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Kapitel 1 - Vertreibung aus einem zweifelhaften Paradies

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Das ferne, anfangs sanfte Summen wurde immer lauter. Schließlich dröhnte es, als sei ein Suchoi-Jäger im Anflug. Borja blinzelte mühsam unter geschwollenen Lidern in das grelle Tageslicht. Mit einer unkontrollierten Handbewegung schlug er nach der Mücke, deren Fluggeräusch sich in seinem verkaterten Schädel erbarmungslos zu schmerzhaft gefühlten 120 Dezibel hochschaukelte. Wortlos verfluchte der den gestrigen Abend. Diese Moskauer, hol' sie der Teufel! Wieder war er auf ihre Art zu trinken hereingefallen. Den sauberen Wodka mit Bier hinunterzuspülen, das war, selbst wenn es an Sakuski nicht mangelte, einfach kulturlos. So etwas taten vielleicht Deutsche, Polen oder Finnen – aber doch kein Russe!

Nun, die Moskauer schon. Alkoholiker, alle miteinander. Und ich bin ein Idiot, sinnierte Borja in einer Mischung aus Selbstkritik und Selbstmitleid. Dabei hatte sich der alte Mendelejew, die Erde sei ihm leicht, solche Mühe gegeben, um aus reinem Sprit und noch reinerem russischen Wasser die geniale Mischung zu kreieren, die den Namen Wodka erhielt und den Ruhm Russlands um den Erdball trug. Borja, ein wenig stolz auf den großen Landsmann, drehte sich auf seinem Feldbett schnaufend auf die Seite. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, die Hitze im Zelt wurde langsam unerträglich.

Nicht auszudenken, wenn sich der Entdecker des Periodensystems der Elemente beim Mischungsverhältnis vergriffen hätte. Zwei, drei Prozent zu viel oder zu wenig Sprit – und schreckliche Schäden für die Gesundheit der Trinker wären die Folge gewesen. So aber, mit seinen ehern eingehaltenen 40 Umdrehungen, da konnte man gewiss sein, diente der „Tischwein Nr. 21“ der Gesundheit. Vor allem, wenn das wunderbare Narsan-Mineralwasser zum Nachspülen bereitstand.

Borschomi gab es ja leider schon lange nicht mehr. Schade. Nun ja, das hatten sich die Georgier selbst zuzuschreiben. Was mussten sie sich auch mit uns anlegen. Sollen sie doch sehen, wo sie mit ihrem Mineralwasser und ihrem Wein blieben. Unbotmäßige werden eben abgestraft und boykottiert, stimmte Borja im Stillen den patriotischen Rednern des Vortages zu. Ihren Vorträgen zu lauschen war Pflicht.

„Ihr habt hier alle Freiheiten.“ Mit diesen Worten hatte Lagerchef Timofejew ihn und die anderen Neuankömmlinge im Sommerlager der Kreml-Jugend begrüßt. Borja kannte das Begrüßungsritual aus den vergangenen Jahren, er war bereits das dritte Mal im Lager am See. „Freiheit? Ja, aber…“, Timofejew hob warnend den Zeigefinger. Eine ironische Stimme im Hintergrund zischelte etwas von „… Sender Jerewan…“ , Timofejews Blick blieb ärgerlich an Borja hängen. Der fühlte sich unangenehm berührt, leichte Röte färbte sein Gesicht. Dabei hatte er doch gar nichts gesagt! Der Ärger über die Reaktion, die er immer noch nicht gelernt hatte zu steuern und die seinen Freunden schon oft Anlass zu ätzendem Spott gewesen war, verstärkte die Färbung nur noch. So musste sich ein roter Kinderluftballon im prallen Sonnenlicht fühlen.

Timofejew wandte seinen Blick von ihm ab, richtete die Augen in die lichte Ferne und holte tief Luft. „Freiheit heißt natürlich nicht, dass alles erlaubt wäre“, schärfte der kleine knorrige Mann seinem Auditorium ein, während er elastisch auf den Fußballen wippte, um ein paar Zentimeter an Höhe zu gewinnen. Er wusste, dass man ihn hinter seinem Rücken „kleiner Napoleon“ nannte, aber der Zwang, sich zu recken, war stärker. Zügig zählte er auf, was alles verboten und geboten war. Borja ließ die Ermahnungen gleichgültig an seinem Ohr vorbei rauschen. „Patriotischer Geist…, kategorisches Alkoholverbot…, vaterländische Pflichten...“, viel hatte sich seit dem Jahr zuvor offenbar nicht geändert.

