Читать книгу Eine neue Welt - Manfred Rehor - Страница 5
ОглавлениеPeregrins Angebot
Mit kräftigen Axthieben kappten die Matrosen den Mast der Tristrai. Anschließend zerschlugen sie das Oberdeck und die Bordwand. Während Meerwasser ins Krabbenfangschiff strömte, stiegen sie um in das Ruderboot, in dem wir auf sie warteten.
Wir, das waren Fürst Borran, Pia Tenga, und ich. Magi Achain und Magi Berray sowie mein Freund Serron waren bereits unterwegs zu einem Segelschiff, das in tieferem Wasser vor Anker lag. Auch den Kapitän und die Mannschaft der Tristrai brachte man dorthin.
Die Matrosen, die sich nun auf die Ruderbänke setzten und auf das Kommando ihres Maats ablegten, waren eindeutig keine Ringländer. Sie waren klein und hager von Gestalt, hatten Gesichter mit ausgeprägten Wangenknochen und schmalen Augen. Nur der Maat sprach unsere Sprache, wenn auch schlecht. Das war erstaunlich, weil nicht nur wir in den Ringlanden sie gebrauchten, sondern auch all die anderen Völker im Norden und Osten. Sogar im fernen Ostraia, das auf einem anderen Kontinent lag, sprach man so, wenn auch mit einem deutlichen Akzent und einigen seltsamen Worten, die immer wieder eingestreut waren.
Allerdings hatte der Maat bisher nur einige Worte gesagt, doch die waren eindeutig: Wir sollten unsere Waffen ins Meer werfen, uns hinsetzen und den Mund halten. Natürlich befolgten wir die Befehle. Schließlich waren das unsere Retter.
Wir befanden uns auf der fast unbewohnten Insel Haland, gegenüber der Küste der Ringlande. In der Ferne hingen Rauchwolken in der Luft. Explosionen hatten vor Tagen die Stadt Prillhafen und die dort am Kai liegenden Schiffe der Kurrether zerstört. Noch immer waren nicht alle Brände gelöscht.
Als sich uns in der Abenddämmerung ein großes Schiff genähert hatte, sagte Fürst Borran nur ein Wort: „Askajdar!“ Das genügte, um uns die Furcht zu nehmen.
Die Askajdaner waren Verbündete Ostraias im Kampf gegen die Kurrether, also auf unserer Seite. Auch wenn sie bei uns als arrogant und verschlossen galten. Ringländischen Schiffen war es nicht einmal erlaubten, in ihren Häfen anzulegen. Sie hielten uns, nach allem, was ich wusste, für rückständige Barbaren, mit denen Handel zu treiben zwar ein Gebot der Menschlichkeit war, mehr aber auch nicht.
Das Ruderboot erreichte das Segelschiff und wir kletterten die Strickleiter hoch an Bord, mit Ausnahme von Fürst Borran. Der war bis vor wenigen Tagen im tiefsten Kerker einer Festung gefangen gewesen und zu schwach. Er hatte sich zwar nach seiner Befreiung soweit erholt, dass er eine oder zwei Stunden aufrecht sitzen und sich unterhalten konnte. Aber für mehr reichten seine Kräfte noch nicht.
Die Matrosen behalfen sich damit, dass sie ein Holzbrett an zwei Tauen herunterließen. Darauf setzten sie ihn, banden ihn fest und zogen ihn nach oben, während ich unter ihm auf der Strickleiter blieb und aufpasste, dass er nicht gegen die Bordwand gedrückt wurde. An Deck angekommen, fiel er in sich zusammen und wurde ohnmächtig.
Es war inzwischen dunkel geworden, aber nirgendwo entzündete man Lampen. Ich hörte, wie die Ankerketten ratterten und flappend Segel gesetzt oder in ihrer Ausrichtung verändert wurden. All dies geschah, ohne dass laute Befehle über das Deck hallten. Man wollte schnell und unauffällig von hier weg.
Ein älterer Mann mit wirrem grauem Haar kam und kümmerte sich um den Fürsten. Das musste der Heiler an Bord dieses Schiffes sein. Ich konnte nicht sehen, was mit Borran weiter geschah, weil man mich und meine Begleiter unter Deck führte.
