalls – lauernd.
„Also“, sagte ich, als wir im Schatten der Bäume vor dem Tor stehen geblieben waren, „Ihr wollt sicher hineingehen und nach dem Rechten sehen. Ich werde hier auf Euch warten, und wenn etwas ist, macht Euch bemerkbar, damit ich davonlaufen kann.“
„Aber, aber!“, Der Zauberer schmunzelte. „Ihr seid doch nicht wirklich so ein Hasenfuß, oder?“
„Ich will einfach keinen Ärger, und wenn ich ihn vermeiden kann, ist es ein Zeichen von großem Verstand, es auch zu tun“, sagte ich und wählte beiläufig am Horizont die Richtung aus, in die ich verschwinden wollte.
„Jetzt lasst uns erst mal hineingehen, oder seht Ihr vielleicht irgendeine Gefahr, die uns droht?“ Damit schob der Zauberer mich auf den Eingang zu.
„Gefahren kann man nicht immer auf den ersten Blick erkennen, und ich habe den Eindruck“, sagte ich, während ich mich gegen seine Drängelei zu wehren versuchte, „dass Ihr einfach Angst habt, allein dort hineinzugehen!“
„Ach was!“, keuchte er. „Stellt Euch nicht so an!“ Dabei schob er mich weiter, und während wir so miteinander rangen, stolperten wir über die ersten Treppenstufen. Als wir beide auf unserem Hintern landeten, öffnete sich plötzlich über uns die Eingangstür.
Der Zauberer schrie, und ich schrie auch – aber nicht so laut wie er –, wir klammerten uns aneinander – er klammerte fester als ich – und starrten gebannt zum Eingang hinauf. Dort war niemand zu sehen.
„Lasst mich los!“, schrie ich. „Ich will hier weg!“
„Nein, nein, Ihr seht doch, da ist nichts!“ Er hielt mich fest.
„Aber drinnen ist etwas!“ Ich versuchte mich loszureißen. „Warum wäre sonst die Tür aufgegangen?“
„Das war nur der Wind, der durch das Haus pfeift!“
„Hier weht kein Wind. Da pfeift was anderes!“
„Jetzt reißt Euch endlich zusammen, oder muss ich Euch mit Magie wieder auf den Pfad der Vernunft führen?“ Dabei hob er drohend seinen Holzstab gegen mich.
Die Drohung wirkte. Ich hatte keine Ahnung, was er mit mir anstellen konnte, und wollte es auch nicht herausfinden. Ich verfluchte voll Selbstmitleid meine Höflichkeit, die es mir nicht gestattet hatte, an dem Zauberer vorbeizugehen, als ich ihn schlafend unter dem Baum hatte stehen sehen – nicht einmal meine Salbe hatte er kaufen wollen! –, und stieg in dem sicheren Gefühl, einem schrecklichen Unheil entgegenzutreten, neben, nein eigentlich vor meinem tyrannischen Weggefährten die restlichen Stufen zur Tür hinauf und trat ein.
Zitternd und angestrengt ins Ungewisse spähend, durchquerte ich einen Gang, der mich in einen großen, lichtdurchfluteten Raum führte. Das Licht strömte durch breite Fenster in der hinteren Wand des Raumes herein, die Ausblick auf einen entzückenden Garten gewährten. Ganz bezaubert von der Idylle vergaß ich augenblicklich meine Befürchtungen und betrachtete bewundernd die mit kostbaren Stoffen überzogenen Stühle und Liegen, die Tische, einige aus Marmor, andere aus Holz, mit kunstvoll geschnitzten Verzierungen. An den Wänden standen Schränke voller Vasen, Figuren und ähnlich schöner Dinge, die auch überall im Raum verteilt standen, ohne dass dieser überladen gewirkt hätte. Zwischen den Schränken hingen Musikinstrumente und breite Wandteppiche mit szenischen Darstellungen. Ihre Farben leuchteten hell, wo das Sonnenlicht auf sie traf, und glühten geheimnisvoll dort, wo Schatten auf sie fiel. Auch ein Gemälde hing dort. Es zeigte eine ausnehmende schöne und bezaubernden Frau mit einem verklärten, von langen Locken umgebenen Gesicht. Kurz gesagt, die Behausung gefiel mir außerordentlich, und ich war gerade dabei, mir träumerisch auszumalen, wie behaglich und angenehm es sich hier leben ließe, als ich weit hinter mir die Stimme des Zauberers vernahm.
„Ist da was?“, rief er mit zittriger Stimme.
„Wie man´s nimmt“, antwortete ich versonnen.