„Wir“, tönte Timofejew ins Mikrofon und versuchte dabei, seinem Tenor die stimmliche Festigkeit eines russischen Muschiks abzuringen, „sind berufen! Wir sind berufen, eine neue, selbstlose, national gesinnte Elite in Wirtschaft und Politik zu bilden, eine Elite, die an das Wohl der Nation und nicht an ihr eigenes denkt.“ Tief holte der Redner Luft, ließ sich ein Glas Wasser reichen, um dann den Schlusspunkt zu setzen: „Um diesen Auftrag zu erfüllen, haben wir alle Freiheiten.“

Die Neuankömmlinge klatschten begeistert. Nur die Stimme hinter Borjas Rücken schien vor Ironie zu triefen. „Freiheit? Das ist doch bei uns nur die Fähigkeit, nicht an der Kette zu zerren.“ Borja drehte sich um und blickte in das grinsende runde Gesicht eines pickligen Jünglings mit schwarzgeränderter Brille. „Sascha“, stellte der sich vor und reichte ihm seine Hand. Zwei Tage später sah Borja, wie die Lagerwache Sascha zum Ausgang eskortierte. Der Dummkopf hatte sich in einer Fragestunde mit einem hohen Tier aus dem Kreml doch wirklich erkundigt, ob es der Präsident mit einer Turmspringerin treibe, wie gemunkelt werde. Durak!

Vor dem Zelt wurden schnatternde Mädchenstimmen laut. Ihre Inhaberinnen kamen wohl vom morgendlichen Aufgalopp, dem Lauf rund um das Lager am See, den Timofejew meist selbst anführte. Mit einem unerträglich lauten Ratschen wurde der Zelteingang aufgerissen. Eine fröhliche weibliche Stimmung trompetete: „Guten Morgen! Wünsche wohl geschlafen zu haben!“ Borja schwang seine nackten Beine in Zeitlupentempo von der Schlafstatt und krächzte heiser, „es gibt keinen guten Morgen“. Warja, die Brünette aus der Region Twer, war heute für das Frühstück zuständig. Die Mädchen der Gruppe wechselten sich untereinander ab, überzeugt, dass dem männlichen Geschlecht derlei Handreichungen nicht zuzumuten waren. Und selbst wenn – benahmen sie sich nicht wie Tölpel? Man konnte gar nicht zusehen bei den wenigen dilettantischen Versuchen, Haushaltspflichten zu übernehmen. Da machte es die Mädchen schon lieber selbst.

Borja nahm die Dienstfertigkeit der Mädchen entgegen, ohne groß darüber nachzudenken. Warum auch? Zu Hause achtete die Großmutter darauf, dass der Kronprinz der Familie im Haushalt keine Hand zu rühren brauchte. Hier waren es eben die drallen Mädels, denen das Schicksal die Rolle von künftigen Müttern und Großmüttern zugewiesen hatte. Borja, der noch immer unter etwas zähem Gedankenfluss litt, empfand das nur als recht und billig. So war die Welt eben eingerichtet. Im Stillen dankte er Gott, dass er mit einem Schwanz geboren worden war. Damit war das Leben doch um einiges leichter.

Nachdenklich legte er seine Stirn in tiefe Falten. Krampfhaft versuchte er sich an den Witz zu erinnern, den Wowa, von den weiblichen Wesen des Jugendlagers heftig umschwärmt, von sich gegeben hatte. Das Gelächter und den Beifall hatte Borja noch im Ohr. Aber was da so erheiternd war, daran konnte er sich nur sehr vage erinnern: Die Frau, hatte Wowa getönt, sei der beste Freund des Menschen, woraufhin auch die Mädchen lachten. Borja grübelte. War das nicht eigentlich der Hund? Und was ist daran komisch? Er wusste es nicht.

Eifrig klapperte Warja mit Besteck und Geschirr. Dabei blickte sie wie beiläufig in seine Richtung. „Na, die Flasche wieder bis zum Boden gelehrt?“, lästerte sie. Borja schien indes, dass in ihren Augen ein Anflug trauriger Enttäuschung erkennbar war. Nun ja, er hatte ihr am Abend zu verstehen gegeben, dass er an ihr interessiert war und sie in ein Gespräch über Gott und die Welt verwickelt. Schon bald hatte sie sich zutraulich an seine Schulter gelehnt und ihm mit strahlenden Augen einen Blick in ihre Seele gestattet.

