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Kapitel 4 - Ein Mafiaboss verlässt die abchasischen Berge

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Stille. Absolute Stille. Er liebte diese morgendliche Stunde zwischen Nacht und Tag. Menschen und Tiere schliefen, nichts störte die Ruhe der Natur. Selbst die Schakale, die nach Einbruch der Dunkelheit regelmäßig ihre heulenden Gesänge anstimmten, lagen nun schweigend in ihrem Versteck und schliefen dem Tagesanbruch entgegen. Langsam trat er auf die Terrasse, fest in einen flauschigen Bademantel gehüllt. Der See zwischen den Bergen war nur zu erahnen, in der abnehmenden Dämmerung zogen Nebelschwaden über seine Wasserfläche. Auch seine Leibwächter, an strategisch wichtigen Punkten seines weitläufigen Grundstücks postiert, waren unsichtbar. Aber sie waren da, und sie waren verlässlich.

Er hatte sie selbst ausgesucht, sie durch Zuwendungen und Privilegien an sich gebunden. Es waren ausgezeichnet ausgebildete Leute, teilweise noch in sowjetischen, andere in russischen oder georgischen Speznas-Einheiten trainiert. Die amerikanischen Ausbilder der Georgier ahnten wohl kaum, dass einige ihrer besten Kader jenseits der Grenze den höchst ehrenwerten Onkel Aladin, so durften ihn nur seine Vertrauten nennen, beschützten. Sie waren ihm dankbar für das komfortable Leben, dass er ihnen bot. Sie wussten aber auch, dass er ihre Familien nicht nur gut ernährte, sondern zugleich als Geiseln betrachtete. Das festigte die Loyalität.

Der Alte selbst hatte keine Familie. Das passte nicht zu seinem Verständnis der ungeschriebenen Gesetze, nach denen er lebte. Familienbande behinderten, schufen Abhängigkeiten und machten angreifbar. Daran hatte er sich immer gehalten. Die wechselnden Frauen in seinem Haushalt hatten das zu akzeptieren. Dafür genossen sie auch dann noch einen angenehmen Lebensstandard, wenn ihre Zeit gekommen war und sie das Haus wieder verlassen mussten.

Der Alte zog es vor, die Dinge gütlich zu regeln und war bisher immer gut damit gefahren. Ein beleidigtes und rachsüchtiges Weib, das war seine Überzeugung, konnte zum Zusammenbruch ganzer Imperien führen. Fürchte eine böse Frau mehr als einen bösen Mann, sagten die Kaukasier. Und sie hatten Recht.

Er stand in letzter Zeit oft zu dieser Stunde draußen. Im Schlafzimmer lag eines dieser blasshäutigen Mädchen, die er in jüngster Zeit bevorzugte und die er aus dem Baltikum einfliegen ließ. „Sie lispeln so erotisch“, hatte er seinem alten Freund Niko anvertraut. Sich auf das Geländer stützend, genoss er die Stunde, da die Sonne sich über den Berggipfeln mit einem rötlichen Schimmer ankündigte, die Schatten langsam aus dem Tal wichen und der Riza-See sich aus nebliger Umhüllung schälte.

Mit Rührung erinnerte er sich seiner Großmutter. Sie kannte nicht nur unzählige Spruchweisheiten für alle Lebenslagen. Sie war auch ein schier unendlicher Quell für die Märchen und Sagen des Kaukasus. Bis heute gefiel ihm die Geschichte darüber, wie die Abchasen zu ihrem Land kamen, am besten. Mit ihrer tiefen, murmelnden Stimme hatte sie sie ihm vor dem Einschlafen unzählige Male erzählt.

„So erfahre nun, du, mein Enkelchen, wie es sich zugetragen hat in grauer Vorzeit“, begann sie mit stets gleichen Worten: „Als Gott den Völkern ihren Platz unter der Sonne zuteilte, so erzählen die Alten, vergaß Er aus irgendeinem Grunde die Abchasen, die ja ein kleines Volk waren. Irgendwie war Ihm sein Fehler peinlich und so wies Er ihnen schließlich einen Platz am Schwarzen Meer zu. Dort hatte Er eigentlich selbst leben wollen, so schön war die Gegend. Nicht von ungefähr wurde dieser Ort auch die paradiesische Laubhütte genannt.“

An dieser Stelle, das gehörte zum abendlichen Ritus, fiel der kleine Aslan seiner Großmutter ins Wort: „Aber wo ist denn Gott geblieben, ganz ohne Land?“