Dort brachte man uns in einen großen Raum mit einem langen Tisch. Hier unten brannten Petroleumlampen und sorgten für genügend Licht. Mehrere Männer erhoben sich, die auf uns gewartet hatten. Sie waren zweifellos Offiziere, denn sie trugen Jacken aus feinem, blau gefärbtem Stoff, auf die verschiedene Symbole gestickt waren, vermutlich Rangabzeichen.
Zwischen ihnen stand ein unauffällig gekleideter Mann von mittlerem Alter, der nicht den typischen Gesichtsschnitt der anderen hatte. Er war von eher kleiner Statur und wirkte schmal. Auf den ersten Blick schien er so unbedeutend, dass ich den Eindruck hatte, er habe sich hierher verirrt. Es dauerte einen Moment, bis ich ihn erkannte.
„Peregrin!“, rief ich.
Er lächelte mich an. „Aron von Reichenstein, willkommen an Bord der Zhejong. Dies sind Kapitän Chatajn und einige seiner Offiziere.“
Der Kapitän senkte den Kopf um einen Fingerbreit, was offenbar bei seinem Volk als ein Gruß galt. Seine Offiziere taten es ihm nach, aber tiefer.
Peregrin deutete auf meine Begleiter und nannte deren Namen. Er kannte auch diejenigen von uns, die ihm vor einem Dutzend Jahren nicht begegnet waren, als er durch die Ringlande reiste. Man hatte ihm also gesagt, wen man von der Insel Haland holte. Das konnte er nur von den ostraianischen Agenten erfahren haben, die den Anschlag auf Prillhafen verübt hatten.
„Fürst Borran ist nicht bei Ihnen?“, fragte Peregrin in die Runde.
„Er ist an Deck zusammengebrochen und wird behandelt“, berichtete ich. „Sicherlich geht es ihm bald besser. Er ist erschöpft und braucht Ruhe.“
Peregrin wandte sich an Kapitän Chatajn und sagte etwas in dessen Landessprache. Der Kapitän sprach in eindeutigem Befehlston mit einem Offizier. Der ging hinaus. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und erstattete Meldung.
„Es wird einige Tage dauern, bis der Fürst sich soweit erholt hat, dass er an einer Besprechung teilnehmen kann“, übersetzte Peregrin. „Das ist einerseits bedauerlich, andererseits haben wir ihn bereits früher über unsere Pläne informiert. Zumindest in grobem Rahmen. Wir kommen also vorerst ohne ihn aus.“ Er wandte sich an den Kapitän, sagte etwas und der stand auf und verabschiedete sich mit der knappen Kopfbewegung. Die Offiziere taten es ihm nach und wir waren mit Peregrin alleine.
Der bat als Nächstes die Besatzung der Tristrai und Magi Berray, die Offiziersmesse zu verlassen. Man würde ihnen später erklären, was man mit ihnen vorhatte. Kapitän Obdan Obdar und die drei Matrosen hatten einige Abenteuer mit uns durchgestanden. Sie waren sichtlich enttäuscht, einfach weggeschickt zu werden, fügten sich jedoch. Berray protestierte, schließlich war er ausgebildeter Magi und in viele Geheimnisse eingeweiht. Aber das half nichts, er verließ uns.
„Es muss ja etwas wirklich Wichtiges sein, das Sie mit uns besprechen wollen“, sagte ich, als sich die Tür hinter den Männern geschlossen hatte. „Aber vorher möchte ich erfahren, in welcher Funktion Sie hier sind. Als wir uns damals begegneten, waren Sie Gesandter Ihrer Heimat Ostraia und auf dem Weg nach Askajdar.“
„Richtig. Heute bin ich Sondergesandter mit der Vollmacht, mein Land bei Entscheidungen über die Zukunft der Ringlande zu vertreten. Die Entfernungen sind zu groß, um jedes Mal Rücksprache mit unserer Regierung zu halten. Und die Optionen sind allen bekannt, so dass nur noch die Frage bleibt, welche in der jeweiligen Situation gewählt wird.“
„Wie weit sind Sie über das informiert, was wir in den letzten Monaten erlebt haben?“, fragte Magi Achain.