„Weißt du, natürlich sollte auch eine Frau gebildet sein. Ich zum Beispiel will studieren, am besten Philosophie oder Soziologie, das kommt der weiblichen Psyche entgegen. Exakte Wissenschaften sind doch eher ´was für die rationaleren Männer“, redete sie auf ihn ein. „Eine Frau sollte immer eine Frau bleiben“, warf Borja mit der Überlegenheit seiner drei Jahre älteren Männlichkeit ein. „Na klar!“ Warja nickte. Schließlich war das weibliche Wesen für das Schöne und Gute im Leben zuständig, für Kinder und Familie und dafür, dem Gatten ein schönes Heim zu gestalten.

Tief in ihrem Innern meldete sich allerdings Widerspruch, der aus der realen Umwelt genährt wurde. Kaum eine Familie in ihrem Heimatdorf Krajewo war noch intakt. Die meisten Familien bestanden nur noch aus den Müttern mit ihren Kindern. Die Männer hatten sich mehrheitlich längst aus dem Staube gemacht, dem öden Landleben mit seinem zerfallenen Kolchos den Rücken gekehrt. Die daheim Gebliebenen beteten den Gott der saufenden Philosophen an, den Samogon.

In ihrer Familie lagen die Dinge freilich etwas anders. Warjas Mutter, im Malen durchaus talentiert, wie die Lehrerinnen in der Schule meinten, gab eines Tages ihrer künstlerischen Ader nach. Sie verschwand aus Krajewo. Auf einem zurückgelassenen Zettel stand lediglich: „Ich kann so nicht weiter leben, ich muss hier raus! Verzeiht mir.“ Kam das Gespräch zu Hause auf den Ausbruch seiner Tochter, brummte der Großvater abfällig, „eine rossige Stute hältst du nicht im Stall“. Es war nicht in der Ordnung der Dinge, wenn eine Frau sich aufmachte, um ihren eigenen Träumen zu folgen. Auch dann nicht, wenn der Gatte schon seit Jahren irgendwo in Sibirien auf einem Erdgasfeld dem „langen Rubel“ nachjagte und mit einer Kellnerin das Bett teilte. Immerhin schickte er ab und an Geld für Warjas Unterhalt. Was durchaus Seltenheitswert hatte, wie die angehende Philosophin wusste.

Warja erzählte lange und ausführlich, noch nie hatte sie sich so zu einem Jungen hingezogen und gleichzeitig so geborgen gefühlt. Borja genoss ihre Nähe, ihre angenehm duftende Wärme. Aber irgendwann nach dem achten oder zehnten Wodka im Kreise guter Freunde, die männliche Gespräche führten und sich gegenseitig ihre Großartigkeit bestätigten, hatten sich romantische Gefühle und Absichten verflüchtigt.

Schade eigentlich, dachte es in seinem Brummschädel, aber er hatte ja noch ein paar Tage vor sich, um diesen Fehler zu berichtigen. Träge kroch eine Fliege durch eine Bierlache. Wenn ihm nur der Rjasaner nicht in die Quere kam. Borja musterte den Dürren, der sich auf seinem Feldbett räkelte, misstrauisch durch die halb geschlossenen Augen. Der Ex-Kursant der Fallschirmjägerschule, gefeuert wegen mangelnder Muskelmasse und unüberwindbarer Höhenangst, war Warja seit Beginn des Sommerlagers am See wie ein Schatten gefolgt. Vergeblich zwar, aber das musste ja nicht unbedingt so bleiben. Besonders, nachdem er, Borja, sie am vergangenen Abend so enttäuscht hatte. Im Stillen gelobte er Besserung.

Langsam kamen aus den anderen Zelten die Mitglieder seiner 20-er-Gruppe zum Vorschein. Einige, wie er, mit grauem Gesicht. Die tiefen Ringen unter den Augen waren bei den Paaren der Gruppe aber wohl eher auf eine heftige Liebesnacht zurückzuführen. Die Lagerleitung mit ihrem feinen Gespür für die Stimmungen in den Führungsetagen hatte die Losung vom fröhlichen Vermehren ausgegeben, Verhütung stand nicht auf dem Bildungsprogramm. Statt dessen warnten Lektoren eindringlich vor einem Bevölkerungsschwund. Das, so predigten sie mit erhobenem Zeigefinger, sei eine Gefahr für Russlands Rolle als Großmacht des 21. Jahrhunderts.