„Habe Geduld, du sollst es erfahren“, wies die Alte ihn zurecht. „Gott begab sich, statt auf der Erde zu leben, in den Himmel, um dort zu wohnen. Zurück ließ er seinen Tross von Göttern und Meerjungfrauen, während sich die Abchasen in seiner irdischen Residenz ansiedelten. Und deshalb sind sie das glücklichste Volk der Welt.“

Dem Alten gefielen derlei Geschichten, auch wenn diese gleichermaßen von den verfeindeten Georgiern beansprucht wurden. Sie befriedigten den Teil seiner kaukasischen Seele, in den er selbst seinen Hausgeistlichen nicht blicken ließ.

Ihm reichten vier, fünf Stunden Schlaf. So gewann er dem Tag etwas mehr Zeit ab. Er konnte danach eh kein Auge mehr zu tun. Die Beine, der Rücken, überall plagten ihn Schmerzen. Nun ja, in seinem Alter – er hatte die 80 überschritten - eigentlich kein Wunder. Wenn du in deinem Alter am Morgen aufwachst und hast keine Schmerzen, dann bist du tot.

Sein faltiges, von ein paar stümperhaft zusammengenähten Narben gezeichnetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. So weit war es noch lange nicht, auch wenn er das Geflüster hinter seinem Rücken körperlich zu spüren glaubte. Er habe die Dinge nicht im Griff, er werde nachlässig, weich gar, er weise die Konkurrenz nicht mehr in gebührender Weise in die Schranken, er verstehe die Zeichen der Zeit nicht, tuschelte es.

Undankbare Bande, brummte er vor sich hin. Hatte er nicht immer gut für seine Leute gesorgt? Sie an den fetten Gewinnen teilhaben lassen? Und wer schließlich hatte mit totsicherem Riecher erkannt, welch ein Potenzial die olympischen Winterspiele in Sotschi boten? Er war seine Idee gewesen, sich schon in einer ganz frühen Planungsphase in die Geschäfte mit den Olympiabauten hineingedrängt zu haben.

Gezahlt hatten sie fast alle, die Straßenbaufirmen, die Betonwerke, die Bauunternehmen, die Hotels, Sportanlagen und das olympische Dorf aus dem Boden stampften.

Seine Organisation bot ihnen ein Kryscha, ein Dach, unter dem sie ungefährdet agieren und Investitionsgelder abfließen lassen konnten. Seine Organisation war auch schon mal behilflich, wenn die Gefahr bestand, dass der falsche Bürgermeister gewählt wurde oder wenn Leute in den Behörden allzu akkurat oder allzu gierig wurden. Was freilich selten der Fall war, man kannte die Spielregeln. Das alles hatte natürlich seinen Preis. Entweder in Form von Bargeld, oder in Form von Beteiligungen. Onkel Aladin, den sie in Sotschi und Umgebung auch „die Zecke“ nannten, bevorzugte Bares.

Der Alte hatte sich eigens wegen des Prestigeereignisses dieses Anwesen zugelegt, um die Dinge aus der Nähe kontrollieren können. Er lächelte still in sich hinein. Selbst der russische Inlandsgeheimdienst, hyperaktiv vor und während der Spiele, hatte seine Kreise nicht zu stören vermocht. Er hatte zwar 130 Objekte in Sotschi und 17 Olympiabauten unter Sonderbewachung gestellt. Vor allem auf dem Biathlon- und Skilanglaufstadion, dem alpinen Skisportzentrum, der Bob- und Rodelbahn, den Schanzen, dem olympischen Dorf, dem Pressezentrum und schließlich den Hotels, in denen die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees ruhte, von den Gästen unbemerkt, das wachsame Auge der Sicherheitsdienstes. Ja, die Jungs von der Regierung waren gründlich. Sie hatten nicht nur den Flughafen in Adler in ihr Sicherheitsprogramm mit einbezogen, sondern auch Fernsehzentren, Eisenbahnverbindungen, Straßen, Brücken, Unterführungen und Häfen.

Djadja Aladin hatte sich die Liste seinerzeit aufmerksam zu Gemüte geführt. Beunruhigt hatte sie ihn nicht. Sollten sie nur bewachen, sichern, schützen. Da konnten wenigstens keine Terroristen Unruhe stiften. Ebenso wurden irgendwelche Umwelt-Spinner oder Demokratiefreaks fern gehalten. Das alles konnte auch er nicht gebrauchen, so etwas beeinträchtigt die Geschäfte. Letztlich saßen sie - Aladins Organisation ebenso wie der FSB oder der Sicherheitsdienst des Präsidenten – was diese Spiele anging, alle in einem Boot.