„Gut genug, um es richtig einordnen zu können. Einzelheiten kenne ich nicht, aber die dürften keine Rolle spielen. Am besten, Sie hören mir zunächst zu und stellen dann Ihre Fragen.“
Die Zhejong kreuzte gegen den Wind. Ich bemerkte das Schwanken und musste mich festhalten. Da die Richtung des Windes - er kam von Südwesten - sich in den letzten Tagen kaum geändert hatte, bedeutete das vermutlich, dass wir nach Süden unterwegs waren. Dort gab es eine Meerenge, durch die man das Halandmeer vor der Küste der Ringlande verlassen konnte und in den großen Ozean gelangte. Das besagte aber noch nichts über das Ziel unserer Reise.
Meine ungestellte Frage beantwortete Peregrin als Erstes: „Wir umrunden die Südspitze der Insel Haland und segeln dann nach Norden, bis hinauf jenseits des Ringgebirges, zur Küste von Thorgard in den Kaltlanden. Dort können Sie von Bord gehen, falls Sie mit unseren Plänen einverstanden sind und mitwirken wollen.“
„Und wenn wir das nicht wollen?“, fragte Pia Tenga.
„Bringt Sie eine Fregatte des Seevolkes zur Nordhälfte des ostraianischen Kontinents, in Ihre neue Provinz Pentray. Sie werden also einige Tage Zeit haben, sich zu entscheiden. Was wir vorhaben, wird so oder so umgesetzt. Sie können jedoch dabei helfen und dafür sorgen, dass mehr Ringländer von unserer Aktion profitieren und es weniger Opfer dabei gibt.“
„Das hört sich nicht gut an“, sagte ich. „Bitte erklären Sie uns, wobei genau wir helfen sollen.“
Peregrin lehnte sich zurück und dachte nach, bevor er antwortete: „Es liegt nicht in meinem Ermessen, wie viel ich Ihnen sage. Also nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich einige Fragen nicht beantworten werde.“
Wir nickten alle zustimmend und er fuhr fort: „Es ist vorgesehen, weitere Aussiedler aus den Ringlanden herauszubringen. Auf welchem Weg das geschehen soll, werden Sie erfahren, wenn es so weit ist. Eine Ihrer Aufgaben besteht darin, geeignete Menschen zu finden und vorzubereiten. Natürlich ohne, dass die Behörden oder die Kurrether etwas davon mitbekommen. Das wird Ihnen insofern nicht schwerfallen, als gleichzeitig Unruhe in die Ringlande gebracht wird. Sie, Aron von Reichenstein, haben erlebt, wie die Kurrether selbst dieses Mittel eingesetzt haben, als Sie in Pregge waren. Man hat die Bevölkerung aufgehetzt, soweit das in den vom Berg Zeuth magisch befriedeten Ringlanden überhaupt möglich ist. Die Absicht dahinter war, dem Fürsten die Schuld an den Unruhen zuzuschieben und ihn dann abzusetzen. Das ist auch gelungen, wobei er selbst und die Priesterin des dortigen Tempels umkamen.“
„Richtig“, bestätigte ich. „Es gab damals auch in der Menschenmenge einige Tote. Mehr als so ein kleiner Aufstand wird aber in den Ringlanden nie möglich sein. Leider!“
„Dass man trotzdem etwas in Bewegung setzen kann, haben Sie ebenfalls miterlebt, nämlich als in Prillhafen mehrere Segelschiffe explodierten. Die Kurrether haben daraufhin die Zugangsstraßen zu der Stadt blockiert und die Patrouillen im Landesinneren verstärkt. Nun beginnen sie, systematisch alle Schiffe auf dem Halandmeer zu kontrollieren. Das ist der Grund, warum wir es wagen mussten, Ihre Gruppe von der Insel zu retten. Man hätte Sie bald entdeckt.“
„Danke dafür“, sagte ich. „Aber woher wussten Sie, dass wir dort sind? Eigentlich kann uns niemand beobachtet haben.“
„Es gibt in den Ringlanden inzwischen mehr ostraianische Agenten, als Sie glauben“, entgegnete Peregrin. „Sogar in dem Städtchen Pschargg achtet jemand auf alle Besonderheiten, die vorfallen. Sie waren nur selten unbeobachtet, seit Sie auf dem Strom Azondan an Bord der Tristrai gegangen sind. Aber das nur am Rande.“
„Warum hat uns niemand geholfen oder gewarnt, wenn wir in Gefahr waren?“, fragte Pia Tenga. Sie klang erbost, obwohl der Grund offensichtlich war.