Katja und Wassja hatten das offensichtlich bereits verinnerlicht. Hand in Hand tänzelten sie beschwingt heran, die unvermeidlichen Papierherzchen um den Hals, auf denen sie verkündeten: “Wir wollen mindestens zehn Kinder, denn wenn wir uns nicht vermehren, sterben wir aus wie die Mammuts.”

Seit sie an einer Massenhochzeit im Lager am See teilgenommen hatten, trugen sie den gemeinsamen Familiennamen Smirnow und lobten den Geist der russischen Familie. Borja, der Wassja etwas besser kannte, staunte über so viel Selbstverleugnung.

“Ach Borja, das mit der Verpflichtungserklärung musst Du nicht so ernst nehmen”, hatte Wassja ihm dann in einer ruhigen Stunde gestanden. “Katja würde das wohl gerne so halten, aber ich? Ich bin doch nicht verrückt! Aber unser Kinderwunsch kommt hier gut an, wir sind beide schon zu einem Seminar für künftige Kommissare eingeladen.”

Langsam schlenderte die blonde Nadja aus St. Petersburg heran. Meeresbiologin wolle sie werden, behauptete sie. Wieder trug sie, wie schon an den anderen Tagen, ein weißes, ärmelloses T-Shirt mit der Aufschrift: “Dima, ich will ein Kind von Dir!” Hungrige Blicke ruhten auf ihrem prächtig ausgeformten Busen.

“Hallo, Nadja, wie viele von diesen Shirts hast Du denn im Koffer? Oder hast Du nur eins und wäschst es jede Nacht?” Borjas Versuch, sich über die Blonde lustig zu machen, verfing nicht.

“Mach Dir keine Sorgen, ich habe Reserven, die reichen bis zur Abschlussveranstaltung”, versicherte die Petersburgerin mit treuherzigem Augenaufschlag.

“Aber was machst Du, wenn der Präsident Dich damit sieht und Dich beim Wort nimmt?”

“Was geht das Dich an?”

“Nun ja, wenn Du hier so öffentlich Angebote machst, wird man ja mal fragen dürfen…”

“Mach Dir keine Sorgen, Saufkopp, ich werde dann schon das Richtige tun.”

“Du bist schon ein verrücktes Huhn.”

“Ach, halt die Klappe.”

Borja schüttelte sich. Wieder so ein verzweifelter Versuch, um höheren Orts angenehm aufzufallen. Da konnte er nur müde lächeln. Das dritte Mal schon hatte er einen Platz im Zeltlager ergattert, von dem man sich im weiten Lande Wunderdinge erzählte. Wer sich anstellig und loyal zeige, so hieß es, könne in den Hierarchien aufsteigen, gar ein warmes Plätzchen in Moskau zugeteilt bekommen, wenn man einem der Funktionäre auffiel. Das war Borja nie gelungen. Vielleicht war er zu wenig patriotisch gewesen? Zu wenig eifrig ? Oder doch zu widerborstig? Denn eines hatte er inzwischen gelernt – Widerspruch führte schnell dazu, dass man in die hinteren Reihen des Kadernachwuchses abgeschoben wurde.

Warja hatte inzwischen schon Kascha gekocht und Tee zubereitet, Brot, Wurst, Eier, Gurken und Käse lagen auf dem Tisch. Angewidert wandte sich Borja ab. Sein Magen verweigerte die Aufnahme fester Nahrung. Mit unsicherer Hand suchte er unter dem Tisch zwischen den leeren Flaschen nach Überbleibseln des gestrigen Abends. Warja, die mitfühlende dörfliche Seele, der nichts Menschliches fremd war, reichte ihm mit nachdrücklicher Geste ein Gurkenglas. „Trink das Gurkenwasser, dann wird´s dir besser gehen!“ Für einen Moment glaubte er, die Stimme seiner Mutter zu vernehmen. Gehorsam nahm er ein paar Schlucke. Das half tatsächlich etwas.