Tief sog er die würzige Gebirgsluft in die Raucherlunge. Der Platz für sein Anwesen war klug gewählt. Nicht nur wegen der Naturschönheiten und der sauberen Luft, sondern weil Sotschi zwar nur wenige Kilometer entfernt lag, er selbst sich aber nicht auf russischem Gebiet aufhalten musste. Schließlich war Abchasien ein unabhängiger Staat, wenn auch nur von Russlands Gnaden.

Und da die Abchasen diese Unabhängigkeit etwas ernster nahmen als von Moskau erwartet, durften russische Dienste dort nicht so ungehindert agieren, wie sie es gerne getan hätten. Das war mitunter ganz nützlich. Der Kreml hatte die Angewohnheit, immer mal wieder eine Kampagne gegen die organisierte Unterwelt anzuschieben.

„Immer wenn sie Probleme haben, verderben sie meine Geschäfte“, knurrte Onkel Aladin verstimmt. Dabei wusste er genau, dass das nie von langer Dauer war und die Verluste sich in Grenzen hielten. Seine Informationsquellen im Innenministerium, im Geheimdienst, sogar im Kreml warnten ihn für gewöhnlich rechtzeitig und zuverlässig.

Er hatte noch ein paar andere Unterschlupfmöglichkeiten im ehemaligen Sowjetreich, aber – Olympia hin oder her – Moskau blieb auch jetzt noch das Kerngeschäft. Sein Imperium dort war gut organisiert, sein Einfluss, von dem nur wenige Eingeweihte wussten, dass er existiert, war weiterhin groß. Im Glücksspiel, das die russischen Parlamentarier auch auf sein Betreiben hin per Gesetz wieder in die Illegalität gedrängt hatten, wurde wieder richtig verdient. Die schlimme Zeit, da das Moskauer Zentrum mit legalen Spielcasinos übersäht war, gehörte zum Glück der Vergangenheit an. Jetzt, da sie verboten waren, flossen Rubel, Dollars und Euro erst so richtig. Der Alte war mit sich zufrieden, denn auch das boomende Bauwesen und die illegalen Bordelle warfen reichlich Gewinn ab. „Gefickt wird eben immer“, zog der Alte für sich ein banales Fazit. „Gesoffen übrigens auch.“

Die Sonne hatte inzwischen die ersten Gipfel beleuchtet. Nur im Tal herrschte noch Dämmerung. Das Scheinwerferlicht eines Wagens flammte zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des kleinen Tals auf, kletterte die Straße an einem Flüsschen entlang den Berg hinauf. Der Wagen schien es sehr eilig zu haben. Kurzzeitig beleuchteten seine Scheinwerfer ein großes Anwesen auf der anderen Bachseite, dessen helle Fassaden für den Bruchteil einer Sekunde in der Dämmerung aufblitzten. Angewidert verzog der Alte das Gesicht.

Dabei störte ihn nicht die Tatsache, dass es sich dabei um die ehemalige Sommerresidenz des schnauzbärtigen Georgiers Stalin handelte, schlicht Stalin-Datscha genannt. Sein Gesicht überzog sich mit einem leisen Lächeln, als er daran dachte, dass das Wort „Datscha“ selbst ins Deutsche Einzug gehalten hatte. Seine Neffen, von denen einige bei den Sowjettruppen in der DDR gedient hatten, berichteten, dass die Ostdeutschen ihre Wochenendgrundstücke mit den kleinen Häuschen „Datsche“ nannten.

Den Neffen verdankte er nicht nur die Kenntnisse über diese sprachliche Nuance. Sie hatten für ihn schon sehr früh die Fäden nach Deutschland gezogen. Ohne freilich zu wissen, worum es da tatsächlich ging. Sie glaubten, dass es philatelistisches und kulturelles Interesse war, was ihren Onkel Aladin Kontakte mit deutschen Sammlern suchen ließ.

Mit wohligem Behagen nahm er sich noch eine der weißen Feigen, die er besonders liebte, wie übrigens Stalin auch. Sie wuchsen am Hang vor seinem Haus, voll praller Süße, die ihnen die abchasische Sonne verlieh. Er mochte sie noch lieber als die abchasischen Mandarinen, den Exportschlager der Region.