„Weil ein Agent Ostraias in den Ringlanden immer in Todesgefahr schwebt“, lautete die zu erwartende Antwort. „Keiner darf enttarnt werden, und erst recht dürfen die Kurrether nicht merken, dass es ein ganzes Agentennetz gibt.“
„Verständlich“, sagte ich schnell, weil ich sah, dass Pia sich trotzdem nicht beruhigen wollte. „Ich nehme an, der von Ihnen angesprochene zweite Teil unserer Aufgabe besteht darin, dieses Netz von Agenten zu unterstützen.“
„So ist es. Als Einheimische haben Sie gewisse Vorteile. Aber auch einen Nachteil, nämlich, dass man Sie hier kennt. Andererseits hat Ihre Reise, Aron von Reichenstein, von den Terrassen im Südosten des Landes bis in die Hauptstadt Dongarth und dann zu der Festung an dieser Küste bewiesen, dass sogar eine berühmte Person sich frei bewegen kann. Vorausgesetzt, die Verkleidung ist gut und man bleibt nie lange an einem Ort.“
„Sie wollen uns also kreuz und quer durch die Ringlande schicken?“, fragte Magi Achain. „Das mag für uns anstrengend sein, aber machbar. Fürst Borran jedoch ...“
„Fürst Borran ist unentbehrlich“, warf Peregrin ein. „Seinen Gesundheitszustand müssen wir selbstverständlich berücksichtigen. Außerdem ist er besonders gefährdet, weit mehr als Sie alle. Deshalb werden wir in den kommenden Wochen einige Änderungen und Ergänzungen in der Vorgehensweise besprechen.“
„In den nächsten Wochen?“, fragte ich. „Wenn wir in die Ringlande zurückkehren sollen, ist es ein Leichtes, uns von diesem Schiff irgendwo an der Küste absetzen zu lassen.“
„Ich sagte schon, dass die Kurrether das Halandmeer sorgfältig überwachen. Nein, wir bringen Sie nach Thorgard, von dort in das Nachbarkönigreich Skjargard und dann über eine geheime Passstraße zurück in die Ringlande. Sie werden also von Norden kommen, auf einem Weg, den niemand für möglich hält. Das ist umständlich, aber erfolgversprechend.“
„Ich dachte, die Passstraßen auf dem Weg des Goldes seien gesprengt oder anderweitig unpassierbar gemacht worden“, wandte ich ein.
„Das ist mehr als zehn Jahre her. Sowohl wir als auch Königin Chrissayda von Skjargard hielten es für sinnvoll, die Schleichwege über das Ringgebirge wieder instand zu setzen.“
„Das bedeutet eine lange Reise zu Pferd über kalten Höhenlagen und durch unwirtliche Gebiete“, sagte ich. „Hoffen wir, dass Fürst Borran bis dahin soweit ist, dass er die Reise übersteht.“
Wie sich in den folgenden Tagen herausstellte, war meine Sorge unbegründet. In der Obhut des Schiffsheilers erholte sich der Fürst zusehends. Allerdings trat damit auch sein manchmal eigensinniger Geist wieder mehr in den Vordergrund. Er hatte uns ja schon auf der Insel Haland überrascht, als er einen Rettungsplan für die Ringlande rundheraus ablehnte. Nun weigerte er sich, in unsere Heimat zurückzukehren.