Von draußen drang eine immer lauter werdende Stimme an sein Ohr, die er zunächst nicht zuordnen konnte. Dann begriff er: Es war das Organ von Gruppenleiter Schischkow, wegen seines leicht tatarischen Aussehens „Mongole“ genannt. So muss Dschingis Khan geklungen haben, wenn er den Angriffsbefehl gegeben hat, ging es Borja durch den Kopf. Erst mit Verzögerung begriff er: der „Mongole“ hatte ihn gemeint. „Wolkow, raustreten. Sofort in der Lagerleitung melden“, belferte Schischkow, der sich in der Rolle des Befehlshabers gefiel. Wenn es auch nur in einer Zwanzigergruppe war, vorläufig wenigstens. Doch Schischkow wollte aufsteigen und wusste auch schon wie. Entschlossenheit, so glaubte er, sei besonders gefragt. Schnelle Entschlüsse ebenso, sie bewiesen der Umgebung, dass hier ein Mann weiß, was er will. „Ein zügiger Entschluss, auch wenn er falsch ist, ist immer besser als ein richtiger, der langsam gefasst wird“, war seine Maxime. Wobei er übersah, dass das, was er für einen „Beschluss“ hielt, lediglich eine flinke Reaktion auf Vorgaben von oben war.

Borja rollte aus dem Bett, hängte sich sein Badge mit der elektronischen Kennung um und setzte seinen geschundenen Leib, der von einer dröhnenden Hohlkugel gekrönt war, widerwillig in Bewegung. Mitfühlend blickte Warja ihm hinterher. Wer so früh zum Lagerchef gerufen wurde, der hatte Übles zu gewärtigen.

Diese Überlegung ergriff langsam auch von Borja Besitz. Zögerlich schlich er die „Allee der Verräter“ entlang. An diesem Morgen hatte er nur wenig Aufmerksamkeit für die Karikaturen übrig, die er sonst eigentlich ganz witzig fand. Eifrige Agitatoren hatten Porträts von Oppositionspolitikern in die Fotos aufreizender Nutten kopiert. Und damit die tumbe Masse es auch richtig versteht, prangte darüber die Schlagzeile „Sie machen es für Geld“. Von einem ehemaligen Schachweltmeister – schade dass er nicht mit uns ist, dachte Borja – behaupteten die Macher der Info-Wand, er „bediene“ den amerikanischen Präsidenten, und lasse sich mit baren Dollars entlohnen. „Swolotsch“ , brummte Borja, „was haben die nur gegen Russland?“

Doch dann drängten sich seine eigenen Probleme wieder in den Vordergrund. Was wollte Timofejew von ihm? Plötzlich wehte ein leiser Windhauch durch sein Gehirn, die Nebel lüfteten sich ein wenig. Er wusste wieder, was gestern am Nachmittag passiert war. Und er ahnte, dass ihm auch der dritte Aufenthalt am See, wo Jahrhunderte bevor es die Russen überhaupt gab, die Tschuden gesiedelt hatten, kein Glück bringen würde.

Gestern, als der Präsident höchst selbst mit zwei Mi-8-Hubschraubern eingeflogen war, hatte er sich wahrscheinlich endgültig alles verscherzt. Das Lager stand in diesem Jahr unter der Losung: Nanotechnologie - Neue Projekte für eine neue Weltmacht. Hoffnungsvolle Provinzler waren mit ihren teils bizarren Ideen in der Hoffnung angereist, im Lager am See Sponsoren und damit eine Zukunft zu finden. Das Treffen mit Dmitri Lukanow, dem nicht mehr ganz jungen, zur Rundlichkeit neigenden Staatschef, eine Show mit Tanz, Gesang und kernig-saloppen Reden, sollte zum Höhepunkt der diesjährigen Saison werden.

Als Gipfel dieses Abends sollten drei High Tech-Projekte den Segen des obersten Landesfürsten erhalten, verbunden mit einer kräftigen Anschubfinanzierung. Nicht zu reden von der anschließenden Rundumbetreuung durch Regierungsbeamte. Vom Präsidenten geadelte Ideen durften einfach nicht fehlschlagen. Was natürlich dennoch geschah, aber das war dann schon wieder ein Problem des dienstfertigen Fernsehens, das die Bauchlandung mit Schweigen überging und eilig eine neue, aktuellere Sau durchs Dorf trieb.

