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Kapitel 2 - Unterwegs mit einem Glaubensritter

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Eine Stunde später saß Borja mit seinen Sachen vor dem Lagertor. Von Warja hatte er sich nur im Vorbeigehen verabschieden können, wobei ihm im Hintergrund das zufriedene Grinsen des Rjasaners aufgefallen war. Wenigstens die Nummer ihres Mobiltelefons hatte sie ihm noch gegeben. Dann führte die Wache ihn ab.

Der Lkw kam gegen Mittag. Borja schaute stumpfen Blickes zu, wie ein paar Freiwillige die Lebensmittel für das Lager von dem Ural-Lkw abluden. Ihn ging das nichts mehr an, sollten sie doch sehen, wie sie zurechtkamen. „Bist Du das, den ich mitnehmen soll? Na, dann los!“ Ein kleiner, drahtiger Mann mit zerfurchtem Gesicht, eine Zigarette der Marke Sojus-Apollo im Mundwinkel, winkte ihm zu und kletterte ins Fahrerhaus. Borja raffte seinen Rucksack und stieg auf der Beifahrerseite zu.

Der Fünftonner, der seine besten Jahre vor dreißig Jahren in der Sowjetarmee gehabt haben musste, setzte sich geräuschvoll in Bewegung. Sie ließen Ostaschkow rechts liegen, bogen auf die M111 ein und fuhren Richtung Torschok. Borja versuchte, den Fahrer in ein Gespräch zu verwickeln. Der gab mit ein paar ablehnenden Grunzlauten zu verstehen, dass er daran kein Interesse habe. Also rollte sich Borja auf der Sitzbank zusammen und schlief ein.

Zwei Stunden später weckte ihn ein Rütteln. „Los, du musst hier raus“, knurrte der Lkw-Fahrer. Borja schaute überrascht aus dem Wagenfenster. „Aber wir sind doch noch gar nicht in Moskau“, begehrte er auf.

„Da fahre ich auch gar nicht hin, hat dir das keiner gesagt?“

„Nein, wo sind wir denn?“

Der Fahrer brummte etwas, das wohl Torschok heißen sollte. In einem Anfall von Kommunikationswut fügte er hinzu: „Ich fahre die M 10 nach Norden, nach Piter. Du willst ja wohl nach Moskau, musst dir also jemanden suchen, der nach Süden fährt.“

Borja nahm seinen Rucksack, winkte wortlos zum Abschied und stieg aus. Sein Blick fiel auf eine LukOil-Tankstelle. Dort würde er später versuchen, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Doch jetzt war er erst einmal hungrig. Er lenkte seine Schritte zu einer kleinen Imbissbude, die mit Schaschlik, heißen und kalten Speisen und Getränken warb. Borja nahm am Tresen zwei Piroschki , gefüllt mit Pilzen, zwei mit Sauerkraut und ein Bier der Baltika-Brauerei. Er bevorzugte die Nr. Sieben. “Pass auf, dass Du mir nicht die Acht andrehst”, warnte er die Bedienung. Alkoholfreies Bier - das fehlte jetzt noch!

Borja setzte sich an einen der Alu-Tische, vorsichtig, um nicht an die gebrechlichen Beinchen zu stoßen. Eine Kunststofftischdecke und ein kleines Sträußchen künstlicher Blumen zeugten von dem hilflosen Versuch, eine Hauch von Kultur in der Fernfahrerkneipe zu versprühen. Langsam kaute Borja seine Piroschki, die der Köchin ausgezeichnet gelungen waren, und spülte mit Bier nach. Mäßig interessiert ließ er seinen Blick durch das Etablissement schweifen.

Der Gast am Nachbartisch machte einen munteren Eindruck. Er mochte Mitte dreißig sein, war von drahtiger Statur, hatte lustige Augen und rötlich-blonde Locken. Er trug Jeans, ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt und eine abgeschabte Lederjacke. An seinem Hals baumelte ein kleines orthodoxes Kreuz ähnlich dem, das auch Borja besaß. Neben seinem Teller mit belegten Wurst- und Käsebroten stand eine kleine Wodka-Karaffe, aus der er sich gerade nachschenkte. „Los, Djewuschka , bring noch eine Okroschka!“ orderte er aufgeräumt. „Ich will auf dem Weg nach Moskau nicht vor Hunger sterben.“

Borja spitzte die Ohren. Verbindlich wandte er sich seinem Nachbarn zu: „Ich will auch nach Moskau, könnten Sie mich mitnehmen?“ Der Rotblonde bekam sehr wachsame Augen. Er musterte den Fragesteller eingehend und ließ sich erklären, welche Umstände Borja gerade in diese Imbissstube verschlagen hätten. Als er erfuhr, dass er wegen einer Sauferei aus dem Lager am See gefeuert worden war, wurde er zugänglicher. „Bratan , du scheinst in Ordnung zu sein, kannst mitkommen. Aber glaube nicht, dass Du mir das Auto unterwegs klauen kannst…“

Für den Bruchteil einer Sekunde waren seine Augen überhaupt nicht mehr fröhlich. Borja bemühte sich, seine Harmlosigkeit und Ehrlichkeit zu beteuern. In Gedanken machte er sich über den Burschen lustig, der sich tatsächlich um seinen alten Schiguli oder seinen ausgelutschten Importwagen aus vierter Hand sorgte. Denn um etwas anderes würde es sich bei dem Outfit wohl kaum handeln können.