Ja, Stalin war schon ein Kerl, dachte der Alte bewundernd. Schließlich hatte der als unumschränkter Herrscher das Sowjetreich nach Prinzipien geführt, die ihm, dem Alten, durchaus nahe waren. Vom Bankräuber in Tbilissi und Baku zum ersten Mann im Staate, alle Achtung!

Nein, Verdruss bereitete der neue Besitzer. Einer der neuen russischen Milliardäre, noch grün hinter den Ohren, hatte sich dort kürzlich eingenistet. Er ließ sich zwar selten blicken, aber wenn – dann brannte die Luft im Tal. Die Moskauer High Society wurde eingeflogen, nächtelang malträtierten russische und ausländische Popgruppen ihre Instrumente. Selbst hier oben, in der Festung von Djadja Aladin, war das, was diese unreifen Burschen Musik nannten, noch – wenn auch leise – zu hören. Am meisten schmerzte allerdings, dass hinter dem Babyface mit seinen Milliarden ein übler Konkurrent stand. Das vergällte ihm den Ausblick. Vielleicht sollte er sich doch nach einer anderen Bleibe umsehen?

Der Wagen hatte den Stalin-Bau passiert und war über die Brücke auf diese Seite des Flüsschens gefahren. Er wollte also zu ihm, und das verhieß nichts Gutes. Natürlich war der Alte mit der allerneuesten Nachrichtentechnik ausgerüstet, mit verschlüsselten Botschaften leitete er seine Unternehmungen. Aber einem Prinzip aus seinen Anfängen, damals technisch bedingt, war er bis heute treu geblieben. Wenn es um die Existenz ging, überbrachten absolut zuverlässige Vertraute mündliche Botschaften. Die konnten wenigstens nicht abgehört werden.

Der Wagen stoppte auf dem Vorplatz. Niko, der Freund aus Kindertagen, wälzte sich mühsam aus dem Fonds des schwarzen Geländewagens. Die Freunde umarmten sich zur Begrüßung, übergingen aber dieses Mal die üblichen kaukasischen Gespräche über Gesundheit und Familie. Niko kam sofort zur Sache: „In der nächsten Woche feuern sie den Glatzkopf“, stieß er zwischen zwei schweren Atemzügen hervor.

„Ist das sicher?“

Niko zog ein Blatt Papier aus dem Jackett, die Kopie des Terminkalenders des Präsidenten von der kommenden Woche. Die weitsichtigen Augen des Alten entdeckten den entscheidenden Punkt sehr schnell. „Mittwoch, 11.30 Uhr, Bürgermeister Fjodor Innokentjewitsch Kruschkow, Rücktritt“, stand dort.

Der Alte hatte in den Tagen zuvor bereits voller Interesse die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchenden kritischen, teils beleidigenden Sujets im russischen Fernsehen verfolgt, die sich mit den Fehlern des Stadtoberhauptes befassten. Der hatte noch vor kurzem als unantastbar gegolten. Keine Fernsehstation hätte sich an ihn herangewagt. Wenn das jetzt geschah, musste es ein deutliches Interesse daran ganz oben geben. Die Zeichen waren also mehr als deutlich, offen war nur noch der Termin gewesen. Das hatte sich nun geklärt. Niko hatte noch eine weitere Information. „Seine Alte hat sich schon nach Zypern abgesetzt.“

Onkel Aladin wusste: „Ich muss sofort nach Moskau.“

Sein Gefühl und seine Erfahrung sagten ihm, dass dort schon die Messer gewetzt wurden. War der Glatzkopf einmal weg, würde das große Umverteilen beginnen. Nicht nur in der Staatsbürokratie, den Unternehmen und Banken, sondern auch in seiner, Onkel Aladins Welt, die mit der anderen durch Tausende unsichtbare Fäden verbunden war. Das würde unschön werden, wusste er. Hätten sie ihn nicht einfach auf seinem Posten lassen können?

„Er war ein ehrenwerter Mann“, sagte er zu Niko gewandt, „er hat immer mit allen geteilt.“

Doch nun musste er handeln. Eigentlich war er für dergleichen schon zu alt, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Nur jetzt keine Schwäche zeigen. Trübe Vorahnungen begleiteten ihn auf dem Weg zum Flughafen.

Diamantentropfen

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