Borja war wenig interessiert an der Inszenierung, aber Teilnahme war auch hier Pflicht. Die Wichtigtuer der Lagerwache mit ihren Lesegeräten registrierten aufmerksam die elektronischen Kennungen der Badges. So wussten sie jederzeit, wo sich ihre Schutzbefohlenen aufhielten. Am Abend wurden die Abwesenden in eine Sünderkartei eingetragen. Da war es schon besser, nicht aufzufallen, denn im Wiederholungsfalle, das wusste er, drohte der Rausschmiss.

Er folgte dem Ablauf auf der Bühne mit mäßigem Interesse. Lediglich das Aussehen des Mannes aus dem Kreml weckte kurzzeitig sein Interesse. Sah er nicht ein wenig blass und faltig aus? War der Job an der Staatsspitze tatsächlich so hart? Oder war doch etwas dran an den Gerüchten mit der Turmspringerin? Leistungssportlerinnen sollten ja im Bett sehr fordernd und ausdauernd sein, grübelte Borja und bedauerte, dass ihm derlei Erfahrungen bisher abgingen.

Auf der Bühne wurde derweil ein Feuerwerk launigen Patriotismus` abgefackelt. Zwei agile Mädchen aus Krasnodar besangen, nach südrussischer Art statt des G ein H benutzend, in einem selbst gedichteten Couplet die „Nano-, Nano-, Nanotechnologie, stärkt Russland wie noch nie“. Der Lagerchor hatte sogar ein Singspiel einstudiert mit dem anregenden Titel „Wir sind allzeit bereit zur Fruchtbarkeit !“

Begeistert klatschte der hohe Gast aus Moskau Beifall. Dann schritt er zur Ehrung der Projekte, die Russland in die Zukunft katapultieren sollten. Borja verstand davon wenig. Eine neuartige Raketensteuerung? Eine nie dagewesene computergestützte Verwaltungsstruktur, einzuführen in allen Staatsunternehmen, um die zentrale Führung durchzusetzen?

Er gähnte, wurde dann aber schlagartig hellwach. Das konnte doch wohl nicht wahr sein!

Vor ein paar Tagen hatte ihm so ein arroganter Typ aus Moskau nach der fünften Flasche Bier anvertraut, er werde mit seiner Idee garantiert durchkommen. „Die passt genau in unsere politische Landschaft. Irgend so ein Nano-Kram, verstehst du? Auf so etwas springen sie an in Moskau.“

Dabei war es dem Typen nicht einmal peinlich gewesen, dass er selbst gar nicht so genau wusste, worum es dabei geht. „Unterwäsche für die Armee, sozusagen nanotechnologisch hergestellt. Ob die Unterhosen dann ganz klein sind?“, kicherte der künftige Erfolgsmensch dümmlich. Die ganze Sache hätten die Untergebenen seines Vaters ausgetüftelt. Sein Erzeuger wiederum habe seine Kontakte, „er sagt immer – bei Hofe“, spielen lassen.

So sei das Projekt, versehen mit des Sohnes Namen, auf dem Präsidententisch gelandet. Das Dobro des Staatschefs würde Gelder aus dem Budget sprudeln lassen. „Dafür muss man natürlich diesen und jenen am Gewinn beteiligen“, sagte der Knabe aus Moskau mit wichtiger Miene und biergeschwängertem Atem.

Und jetzt stolperte dieser Typ die Treppe zur Bühne hinauf, wo der Präsident ihn mit einem breiten Lächeln erwartete. In der linken Hand eine Urkunde, an der ein dickes rotes Siegel hing. Die rechte Hand ausgestreckt zum Glückwunsch für den Vertreter der russischen Jugend, die sich anschickte, Russland ins 21. Jahrhundert zu führen, wie es der Landesvater salbungsvoll formulierte.

Borja schwoll der Hals. Immer lauter wurde sein Gegrummel. „Betrug… fick deine Mutter … Hurensohn…!“ schimpfte er vor sich hin. Die Umsitzenden drehten die Köpfe in seine Richtung, die feierliche Zeremonie drohte aus dem Ruder zu laufen. Doch ehe Borja richtig laut werden konnte – was er aus Angst vor einem öffentlichen Skandal eh nicht getan hätte – tauchten zwei kräftige Burschen der Lagerwache auf und schafften ihn vom Veranstaltungsort weg in den Wald. Er bekam ein paar kräftige Schläge ins Kreuz und die Anweisung mit auf den Weg, sich nicht mehr sehen zu lassen, solange der Präsident anwesend war.