„Ich habe mit den Ringlanden abgeschlossen!“, sagte er. Jedoch nicht wütend oder auch nur energisch, sondern leise und bitter. „So, wie das Land selbst bald abgeschlossen sein wird, im eigentlichen Sinn des Wortes. Tun Sie, was vorgesehen ist, Peregrin, aber ohne mich.“
„Ihr Name steht für die Freiheit!“, entgegnete dieser. „Wenn Sie in den Ringlanden sind, hat das eine ganz eigene Wirkung.“
„Hat es nicht“, konterte der Fürst. „Denn ich werde mich niemandem gegenüber offenbaren können. Ich muss mich verbergen und darf nicht entdeckt werden. Möglich, dass Gerüchte in Umlauf kommen, ich sei zurückgekehrt. Aber solche Gerüchte können Sie streuen, ohne dass ich tatsächlich dort bin. Dafür muss ich nicht diese Last auf mich nehmen.“
„Last?“, fragte ich. „Wir können warten, bis Sie wieder vollkommen genesen sind.“
Nur Magi Achain und ich waren bei diesem Gespräch anwesend. Pia Tenga, Magi Berray und Serron waren in ihren Kabinen, und die Mannschaft der ehemaligen Tristrai wurde sowieso nicht in unsere Pläne eingeweiht.
„Ja, es ist eine Last. Nicht nur für meinen geschundenen Körper, sondern auch für meine Seele.“
Ich hatte Fürst Borran noch nie so sprechen hören. Die Zeit im Kerker hatte ihn stärker verändert, als ich es bisher bemerkt hatte.
„Was unvermeidlich ist, muss geschehen“, fuhr er fort. „Ich bin damit einverstanden, ja, ich fordere jetzt sogar, dass es zügig angegangen wird. Aber meine eigene Zukunft liegt ebenso wie die Zukunft der Ringländer in der neuen achten Provinz, in Pentray.“
„Niemand weiß so viel wie Sie über die Ringlande, niemand kennt die wichtigen Personen besser als Sie“, beharrte Peregrin. „Auch, wenn Sie nicht mit ihnen Kontakt aufnehmen, so können Sie besser als jeder andere einschätzen, was vor sich geht. Sie sind unverzichtbar!“
„Pah!“, machte der Fürst. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Noch immer sah er erschöpft aus, älter als er tatsächlich war, als habe er vor Kurzem eine schwere Krankheit überstanden. Ich empfand Mitleid mit ihm. Einige Wochen der Ruhe würden ihn sicherlich wieder zu dem souveränen Mann machen, der er einst gewesen war. Ich konnte nur vermuten, was ihn davon abhielt, weiter für seine Heimat einzutreten. Vielleicht war es der Verlust aller Macht und aller Besitztümer. Denn er war zwar für mich noch ein Fürst, aber die Kurrether hatten seine Provinz längst einem Verwalter unterstellt. Sein Palast in Kethal, seine Residenz in Dongarth, dies alles gehörte ihm nicht mehr. Kehrte er in die Ringlande zurück, so war er ein armer Mann, der sich bei allem, was er tat oder sah oder hörte, zwangsläufig an frühere, bessere Zeiten erinnert fühlte.
Peregrin sah Magi Achain und mich fragend an. Aber wir schüttelten beide den Kopf. Uns fiel kein Argument ein, mit dem wir Borran in seiner jetzigen Verfassung überzeugen konnten. Schon deshalb, weil wir selbst ja noch nicht in das eingeweiht waren, was man in den Ringlanden vorhatte. Wir würden dorthin zurückkehren, uns irgendwo mit einer falschen Identität verstecken und gegen die Kurrether arbeiten. Die Ostraianer versuchten in dieser Zeit, weitere Aussiedler aus dem Land zu bringen, vielleicht über die geheimen Passstraßen im Norden, über die wir reisen sollten; und sie würden weitere Anschläge verüben. Soweit hatte ich es verstanden.
Es gab eine ungemütliche Pause, in der ich auf die Geräusche achtete, die durch das Schiff klangen. Das Knarren des Holzes, Schritte auf dem Deck, der eine oder andere laut gerufene Befehl in der mir unverständlichen Sprache der Askajdaner. Wir waren inzwischen auf dem Weg nach Norden und würden in zwei Tagen an der Küste von Thorgard eintreffen. Bis dahin musste eine Entscheidung gefallen sein.
