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Charam mit den Weinfässern

Dernheim hieß der Ort, den wir Wochen später erreichten. Auf den ersten Blick ein Dörfchen wie andere auch, und doch traf das nicht ganz zu, wie wir erfahren sollten. Hier gab es zwölf Häuser nahe am Ufer des Donnan, sechzig Meilen von der Hauptstadt Dongarth entfernt. Dernheim lebte von Geflügelzucht und Kleinviehhaltung. Niemand war wohlhabend, niemand wusste viel von der Welt außerhalb des Umkreises eines Tagesmarsches. Eier, Geflügel, Hasen und andere Produkte wurden in einen größeren Ort namens Brengen gebracht, zehn Meilen stromabwärts. Dort hatte auch der Kontrolleur seinen Sitz, dessen Aufgabe es war, die Waren aus Dernheim in seinen Listen zu erfassen und zu prüfen, ob die Vorgaben erfüllt wurden. Das alles erfuhren wir bereits unterwegs, als wir uns nach diesem Ort erkundigten.

Eine Tagesreise von Dernheim entfernt verkauften wir unsere Pferde und Borrans Kutsche. Der Fürst hatte sich so weit erholt, dass er bis zu zehn Meilen marschieren konnte, wenn wir regelmäßig Pausen eingelegten.

Als Reisegruppe von fünf Personen, ausgestattet mit Reitpferden, Packpferden und einer Kutsche, wären wir in einem armen Dorf aufgefallen. Nun gingen wir zu Fuß und zogen zwei Esel mit uns, die das Gepäck trugen. Unsere Kleidung war durch die lange Reise so mitgenommen, dass wir wie Erntehelfer auf der Suche nach Arbeit aussahen, und das war gut so.

Wir kamen abends in dem Ort an und suchten nach dem Weg zu einem weiter westlich gelegenen Bauernhof. Man hatte uns seine Lage beschrieben, aber wir fanden ihn nicht. Schließlich fragten wir einen Mann, der einen leeren Schubkarren vor sich her schob.

„Hört sich an, als wollten Sie zu Charam mit den Weinfässern“, sagte er. „Der Feldweg ist fast zugewachsen. Dort drüben, zwischen den Bäumen müssen Sie durch und dann immer geradeaus.“

„Charam mit den Weinfässern?“, fragte ich. „Wir wollen nicht zu einem Weinhändler, sondern zu einem Bauern, der Helfer einstellt. So jedenfalls hat man es uns erzählt.“

Der Mann lachte. „Charam verkauft keinen Wein, er säuft ihn. Er hat immer mehrere Fässer in seinem Keller. Zweimal im Jahr kommt ein Händler vom Sall herüber und bringt neue. Charam gibt das ganze Geld, das er mit seinem Hof verdient, für Wein aus. Armer Kerl!“

Dank der Wegbeschreibung fanden wir schließlich ein großes Gebäude mit weitläufigen, eingezäunten Wiesen rundherum, einem Teich und einem schmalen Fluss. Das Haus zwar zweistöckig und hatte Anbauten, vermutlich für Vieh oder als Werkzeugschuppen. Das ganze Gebiet war umgeben von Wald und nur durch den halb zugewachsenen Feldweg zu erreichen.

Wir banden unsere zwei Esel an einem Gatter an, gingen zu der Eingangstür und klopften.

Es dauerte eine Weile, bis die Tür sich öffnete. Ein fetter Mann mit Halbglatze stand vor uns. Er trug eine schmutzig-graue Kutte, die von einer dicken Kordel zusammengehalten wurde. In der Hand hielt er eine Laterne, mit der er uns anleuchtete.

„Ach, ihr seid es. Warum kommt ihr so spät am Abend?“

Ich sah meine Begleiter erstaunt an. Sie sahen ebenso überrascht aus, wie ich es war.

„Kennen wir uns?“, fragte Fürst Borran.

„Selbstverständlich!“, sagte der Mann. „Ich habe Sie vor zwanzig Jahre in Dongarth gesehen.“

„Unmöglich!“, behauptete der Fürst. Er hatte sich so verändert, dass ihn in seinem jetzigen, abgemagerten und vorzeitig gealterten Zustand niemand erkennen konnte, der ihn vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte.