Ja, das musste es sein. Dafür wurde er nun zu Timofejew beordert. Schwachkopf, Idiot, Blödmann beschimpfte er sich selbst. Musste er unbedingt die Klappe aufreißen? Er war doch sonst nicht so, sinnierte er vor sich hin, während er über Kiefernwurzeln stolperte und ihm der Schweiß in die Augen rann. Hatte er sich nicht immer den Autoritäten untergeordnet? Erst den Eltern und der Großmutter, später den Lehrern. Und selbst dann, als die Lage im Lande undurchsichtig wurde, als seine Freunde von einer Karriere als Mafiosi träumten und wohl auch die ersten Schritte in der Richtung unternahmen, wirkten die elterlichen Ratschläge noch nach. „Wir mögen arm sein, aber wir sind ehrlich“, hatte ihm sein Vater eingebläut, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes.

Dass diese Maxime für die Nachbarschaft, aber nicht unbedingt für Werkzeuge und Material aus der Metallbude galt, in der der Vater für eine Handvoll Rubel schuftete, war ein Widerspruch, der zum Alltag gehörte. Man nahm ihn nicht wahr.

Auch des Vaters Ehrfurcht vor der Bildung hatte Borja verinnerlicht. Nur der Kluge hat die Chance, das Provinznest hinter sich zu lassen, davon war er überzeugt. Und das hatte bisher auch geklappt. Sein Schulabschluss war mehr als passabel. Ein Verwandter in der Hauptstadt war behilflich gewesen, um einen Studienplatz am berühmten Baumann-Institut zu ergattern: Elektronik, das war die Zukunft.

Als er das erste Mal durch das große Tor in der Muschelkalkfassade an der Jausa getreten war, hatte ihn Ehrfurcht vor dem Tempel der Bildung und Dankbarkeit erfasst. Onkel Petja wusste eben, wann und wem man wie viel in die Hand zu drücken hatte, um einen der rar gewordenen kostenlosen Studienplätze zu bekommen. Nur die Leistung allein war eben noch kein Freifahrtschein zu den höheren Weihen der Bildung.

Bedrückt schlich Borja durch den Kiefernwald. Von der Freilichtbühne schallten Popsa-Klänge herüber. Unter anderen Umständen hätte er gerne zugeschaut, wie die Mädchen wie Gummibälle zur Musik hüpften und ihre T-Shirts feucht wurden… Heute hatte er keinen Blick dafür, ebenso wenig für die schlaff im lauen Wind hängenden Transparente. Er kannte ihren Inhalt auswendig: Die Jugend müsse Russlands bedrohte Souveränität schützen, der ukrainische, früher der estnische und georgische Faschismus werde nicht durchkommen.

Der Verkaterte hatte andere Sorgen. Die Vorwürfe, die er zu gewärtigen hatte, schienen klar. Er musst nur noch überlegen, wie er sich verhalten sollte. Sich stolz dazu bekennen, dass sein Einwand berechtigt gewesen sei, lediglich in der Form unangemessen? Von der Kreml-Jugend hatte er ohnehin nicht mehr viel zu erwarten. Auch im dritten Sommer hatte er es noch immer nicht zum Kommissar gebracht, dieser Karrierezug war abgefahren. Oder sollte er doch lieber den Zerknirschten mimen, sich virtuell im Staub wälzen und Besserung geloben in der Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren war? Zögernd klopfte er an das Holzbrett, das am Eingang zum Führungszelt angebracht war.

„Herein!“ blaffte eine Stimme freundlich. Borja schlug die Zeltbahn zur Seite, trat ein und sah sich Timofejew gegenüber. Im Hintergrund standen zwei dunkle Gestalten, die er hier noch nie gesehen hatte. Breitbeinig, auf den Zehenspitzen wippend, blickte der Lagerchef ihm abwartend entgegen. Er trug einen teuren Marken-Laufanzug, um den Hals hatte er ein weißes Handtuch geschlungen, auf der Stirn perlten noch die Schweißtropfen seines rituellen Morgenlaufs. Väterlich-besorgt blickte er Borja von unten in die Augen. „Wolkow, Wolkow – was soll ich nur mit Dir machen? Musste das denn sein? Ich meine, wir haben hier so viele Möglichkeiten, wir bieten Perspektiven… und Du?“ Na los, dachte Borja schicksalsergeben, nun beschimpf mich schon, sag, dass ich die Ehre des Lagers vor dem Angesicht des Präsidenten beschmutzt habe. Oder so was Ähnliches.