Der alte Magier trat mit einem Grunzen ein und riss mich in die Wirklichkeit zurück.
„Hier ist Unheil geschehen“, sagte er.
Ich hatte keine Ahnung, wie er in dieser Umgebung so eine Behauptung aufstellen konnte, und wollte gerade auf die ästhetischen Vorzüge der Einrichtung hinweisen, als es mich plötzlich eiskalt anwehte, mehrmals und aus verschiedenen Richtungen. Dabei war ein Seufzen und Wimmern zu vernehmen, das mich womöglich noch mehr erschauern ließ.
„Geister“, sagte der Zauberer und packte mich am Arm, denn dieses eine Wort hatte genügt, um mir die Notwendigkeit augenblicklicher, würdevoller, aber zügiger Flucht vor Augen zu führen.
„Wartet! Wir müssen mit ihnen reden.“
„Wie bitte?“, japste ich. „Wir sollen mit Geistern reden? Seid Ihr von allen guten …“ Ich brach ab, denn die Redewendung schien plötzlich unangebracht.
Der Alte hob seinen Holzstab. „Sie können uns sagen, was hier passiert ist. Ihre Anwesenheit ist unnatürlich und dürfte nicht sein.“
Das fand ich allerdings auch, aber trotz seines Alters hatte der Mann einen eisenharten Griff, und da ich mich nicht losreißen konnte, musste ich mit ansehen, wie er anfing Beschwörungen zu murmeln und dabei mehrmals seinen Stab auf den Boden zu stoßen. Die Luft vor uns begann zu flimmern, an einigen Stellen des Raumes wurde das Licht der Nachmittagssonne dunstig, bis ich schließlich vermeinte, dort menschliche Umrisse erkennen zu können.
„Geister dieses Hauses!“, rief der Zauberer mit tiefer Stimme. „Erzählt uns, wodurch ihr gebannt worden seid!“
Die flackernden Umrisse – es mögen acht oder neun gewesen sein, durch die Überlagerungen war es schwer erkennbar – wanden sich unruhig hin und her und gaben murmelnde Laute von sich, von denen sich allmählich eine deutliche Stimme abhob.
„Ihr Herren, hört unser Unglück!“, sagte sie. „Dieses Haus gehört Lord Sylvan, ein guter und gerechter Mensch, der den Süden mit seinem geliebten Weib verließ, als dieses sehr krank wurde, und die Einsamkeit suchte, um sich in Studien zu vergraben, von denen er sich die Heilung seiner Gattin erhoffte. Wir waren seine Diener und versorgten dieses Haus, aber wir bekamen ihn immer seltener zu Gesicht. Wir sorgten uns, doch blieb er unzugänglich. Manchmal öffnete er tagelang die Tür seines Studierzimmers nicht. Dann aber starb seine Gemahlin. Lord Sylvan war untröstlich, klagte sich selbst an, weil er versagt hätte, und zog sich wie rasend in sein Studierzimmer zurück.
Am nächsten Morgen – es mag einen Mond her sein – sprang die Tür auf, und ein Ungeheuer kam heraus, wütete unter uns und fraß uns alle auf. Unsere Seelen aber spie es wieder aus, und seitdem sind wir an dieses Haus gebunden und können die Welt nicht verlassen und dahin gehen, wohin wir gehören.
Das Ungeheuer aber war Lord Sylvan. Wir wissen nicht, wie es zur Verwandlung kam, seine Studien haben ihn wohl auf unglückselige Abwege geführt. Vielleicht hat er versucht, seine Gemahlin aus dem Totenreich zurückzuholen, und ist zum Opfer seines Frevels geworden. Ihr Leichnam war verschwunden. Vielleicht hat er auch ihn gefressen.
Seitdem hält er sich nicht weit von hier im Wald versteckt, und wann immer jemand sein Haus betritt, eilt er herbei, und es geht den Unglücklichen wie uns. Schon vier oder fünf haben unsere Zahl vermehrt. Auch Euch wird dieses Schicksal jetzt ereilen. Bald werdet Ihr mit uns klagend durch diese Räume wehen!“
Ich erschrak, als ich dies hörte. „Wir müssen fort!“, schrie ich.
Der Zauberer nickte und schaute verwirrt um sich.
„Zu spät!“, rief die Geisterstimme mit hohlem Klang. Viele flackernde Formen umdrängten uns jetzt. „Er ist schon fast hier!“
Die Worte wurden leiser und gingen in dem allgemeinen Gewimmer unter, das uns in den Ohren klingelte, während mir Eiseskälte in die Knochen fuhr.