Der Mann zeigte auf Pia Tenga und mich: „Wir haben uns vor einem Dutzend Jahren getroffen. Erinnern Sie sich nicht mehr?“

Ich musterte ihn noch einmal und schüttelte den Kopf. Auch Pia wusste nichts mit dem fetten Bauern anzufangen.

„Ja, ja, der Lauf der Zeit“, seufzte der nun. „Damals, da waren wir alle jünger. Außer Frau Tenga, versteht sich, Sie sehen noch genauso aus wie an dem Tag, als Sie in den Lerron-Konvent kamen. Abt Konran hat den damals geleitet, und Mandola war Köchin. Meine Güte, konnte die gut kochen!“

Er rieb sich den Wanst und leckte mit der Zunge über die Lippen, die Augen in verzückter Erinnerung halb geschlossen.

„Den Lerron-Konvent haben wir damals besucht“, sagte ich. „Aber die Mönche dort waren alle ziemlich alt.“

„Ich war der jüngste“, sagte der Mann. „Deshalb saß ich immer ganz hinten und hatte nie die Ehre, mich mit Ihnen persönlich zu unterhalten. Oder das Vergnügen.“ Letzteres sprach er mit einem breiten Grinsen in Richtung Pia.

„Sie waren also Mönch“, sagte ich. „Wie kommt es, dass Sie nun hier auf einem Bauernhof leben? Ich nehme an, Sie sind sein Besitzer, mit Namen Charam?“

„Der Konvent wurde geschlossen. Es hat Abt Konran das Herz gebrochen, er starb während der letzten Tage, als bereits unsere wenigen Besitztümer abtransportiert wurden. Wir sollten umziehen in ein großes Haus in Eronstedt, bis ein neuer Konvent westlich davon für uns gebaut wird. Das war natürlich nur ein Vorwand. Wie die meisten Klöster und Konvente in der Einöde von Arbaran wollte man uns einfach dort weg haben. Angeblich, um das Land zu begrünen und in fruchtbare Felder zu verwandeln. Was nie geschehen ist. Stattdessen ...“

Fürst Borran unterbrach ihn und sagte: „Können wir ins Haus gehen? Wir wollen nicht so lange hier im Freien stehen.“

„Sie brauchen nichts zu befürchten, niemand sieht Sie hier“, versicherte Charam. „Mein Hof ist so abgelegen, dass selbst Einheimische manchmal den Weg nicht finden.“

„Es ist kalt!“, sagte Pia energisch.

„Ach, so! Entschuldigen Sie, daran habe ich gar nicht gedacht. Sie sind ja meine Gäste. Bitte treten Sie ein.“

Das Haus war gemütlich eingerichtet, ein wenig altbacken, aber sauber. Charam führte uns durch sein Wohnzimmer, das mit einem Sessel, einem Sofa und einem großen Bücherregal ausgestattet war, weiter in einen Raum mit einem langen Tisch und vielen Stühlen.

„Das ist das Esszimmer“, sagte er entschuldigend. „Nur hier haben wir alle Platz.“

Eine Tür ging auf und eine alte, dürre Frau kam herein. Sie musterte uns mit herabgezogenen Mundwinkeln, wandte sich dann an Charam und fragte: „Sind sie das?“

„Ja, Inna, das sind sie. Bereite die Zimmer für sie vor, und ein reichhaltiges Abendessen.“

Die Haushälterin zog die Nase kraus, als rieche sie etwas Unangenehmes, und ging wieder hinaus.

„Ich hatte eigentlich noch nicht mit euch gerechnet“, sagte Charam zu uns. „Man hat mir aus der Provinz Malbraan zugetragen, dass eure Reise länger als erwartet dauern wird. Wegen einer körperlichen Schwäche des Fürsten und dem früh einsetzenden Winter in diesem Jahr.“

„Wir haben uns beeilt“, sagte Fürst Borran. „Wer hat Ihnen von uns erzählt?“

„Ostraianer“, antwortete der Dicke, als wäre das ganz selbstverständlich. „Man hat mich gebeten, Ihrer Gruppe für einige Monate Unterkunft und Arbeit zu geben.“

„Arbeit?“, fragte Magi Achain.