Der kleine Parkplatz war staubig und glutheiß, aufgeheizt von der prallen Sonne des Augustnachmittags. Sascha – man hatte sich inzwischen bekannt gemacht – öffnete die Tür seines Wagens, während Borja verblüfft blinzelte. Es war ein aktueller Mercedes SL. Nahezu lautlos öffnete sich die Heckklappe. „Los, pack den Rucksack rein und dann – auf die Pferde!“ krähte Sascha vergnügt und tat so, als bemerke er die Überraschung seines Reisegefährten nicht.

Wenn Borja später an diese Fahrt nach Moskau zurückdachte, war er jedes Mal aufs Neue verwundert, dass er sie überlebt hatte, dass er nicht irgendwo zwischen Torschok und Podmoskowje sein Leben in einem Haufen teuren Blechs ausgehaucht hatte. Denn Sascha, davon war Borja schon nach den ersten Kilometern überzeugt, war einfach verrückt. Er trieb die deutsche Maschine mit irrer Lust auf Höchstgeschwindigkeiten. Er überholte immer und überall, selbst dort, wo auch der Leichtsinnigste wenigstens kurzzeitig vom Gas gegangen wäre. Unübersichtliche Kurven, Anstiege? Sascha tat, als existierten sie nicht. Lässig steuerte er auf der Gegenfahrbahn auf die entgegenkommenden LKW zu, um in allerletzter Sekunde doch noch eine Lücke in der Fahrzeugschlange auf der rechten Fahrbahnseite zu finden.

Borja saß verkrampft im ergonomisch geformten Schalensessel, suchte mit verschwitzten Händen irgendwo Halt. Er fühlte sich wie ein Frosch im Fußball. Nur nicht so sicher. Dezente Hinweise darauf, er habe es nicht gar so eilig, nach Moskau und in den Himmel zu kommen, beantwortete Sascha mit der Bemerkung, „mach dir keine Sorgen, alles wird gut“. Und gab Gas.

„Mir kann überhaupt nichts passieren“, plauderte der Fahrer munter vor sich hin. „Das heißt vielmehr, mir kann nur dann etwas passieren, wenn Gott das so will. Doch dann kann ich eh nichts machen, dann ist das Sein höherer Ratschluss.“ Mit der rechten Hand deutete er auf ein goldenes Kreuzchen, das mit bunten Steinen besetzt war und am Rückspiegel hing. Auch eine Ikone schmückte das Cockpit. Aber er wisse sehr genau, dass seine Zeit, die Gott ihm zugemessen habe, noch nicht abgelaufen sei. Woher? „Vor ein paar Tagen bin ich mit meinem Wagen mit 160 km/h frontal gegen eine Mauer geknallt. Natürlich Totalschaden, musste mir einen neuen Wagen besorgen. Aber mir ist nichts passiert! Da wusste ich – du bist ganz in Gottes Hand, was auch immer du tun magst. Das gibt mir Vertrauen“, versicherte Sascha, wobei er einen alten Wolga-Pkw seitlich fast die Böschung hinunter drückte.

Ob es nicht angezeigt wäre, Gott ein wenig dabei zu unterstützen, ihn am Leben zu erhalten, wandte Borja vorsichtig ein. Beispielsweise, indem er, Sascha, einen Sicherheitsgurt anlegte? Oder nicht mehr so dreist gegen jede auch noch so sinnvolle Verkehrsregel verstieß? Der wilde Fahrer, der gerade ein entgegenkommendes Fahrzeug per Lichthupe auf den Sommerweg getrieben hatte, reagierte geradezu entsetzt. Das sei doch ein Frevel, geradezu eine Gottlosigkeit. „Wer sind wir denn, dass wir glauben, mit einem banalen Riemen ins Räderwerk des allmächtigen Schöpfers hineinpfuschen zu können? Er alleine entscheidet alles!“

Borja war beeindruckt von der religiösen Logik, aber nicht ganz überzeugt. Was wäre, wenn Gott mit ihm, Borja, etwas anderes vorhabe? Vorausgesetzt, Er würde überhaupt einen Gedanken an zwei unbedeutende Figuren auf der Fernverkehrsstraße nach Moskau verschwenden?

„Vielleicht soll ich heute auf dieser Straße heute sterben, in deinem Wagen? Wer weiß schon, was der da oben in seinem unergründlichen Ratschluss plant? Dann wärst Du einfach ein Kollateralschaden“, grinste Borja.

Das hätte er nicht sagen sollen. Sascha, von diesem unerwarteten Aspekt heftig geschockt, hielt mit quietschenden Reifen an, warf den Anhalter raus und verschwand im Abendrot. Borja, den Rucksack in der Hand, schaute nachdenklich auf eine Werbetafel auf der anderen Seite der Straße, die hier in der Nähe der Metropole sechsspurig ausgebaut war. Der Moscow Country Club empfahl sich mit Annehmlichkeiten wie Golfplatz, Innenpool, Fitnessstudio, Sauna und Dampfbad. Das überschritt seine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem, ein anderes Beförderungsmittel musste her. Nach Moskau waren es noch 29 Kilometer.

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