„Was machen wir jetzt?“, rief ich verzagt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die trügerische Idylle der Schönheit, die uns umgab, der lichtdurchflutete Raum, nun ward er zum Albtraum, zu einer tödlichen Falle.
Der Zauberer sah sich hastig um und deutete auf eine Wendeltreppe in einer Ecke des Raumes. „Lasst uns nach oben gehen und sehen, was draußen vor sich geht!“ Er rannte mitten durch die flackernden Lichtgebilde der Geister, und mir blieb nichts übrig, als ihm zu folgen.
Wir hasteten die Treppe hinauf und kamen zu einer geborstenen Tür. Ich nahm an, es war diejenige, die Lord Sylvan zerstört hatte, und tatsächlich, als wir über die Schwelle liefen, kamen wir in ein rundes Turmzimmer, dessen Wände ringsum mit dicken Folianten vollgestellt waren. Auf Tischen standen unzählige Schalen und Behältnisse, manche mit Korken verschlossen, andere offen und leer, einige lagen zerbrochen auf dem Boden. Herabgebrannte Kerzenstummel waren überall in der Kammer verteilt, manche sogar mit Totenschädeln als Untersetzer. Über allem lag eine undefinierbare muffige Mischung aus Gerüchen.
„Da!“, rief der Zauberer und zeigte auf eine schmale Tür zwischen den Bücherregalen. Er sprang zu ihr hin und riss sie auf. Wir stolperten hinaus und erreichten einen Ausguck, einen schmalen Gang, der um den Turm herumlief und von einer hüfthohen Mauer umgeben war. Von dort, wo wir nun standen, dem höchsten zugänglichen Punkt des Gebäudes, hatten wir einen uneingeschränkten Ausblick auf die Ebene, die uns umgab.
„Da kommt er“, sagte der Zauberer und wies mit einem zittrigen Finger zum Horizont.
Ich konnte nichts erkennen und hoffte, dass mein Gefährte einer Täuschung unterlag, aber dann entdeckte ich einen dunklen Fleck im Grün der Ebene, der sich beängstigend schnell näherte. Bald konnte ich eine seltsame Gestalt ausmachen, deren massiger Körper Ähnlichkeit mit dem eines Stieres hatte, jedoch war der Kopf riesig. Aus dem weit aufgerissenen Maul ragten fürchterliche Hauer von der Größe meiner Hand. Je näher das Monstrum kam, desto deutlicher konnte ich die wild rollenden Augen erkennen und die grenzenlose Wut und Mordlust, die uns aus ihnen entgegensprühte.
„Wir sind des Todes!“, schrie ich, und alle Glieder schlotterten mir bei dieser Aussicht. „Ich will nicht gefressen werden und in diesem verfluchten Haus herumspuken!“
„Nun ja“, sagte der Zauberer düster, „auch ich hatte nicht vor, meine Tage in der Welt so zu beenden.“
„Tut was! Benutzt Magie!“
„Das ist nicht so einfach, mein Freund. Meine Magie dient dazu, verborgene Dinge hervorzubringen.“
„Dann bringt ein Hindernis hervor, das dieses Ungeheuer nicht überwinden kann!“
„Ich will es versuchen.“ Er hob seinen Holzstab und begann vor sich hin zu murmeln.
Auf der Ebene erhoben sich vor dem heranstürmenden Monstrum plötzlich Erdwälle, gespickt mit Felsbrocken und halb vermoderten Knochen. Wutschnaubend übersprang es sie und wurde nicht einmal langsamer dabei.
„Ist das alles?“, rief ich verzweifelt.
„Leider ja“, sagte der Zauberer kläglich. „Hier ist einfach nicht so viel verborgen, das ich hervorbringen könnte.“ Seine Stimme nahm einen quengeligen Ton an. „Außerdem bin ich auch nicht für solche Situationen ausgebildet worden. Ich habe …“
„Warum seid dann ausgerechnet Ihr hierhergeschickt geworden?“, schrie ich aufgebracht.
„Es hatte gerade kein anderer Zauberer Zeit!“, schrie er zurück.
„Ihr seid ein nichtsnutziger alter …“ Ich bezwang meine Erregung. In unserer Lage waren Beleidigungen nicht hilfreich.
Während mein Blick wie gebannt auf dem immer näher kommenden Ungeheuer hing, rasten meine Gedanken. Die Worte der Geister kamen mir in den Sinn. Dieses Untier war Lord Sylvan, und er hatte versucht, seine verstorbene Gemahlin wieder zum Leben zu erwecken.
Gemahlin! Gemahlin!