„Ja, und das ist nicht einfach. Hühner und Hasen zu füttern ist nicht genug für so viele Menschen. Das würde auffallen. Aber ich habe mir überlegt, dass Sie die Scheune und die Eingrenzungen der Gehege reparieren können. Außerdem will ich schon lange einen Teil des Flussufers einzäunen und dort Gänse halten. Da ist ziemlich aufwendig, deshalb macht es Sinn, einige Hilfsarbeiter einzustellen.“

Das verschlug uns erst einmal die Sprache.

„Keine Sorge“, beeilte sich Charam zu ergänzen. „Die Arbeit ist leicht und Sie haben mehrere Monate Zeit dafür. Je nachdem, wie das Wetter sich entwickelt, werden Sie zu Beginn des Frühjahrs oder noch eher fertig sein. Als Bezahlung erhalten Sie die Mahlzeiten und die Unterkunft. Selbstverständlich Arbeitskleidung sowie ...“

„Einen Moment“, unterbrach ihn Fürst Borran. „Wir sind hier, um die Verhältnisse in den Ringlanden zu erkunden. Wir wollen herausfinden, wie die Kurrether weiter vorgehen, wie groß der Anteil ihrer Unterstützer in der Bevölkerung ist und wie man sie behindern kann. Das alles ist von so einem abgelegenen Ort aus kaum möglich.“

„Das soll ja auch nur Ihre Anwesenheit in dieser Gegend rechtfertigen“, beruhigte unser Gastgeber. „Niemand wird sich wundern, wenn Sie sich an ihren freien Tagen Dongarth ansehen, sechzig Meilen stromabwärts, oder Kerrk, unsere Hauptstadt hier in Krayhan, einhundertfünfzig Meilen stromaufwärts. Jeder, der aus einer ländlichen Region kommt, will sich mal in einer großen Stadt umtun.“

„Sie meinen, wir würden den Kurrethern und ihren Helfern nicht auffallen?“, fragte ich. „Ich fürchte, das wird doch geschehen. Vor einigen Monaten war Dongarth schon mit einem Netz von Spitzeln überzogen und wurde mit harter Hand regiert.“

„Das hat sich verschlimmert. Aber wie die Menschen nun einmal so sind: Arme Schlucker, die ihre paar ersparten Heller in einer Taverne auf dem Händlerwasen vertrinken wollen, beachtet keiner. Anders wäre es, wenn Sie als Handelsherren oder ähnlich wichtige Personen auftreten.“

„Verständlich“, sagte der Fürst. „Allerdings wird mir niemand einen einfachen Knecht abnehmen, der auf einem Hof harte Arbeit erledigt.“

„Dann sind Sie eben hier, um die arme, alte Inna zu entlasten. Sie kann jede Hilfe brauchen, besonders, wenn sie nun für so viele Menschen kochen muss, und putzen und Wäsche waschen.“

„Vermutlich haben Sie Recht“, sagte ich nun, um von diesem Thema wegzukommen. „Wie vertrauenswürdig sind eigentlich die Bewohner von Dernheim?“

„Das sind ausschließlich ehemalige Mönche und Nonnen“, sagte Charam und lächelte strahlend über unsere Überraschung. „Wir alle mussten uns eine neue Heimat suchen, nachdem man die Klöster geschlossen hat. Also haben wir mit finanzieller Unterstützung durch den Fürsten Arbaran hier leerstehende Häuser und verlassene Bauernhöfe aufgekauft. Die Vorbesitzer waren zum Teil weggezogen, weil sich die Landwirtschaft aufgrund der hohen Vorgaben und niedrigen Preise nicht mehr gelohnt hat. Andere waren alt und haben das Geld, das sie von uns bekommen haben, genutzt, um zu ihren Kindern oder Enkelkindern in anderen Dörfern zu ziehen.“

„Es gibt hier keinen gewöhnlichen Bauern oder Dörfler mehr?“, fragte Pia nach.