Schließlich sagte Magi Achain: „Fürst, nur wenn Sie selbst in den Ringlanden sind und persönlich erleben, wie es dort zugeht, können Sie sicher sein, dass unsere Entscheidung die richtige ist. Gerade, wenn Sie nicht in Ihrer Stellung als Herr über eine Provinz dort leben, werden Sie erfahren, wie die Menschen denken. Vielleicht anders, als Sie es jetzt glauben. Wenn Sie sich später nicht den Vorwurf machen wollen, ungerecht gehandelt zu haben, müssen Sie mit uns kommen.“
Das schien in Borran eine Saite zum Schwingen zu bringen. Es appellierte an sein Verantwortungsgefühl. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er fragte: „Wie lange?“
„Wie lange Sie in den Ringlanden bleiben sollen?“ Peregrin überlegte. „Es wird einige Wochen dauern, bis Sie dort sind. Dann ist es Herbst. Die Auswanderer wollen wir im Sommer außer Landes bringen. Dann können Sie sie begleiten und mit ihnen weiterreisen nach Pentray. Also in einem dreiviertel Jahr. Trauen Sie sich das zu?“
Ja, lautete die Antwort nach weiterem Zögern und Nachdenken.
Als wir Tarthing erreichten, eine kleine Hafenstadt weit im Norden an der Küste von Thorgard, zog bereits der erste Herbststurm heran. Der Wind drehte auf Nordwest und brachte eiskalte Luft mit sich. Fürst Borran hatte sich mit dem Gedanken der Rückkehr angefreundet und wurde ganz selbstverständlich der Anführer unserer kleinen Gruppe.
Man brachte uns mit Ruderbooten an Land, weil die Bucht nicht tief genug für den askajdanischen Segler war. Magi Berray blieb auf dem Schiff der Askajdaner zurück. Peregrin hatte keine Rolle für ihn eingeplant in unserem bevorstehenden Abenteuer.
Ein Beauftragter von König Grendlach begrüßte uns und führte uns zu zwei Pferdekutschen. In den Ringlanden hätte ich Planwagen dazu gesagt, aber hier in der rustikalen Welt der Nordmänner musste ich diese Gefährte als Luxus anerkennen. Sicherlich hatte man die Fuhrwerke speziell für uns in diese kleine Stadt gebracht. Wir wurden von sechs Kriegern auf Pferden eskortiert, als wir nach Südosten aufbrachen.
Nach einigen Meilen schlossen sich drei weitere Pferdewagen unserem Zug an, die Proviant und andere notwendige Dinge für die Reise transportierten. Man sagte uns, wir würden unterwegs Städte und größere Dörfer meiden. Ich verstand das so, dass man sogar in Thorgard Furcht vor Spitzeln der Kurrether hatte.
Die Grenzstadt Sordig erreichten wir spät abends. Ohne anzuhalten, fuhren wir weiter in das von Königin Chrissayda regierte Land Skjargard, allerdings blieb unsere bisherige Eskorte zurück und eine neue aus hiesigen Kriegern gesellte sich zu uns. Nun ging die Reise auf das ferne Ringgebirge zu. Wir erreichten dessen Ausläufer zwei Wochen, nachdem uns das Segelschiff an Land abgesetzt hatte.
Der Schnee lag schon auf den niedrigeren Berggipfeln. Die weiter entfernten Giganten des Gebirges, im Dunst noch kaum zu erkennen, waren das ganze Jahr über weiß. Es würde anstrengend werden, jetzt im Herbst die Höhenzüge zu überqueren, besonders, weil die geheime Passstraße mehr als doppelt so lang war wie die normale, die von der Grenzstadt Tjuhaag in Thorgard in das ringländische Khonstadt in der Provinz Malbraan führte.
Schließlich erreichten wir den Endpunkt unserer Fahrt. Einige Zelte standen am Rand der schmalen Straße, der wir folgten. Dahinter war eine Weide, auf der zwei Dutzend Pferde grasten. Hier mussten wir die bequemen Kutschen gegen Sättel tauschen.
Einige Nordmänner begrüßten uns, die aussahen, wie man sie sich immer vorstellte: bullige Gestalten in robusten Lederrüstungen, bewaffnet mit breiten Schwertern. Man wies uns eines der großen Zelte als Schlafplatz zu und vertröstete uns ansonsten auf den folgenden Tag. Dann würde der Mann eintreffen, der sich erboten hatte, uns über die Passstraße zu begleiten. Wottack lautete sein Name, und er galt weit und breit als bester Kenner des Gebirges. So jedenfalls sagte man uns, als wir abends mit den Skjargarder Kriegern zusammensaßen. Als ich genauer nachfragte, wollte man aber nichts weiter über diesem Mann erzählen. Etwas musste seltsam an ihm sein.