Timofejew hatte ursprünglich die Sauferei unter den Teppich kehren wollen. Macht einen schlechten Eindruck in Moskau, wenn man dort erfahren muss, dass er seine Zöglinge nicht richtig im Griff hat. Doch die Jungs aus dem Team der Kremlverwaltung waren ihm in den Arm gefallen „Was denn, bist Du verrückt geworden? Willst Du etwa die Störung der Veranstaltung an die große Glocke hängen? Willst Du ihn bestrafen, weil er öffentlich widersprochen und seine Meinung gesagt hat?“

„Aber wir müssen doch standhaft, konsequent…“ Timofejew, der sonst so Redegewandte, stotterte hilflos angesichts des Gegenwindes, den er unerwartet verspürte. „Mensch, unsere Feinde warten doch nur darauf, dass wir Fehler machen. Und sie sind überall, auch hier“, belehrten ihn die geleckten Moskauer Typen. Timofejew schaute sich unwillkürlich um, als stünde der Gegner bereits hinter ihm.

„Quatsch“, fuhren im die Aufpasser in die Parade. „Natürlich nur bildlich gesprochen, obwohl uns noch zu viel Informationen über das Lagerleben nach außen dringen. Da muss was passieren. Aber darum geht es jetzt nicht. Jetzt müssen wir ein Exempel statuieren und gleichzeitig verhindern, dass verleumderische Gerüchte die Runde machen. Oder möchtest du, dass es im Internet heißt, Wolkow sei gemaßregelt werden, weil er den Präsidenten kritisiert hat? Dass es selbst im Lager am See schon unzufriedene Stimmen gibt, in einer Zeit, wo die mit Dollars bezahlte Opposition sich mausig macht?“

Timofejew, aufgewachsen im Labyrinth der Bürokratie mit ihren Fallstricken, begann zu ahnen, worauf seine Kuratoren hinaus wollten. Es galt Wolkow zu maßregeln, ohne dass ein Zusammenhang mit der Veranstaltung vom Vortage hergestellt werden konnte.

„Also, Wolkow…“, knurrte Timofejew den Täter an. Borja, inzwischen bereit, ausgiebig Selbstkritik zu üben, murmelte so etwas wie „Hätte besser den Mund halten sollen…, bei so einer Veranstaltung…, Disziplin üben…“

Timofejew wischte die Worte mit einer Handbewegung in die Zeltecke. „Wolkow, darum geht es nicht!“ Überraschung und Unverständnis machte sich auf Borjas Gesicht breit. Da waren also seine ganzen Überlegungen des Morgens vergebens gewesen, zum Teufel. Was aber wollte der Lagerchef?

„Du hast gesoffen, nicht zum ersten Mal übrigens“, sagte Timofejew. Wobei die Lautstärke sich auf der nach oben offenen Dezibel-Skala deutlich aufwärts bewegte. Na und, dachte Borja, ich bin doch nicht der Einzige, und du mit deinen Dorfschönen? Das geht doch auch nicht ohne erfrischende Getränke ab.

Dieser Gedanke zauberte ein leises Grinsen auf sein Gesicht, was Timofejew prompt missverstand. „Da gibt es nichts zu Grienen, Du hast grob gegen die Lagerordnung verstoßen, das zieht strenge Konsequenzen nach sich!“ Die Typen im Hintergrund nickten zustimmend mit ihren gegelten Köpfen.

„Deine Zeit hier ist zu Ende. Wache!“ brüllte der kleine Napoleon aus voller Kehle. Zwei Muskelprotze stürzten herein, bereit, jeden Widerstand im Keime zu ersticken. Aber da stand nur Borja, erschrocken vom Verlauf seines Gesprächs und zu keiner physischen Aktivität fähig. Seine wie zugeschnürte Kehle ließ nur ein Krächzen hören. „Begleitet den Burschen“, befahl Timofejew. „Er hat 30 Minuten Zeit, seine Sachen zu packen. Dann bringt ihr ihn zum Lagertor. Mittags fährt dort ein Versorgungsfahrzeug ab, das kann ihn nach Moskau bringen. Du willst doch nach Moskau?

Diamantentropfen

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