„Genauso ist es! Viele Mönche und Nonnen haben ja schon in der Einöde von Arbaran Landwirtschaft betrieben, in den fruchtbaren Talsenken. Die kennen also die Arbeit und scheuen sie nicht.“

„So gesehen ist das eine hervorragende Tarnung“, gab Fürst Borran zu. „Ist niemandem aufgefallen, wie viele Geistliche sich hier ansiedeln?“

„Wie sollte es? Wir sind natürlich nicht alle gleichzeitig gekommen, sondern über einen Zeitraum von vier Jahren. Was die Bauernhöfe angeht, so spezialisieren wir uns auf Produkte, die kaum reglementiert sind, wie Kleinvieh und Eier. Dazu kommen Obst und Beeren, einige Sorten Ziegenkäse, wie sie im nördlichen Krayhan gerne gegessen werden, und Ähnliches. Viele verschiedene Dinge eben, jeweils in kleinen Mengen, die zu kontrollieren zu aufwendig wäre. Zumindest derzeit noch. Das Netz der Kontrolleure wird immer enger, bald müssen wir vermutlich jeden geschlachteten Hasen und jedes Stück Käse vor dem Verkauf registrieren lassen. Im Moment betrifft die Kontrollwut aber nur die Eier. Ich zeige Ihnen morgen alles, was es auf meinem Hof gibt.“

„War Ihre Haushälterin Inna auch Nonne in einem Kloster?“, fragte Pia.

„Nein, aber Köchin in einem Nonnenkonvent. Leider hatte man dort eine Vorliebe für frugale Kost. Ich versuche seit Jahren, sie zum Kochen von nahrhafteren Gerichten zu ermuntern, aber da bleibt sie bei ihren alten Gewohnheiten.“

Mit einem Blick auf den Leibesumfang des Mannes klang das nicht besonders glaubwürdig. Als die Haushälterin eine halbe Stunde später das Abendessen auftrug, blieben kaum Wünsche offen: Wurst und Speck, Eiergerichte und Eintopf, danach Käse und süßer Kuchen als Abschluss. Ich fragte mich, was sich unser Gastgeber wohl unter einer reichlichen Mahlzeit vorstellte. Einen gebratenen Ochsen?

Anschließend erfuhren wir, wie er zu seinem Spitznamen gekommen war. Er führte uns in den Keller, wo tatsächlich ein halbes Dutzend Weinfässer auf Holzböcken lagen. Sie waren nicht übermäßig groß, in der Mitte etwa hüfthoch, so wie sie dalagen, und eineinhalb Schritte lang. Sie enthielten mehrere Sorten von verschiedenen Winzern, weshalb sich Charam jeden Abend zunächst entscheiden musste, welcher Wein seiner Stimmung entsprach.

„Das ist wichtig, denn der richtige Tropfen krönt den Tag. Er ist wie ein Siegel, das man zum Schluss auf die abgeleisteten Stunden der Mühe und Arbeit anbringt, um zu zeigen, dass sie es wert waren.“

Er entschied sich an diesem Abend für einen leichten, roten Wein, der ein wenig süßlich schmeckte. Nachdem er einen großen Krug gefüllt hatte, kehrten wir zurück in seine Lesestube, wo Gläser bereitstanden. Außerdem gab es Brot und Käse. Da wir gerade gegessen hatten, ließen wir zunächst die Finger davon. Wir unterhielten uns nicht, oder kaum, denn Charam hatte beschlossen, uns aus einem Buch vorzulesen. Der Abend wurde lang, und schließlich aßen wir alles auf. Unser Gastgeber musste noch drei Mal mit dem Krug in den Keller, bevor wir Schlafen gingen. „Vorlesen ist meine Leidenschaft“, sagte er zwischendurch. „Aber Inna hasst es, zuzuhören. Deshalb kann ich dieser Leidenschaft selten frönen. Außer, ich lese mir selbst laut vor, was keinen Spaß macht.“

So verbrachten wir Stunden damit, Märchen und Sagen zuzuhören, Wein zu trinken und uns wohlzufühlen. Denn Charam hatte eine angenehme Stimme, er betonte die Texte so, dass man in die Geschichten hineingezogen wurde, ohne dabei in eigene Gedanken abzuschweifen. Kurz: Es war einer der angenehmsten Abende, die ich seit Jahren verbracht hatte.