Am nächsten Morgen luden wir unsere wenigen Habseligkeiten von den Wagen und packten sie um in Satteltaschen. Wir erhielten winterfeste Kleidung und außerdem Proviant, für dessen Transport man uns einige Packpferde versprach.
Fürst Borran hatte sich weiter erholt, aber er konnte sich noch nicht einen ganzen Tag im Sattel halten. Schon gar nicht viele Tage lang hintereinander. Doch nun, da wir einen Teil unserer Reise bereits hinter uns hatten, war er nicht mehr bereit, umzukehren.
„Ich bin entschlossen, mir noch einmal selbst ein Bild von den Zuständen in den Ringlanden zu machen“, sagte er. „Und dabei bleibe ich. Die Entscheidungen, die getroffen wurden, könnten falsch sein. Wer außer mir kann in dem Fall etwas dagegen unternehmen?“
„Niemand“, sagte Pia Tenga, die bei uns stand. „Weil außer Ihnen keiner von uns weiß, um was es eigentlich genau geht.“
„Richtig! Also: Ich muss in die Ringlande. Finden Sie eine Möglichkeit, mich mitzunehmen!“
Erst am Abend kam der Mann, der uns führen sollte. Wir saßen mit den Kriegern um ein großes Feuer zwischen den Zelten, aßen, tranken und redeten über Belangloses, als ein hagerer, schmutziger Kerl von kleiner Statur in den Lichtschein trat. Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Bettler, der etwas von dem Braten und Bier abhaben wollte. Aber die Reaktion der Krieger sprach dagegen. Sie rückten beiseite und machten Platz für ihn, als sei er einer von ihnen. Einer stand sogar auf und holte einen Bierkrug für den Neuankömmling.
Der grunzte nur als Dank, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und trank mit gierigen Schlucken den Krug leer. Dann rülpste er vorsätzlich laut, wandte sich unserer Gruppe zu und sagte: „Ihr seid das also! Na, wenn es sein muss.“
„Was sind Sie für einer?“, fragte Borran in ebenso grobem Tonfall zurück.
„Wottack nennt man mich.“ Er sah uns der Reihe nach an, als erwarte er eine Reaktion auf diese Eröffnung. Als keine kam, fuhr er fort: „Man hat mir eure Gruppe beschrieben. Zwei richtige Männer, ein Magier, ein ehemaliger Fürst und eine Frau, die sich zu verteidigen weiß. Was soll man mit solchen Leuten anfangen?“
Da meine Begleiter überrascht schwiegen, sagte ich: „Soweit ich das verstanden habe, werden Sie uns über das Gebirge führen. Sind Sie trotz Ihrer geringen Größe der richtige Mann dafür?“ Ich sah ihn dabei an, als halte ich ihn für einen Aufschneider.
Er verstand diesen Blick richtig. Mit einer ruckartigen Bewegung stand er auf, sah sich im Kreis der Krieger um, machte kehrt und ging wortlos davon.
„Das hätten Sie nicht sagen sollen“, sagte einer der Skjargarder leise. „Jetzt wird er das Doppelte verlangen von dem, was vereinbart war.“
„Er bekommt Geld dafür, dass er uns in die Ringlande bringt?“ Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass man uns hier half, weil alle gegen die Kurrether arbeiteten.
„Wottack braucht das Geld nicht, er ist reich“, lautete die Antwort. „Er will bezahlt werden, weil das für ihn ein Zeichen von Anerkennung ist. Manche Leute sind eben so.“
„Und jetzt?“, fragte Borran.
„Warten wir bis morgen früh. Dann hat er sich abgeregt. Wir bieten ihm mehr Geld und alles ist gut. Aber überlegen Sie sich künftig, was Sie sagen, wenn er in der Nähe ist. Es soll vorgekommen sein, dass er Leute mitten im Gebirge verlassen hat, weil einer von ihnen eine falsche Bemerkung gemacht hat.“
„Warum hat man ausgerechnet so einen empfindlichen, kleinen Mann als Führer für uns ausgesucht?“, wollte Pia Tenga wissen.