Eine Idee traf mich wie ein Blitz, und ohne lange zu überlegen rannte ich zurück ins Haus. Der Zauberer rief mir etwas hinterher, aber ich achtete nicht darauf und flog stattdessen die Wendeltreppe hinunter in den großen, herrlich ausgestatteten Raum. Ich riss das Bildnis der Frau, das dort hing, von der Wand und rannte augenblicklich die Treppe wieder hoch und hinaus auf den Ausguck. Den Zauberer, der mir im Weg stand, schubste ich ohne viel Federlesens beiseite und hielt das Gemälde mit beiden Händen hoch über meinen Kopf.
Das Ungeheuer war inzwischen vor dem Haus angekommen. Ich wedelte mit dem Bild in der Luft herum, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Das Monstrum blieb abrupt stehen und starrte das Bild an. Dann geschah etwas Seltsames. Dieses schreckenerregende Untier fing an, herzzerreißend zu heulen. Es klang so klagend und trauervoll, dass mir fast selbst die Tränen gekommen wären. Während ich mit zitternden Armen weiterhin das Gemälde hochhielt, beobachtete ich, wie das Ungeheuer immer weiter in sich zusammensank, bis es einem Häuflein Unglück glich. So hockte es eine Weile im Gras und dann schlich es davon. Jawohl! Es schlich davon wie ein geprügelter Hund und verschwand in die Richtung, aus der es gekommen war, vermutlich, um sich im Wald gründlich auszuweinen.
Erleichtert ließ ich die Arme sinken und stellte das Bild ab. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen! Meine Knie zitterten so heftig, dass ich mich auf den Boden des Ausgucks sinken ließ und mich mit dem Rücken an die Wand lehnen musste.
Der Zauberer setzte sich neben mich. An seinem bleichen Gesicht konnte ich die gleiche Erschütterung ablesen, die auch mich erfasst hatte. Eine Weile lang saßen wir nur da und schwiegen.
Schließlich ergriff der Zauberer das Wort.
„Das war sehr geistesgegenwärtig von Euch!“, sagte er. „Alle Achtung!“
Ich war zu erledigt, um mich von seinem Kompliment beeindrucken zu lassen, und winkte nur ab.
„Nein, nein“, versicherte er. „Ihr seid ein kluger Bursche, klüger als Ihr ausseht, wenn ich das bemerken darf, und habt instinktiv und schnell das Richtige erfasst.“
„Das habe ich wohl“, sagte ich, etwas gekränkt wegen seiner Bemerkung über mein Aussehen.
„Dieser Lord Sylvan muss in seiner Verzweiflung dunkle Magie angewandt haben, um seine Gemahlin nicht ans Totenreich zu verlieren. Das ist eine schwerwiegende Angelegenheit.“ Er wirkte plötzlich sehr ernst. „Durch solch eine unnatürliche Gestaltwandlung, wie er sie bewirkt hat, kann ein Riss in der natürlichen Ordnung des Weltengefüges entstehen.“
„Aha“, sagte ich, hörte aber nur halb hin, da ich mich immer noch darüber freute, am Leben zu sein.
Der Zauberer schlug mit der rechten Faust in seine linke Hand. „Also habe ich recht gehabt, als ich in Lord Sylvans Haus die Quelle dunkelmagischer Vorgänge lokalisierte. Das ist nämlich die wichtigste Aufgabe eines Zauberers, müsst Ihr wissen. Dazu braucht es die höchste Konzentration des gesamten Rates der Zauberer. Ihr müsst das verstehen“, sagte er eindringlich. „So ein Riss ist eine ernste Sache. Die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten könnte fallen. Die Anwesenheit der Geister ist ein Indiz dafür, dass es schon begonnen hat. Sie können nicht ins Totenreich gehen, also wird der Weg dahin anscheinend blockiert.“ Er schien kurz nachzudenken. „Vor einem Mond hat Lord Sylvan sich verwandelt, und zu der Zeit muss auch der Riss im Weltengefüge entstanden sein.“ Er packte mich am Arm. „Versteht Ihr, was das bedeutet?“
„Ich habe überhaupt keine Ahnung, wovon Ihr redet“, antwortete ich müde.
„Es bedeutet“, rief der Zauberer und verstärkte dabei seinen Griff so sehr, dass ich empört aufstöhnte, „dass die Toten seitdem aus dem Totenreich hervorströmen und dadurch den Weg dahin versperren!“
„Das klingt beunruhigend“, sagte ich und zerrte meinen geplagten Arm aus seinem Griff.