„Weil niemand das Gebirge so gut kennt wie er.“
Dann wandte sich das Gespräch anderen Themen zu.
Wie vorhergesagt kam Wottack am folgenden Vormittag in unser Zeltlager. Er trug andere Kleidung als am Abend. Hose und Jacke waren aus braunem Leder, das aber nicht weich wirkte, sondern hart wie Blech zu sein schien. An den Gelenken, besonders den Knien, waren quer verlaufende Risse, die es ihm ermöglichten, sich zu bewegen. Dazu trug er Stiefel, die viel zu groß für ihn waren, und einen Hut, der an einen Helm erinnerte und auch aus dem harten Leder gemacht war.
„Was glotzen Sie mich so an?“, fragte er und meinte damit wohl uns alle.
„Ihre Kleidung scheint nicht für die Kälte in den Höhenlagen des Gebirges geeignet zu sein“, sagte ich.
„Wir werden sehen, wer schneller friert. Man hat mir gesagt, dass der ehemalige Fürst fußkrank ist. Trifft das zu?“ Wottack sah Borran an.
„Richtig“, bestätigte der. „Fußkrank ist allerdings der falsche Begriff. Geschwächt durch lange ... Krankheit.“
„Wie auch immer, Sie können nicht tagelang gehen oder reiten. Ich habe etwas vorbereitet. Kommen Sie mit.“
Er führte uns auf die Pferdeweide, wo ein einfacher Holzverschlag den Tieren bei schlechter Witterung Schutz bot. In diesem Verschlag stand so etwas wie eine Kutsche. Sie bestand nur aus einem gepolsterten Sitz mit Rückenlehne und einem darüber befestigten Stoffdach als Schutz gegen Sonne und Regen. Es war ein Einachser, dessen beide Räder mir fast bis zur Schulter reichten. Die Speichen waren dünne Metallstäbe und die Laufflächen mit Eisenreifen beschlagen.
„Ist das eine Spezialanfertigung?“, fragte Borran, der wie wir alle dieses seltsame Gefährt bestaunte.
„Eine Dame wollte einmal das Gebirge bereisen“, sagte Wottack. „Sie war zu alt und zu vornehm, um zu reiten. Deshalb hat sie sich diese Kutsche anfertigen lassen. Das Gefährt ist neuwertig, wie Sie sehen, denn der Dame war es in den Bergen zu kalt und windig. Nach einem halben Tag hatte sie genug und wollte zurück nach Hause.“
Wir lachten und Pia sprach die Frage aus, die mir auch auf der Zunge lag: „Woher kam denn so eine vornehme Dame hier in den Kaltlanden?“
„Es war die Mutter unserer Königin Chrissayda“, lautete Wottacks Antwort. „Sie ist bekannt dafür, dass sie all ihren Eingebungen folgt. Und eines Tages hatte sie eben den Einfall, sich im Gebirge umzusehen.“
So seltsam das Gefährt auf den ersten Blick wirkte, es schien robust gebaut und auch für lange Strecken geeignet. Dass der sesselförmige Sitz bequem war, brauchte ich gar nicht erst auszuprobieren. Das sah man auf den ersten Blick.
„Einziger Nachteil ist“, fuhr Wottack fort, „dass man damit nicht schnell fahren kann. Wir Reiter können bei Gefahr im Galopp das Weite suchen. Der Fahrer dieser Kutsche bleibt zurück.“
„Mit welchen Gefahren rechnen Sie denn?“, fragte Pia Tenga.
„Mit den üblichen, die man eben im Gebirge antrifft: Bären, Monster, Trolle und ein paar neue Wesen, die aus anderen Gegenden in die geheime Passstraße eingewandert sind.“
„Es wird also keine gefahrlose Reise?“, wollte Serron wissen.
„Was glauben Sie, warum man mich dafür bezahlt, Sie zu begleiten?“, schnaubte Wottack. „Weil es ein Kinderausflug wird?“
Es wurde keiner, das musste ich ihm im Nachhinein zugestehen.