„Beunruhigend, allerdings!“, rief er. „Je mehr Tote aus dem Totenreich hervorkommen, desto größer wird die Gefahr, dass die bestehende Ordnung der Welt zerstört wird und ein Chaos entsteht, in dem alles versinken wird. Das wird der Untergang der Welt sein, wie wir sie kennen.“
„Das wäre schade“, sagte ich und versuchte Bestürzung zu mimen.
Der Zauberer starrte mich eine Weile lang an.
„Schade?“, schrie er dann. „Schade? Ihr begreift offenbar nicht, was das alles zu bedeuten hat! Möglicherweise wird die Welt in ein paar Tagen untergehen, und Ihr findet es schade?“
„Also gut!“, sagte ich ungeduldig. „Es ist entsetzlich! Aber was wollt Ihr eigentlich von mir?“
„Wir müssen etwas dagegen unternehmen“, sagte er. „Vor allem müssen wir Lord Sylvan von dem Fluch erlösen, den er auf sich geladen hat, um dadurch den Riss im Weltengefüge zu schließen, der so lange weiterbestehen wird wie der Lord in dieser Gestalt gefangen ist.“
„Wir?“, fragte ich, nun sehr aufmerksam geworden. „Wir?“
„Natürlich“, sagte der Zauberer streng. „Euch geht das doch genauso an.“
„Was habe ich damit zu schaffen?“, fragte ich. „Ich verstehe nichts von Weltgefügen und derlei Dingen. Das ist doch wohl eher etwas für gelehrte Leute wie Euch. Und überhaupt“, fügte ich hastig hinzu, „muss ich jetzt gehen. ich wünsche Euch viel Glück und gutes Gelingen beim Erlösen von Lord Sylvan. Ich für mein Teil möchte ihm nie wieder begegnen.“ Damit wollte ich aufstehen, um dieses unglückselige Haus zu verlassen, aber er packte mich wieder am Arm, und sein Griff war bekanntlich von eisenharter Beschaffenheit.
„Nichts da, Freund! Da Ihr nun von der Sache wisst, seid Ihr aufgerufen, alles zu tun, um das Schicksal der Welt zum Guten zu wenden. Ihr könnt Euch nicht einfach davonmachen. Und wozu wäre das auch gut? Über kurz oder lang wäret Ihr wie alle anderen Menschen dem Untergang geweiht, begreift Ihr das nicht? Jemand muss versuchen, das Unheil aufzuhalten.“
„Aber was kann ich schon tun?“, jammerte ich. „Ich würde Euch keine Hilfe sein.“
„Ihr könntet mir die Unterstützung gewähren, die ich brauche. Eben gerade habt Ihr Euch als sehr klug und geistesgegenwärtig erwiesen.“
„Aber nur weil mein Leben unmittelbar in Gefahr war“, beteuerte ich. „Ich bin nicht klüger als ich aussehe, glaubt mir!“
„Wie auch immer“, sagte der Zauberer, „ich nehme Euch in meine Dienste. Ich werde nach Osten gehen und das Problem vor den Rat der Zauberer bringen. Je mehr Leute von der Sache erfahren, desto besser. Falls mir etwas zustoßen sollte, müsst Ihr die Botschaft weitertragen. Das ist wichtig und dringend geboten. Wollt Ihr Euch der Verantwortung entziehen?“
Das hätte ich gerne getan, sah aber im Moment keine Möglichkeit dazu.
„Also gut“, brummte ich. „Ich komme erst mal mit Euch.“ Diese vage Absichtserklärung fiel mir umso leichter, als ich ohnehin nach Osten wollte, denn im Westen erstreckte sich offenbar nur diese Grasebene und in den Süden konnte ich aus bekannten Gründen vorläufig nicht wieder zurück. Ich hoffte, dass ich bald Gelegenheit finden würde, dem alten Zausel zu entwischen.
„Na also!“, sagte er erfreut. „Wir bleiben heute Nacht in diesem Haus und brechen morgen früh auf. Ich nehme an, der Anblick seiner Gemahlin hat Lord Sylvan so mitgenommen, dass er eine Weile Ruhe geben wird.“
Ich fragte mich beunruhigt, ob er recht hatte. War das Ungeheuer wirklich gezähmt oder würde seine Wut schnell wieder aufflammen, wenn es sich beruhigt hatte?
Als ich kurze Zeit später, eingewickelt in eine kostbare Samtdecke, auf einem Diwan in dem Raum lag, den ich ein Weilchen zuvor so bewundert hatte, dachte ich, dass ich nach diesem seltsamsten aller Tage sicher keinen Schlaf finden würde.
Dann schlief ich ein.