Nach Mitternacht führte er uns in einen Anbau des großen Hauses. Dort waren Zimmer für uns vorbereitet, die noch kleiner waren als die Kajüten auf einem Segelschiff. Außer einem Bett, einem Regal und einem Stuhl passte nichts hinein. Die Zimmer hatten alle keine Fenster und wurden durch Petroleumlampen erleuchtet. Die Zwischenwände bestanden nur aus Brettern und waren erst vor kurzem eingezogen worden. Sie reichten nicht ganz bis zur Decke, weshalb jeder alles hören konnte. Aber wir beschwerten uns nicht, sondern waren dankbar dafür, wieder einmal in Betten zu schlafen.

Am folgenden Morgen lag eine dünne Schneedecke über der Landschaft. Der Winter würde hart werden, wenn er so früh einsetzte. Inna versorgte uns mit einem reichhaltigen Frühstück, das Charam nicht zu genügen schien. Er verlangte eine weitere Portion Eier mit Speck, bekam sie aber nicht. Das schien ein gewohntes Spiel zwischen den beiden zu sein, denn wir erlebten es bei jeder Mahlzeit.

Nebenbei erfuhren wir, dass die Haushälterin schon einige Stunden vor uns aufgestanden war. Sie hatte den Ofen in der Küche angeheizt, die Hühner gefüttert und etliche andere notwendige Verrichtungen auf dem Bauernhof erledigt, bevor wir aufwachten. Sie grummelte, weil Charam ihr dabei nicht half, aber auch das schien ein alltägliches Ritual zu sein. Wobei es viele Rituale gab im Zusammenleben der beiden. Einige davon hatten sie aus ihrer Zeit im Kloster beibehalten, wie regelmäßige Unterbrechungen des Tagewerks durch Gebete.

Wobei Tagewerk bei Charam nicht unbedingt das Wort war, das einem als erstes in den Sinn kam bei dem, was er tat. Denn nach dem Frühstück zog er sich zurück in sein Schlafzimmer, um eine Stunde allein mit dem Einen Gott zu verbringen. Ich nahm an, dass er in dieser Zeit betete, aber ich fragte nicht danach. Priester und Mönche lebten abseits der normalen Welt, und es genügte mir, zu wissen, dass sie in der Regel auf der Seite der anständigen Leute waren - also gegen die Kurrether.

Inna musterte uns, als wir alle vor ihr standen und wissen wollten, was wir nun tun sollten. „Die Waffen müssen im Haus bleiben!“, forderte sie. „Niemand auf einem Bauernhof hat einen Degen bei sich, oder einen Säbel. Ein Bauer hat ein gutes Messer, oder von mir aus einen Dolch, aber das muss genügen.“

Pia und ich kehrten in unsere Zimmer zurück, denn nur wir beide hatten sichtbare Waffen bei uns. Serron fühlte sich nicht angesprochen, denn seine Wurfmesser waren in der Kleidung versteckt. Fürst Borran und Magi Achain waren sowieso unbewaffnet.

Die Haushälterin führte uns nun auf dem Hof herum, der größer war, als der erste Eindruck am Vorabend vermittelt hatte. Man musste jeweils durch ein kleines Waldstück gehen, um zur nächsten eingezäunten Fläche zu gelangen. Es gehörten Viehweiden dazu, auf denen allerdings nur Ziegen gehalten wurden, keine Kühe. Außerdem ein Stall, in dem unsere beiden Esel standen, zusammen mit einigen Mauleseln. Sie hatten eine Auslauffläche mit einem Gatter darum herum und einem Bach.

„Wenn die Schneedecke zu dicht wird, füttern wir Heu“, sagte Inna. „Es lagert in der Scheune dort drüben. Außerdem bekommen wir Hafer und andere Körner von den umgebenden Höfen, die zu Dernheim gehören. Das brauchen wir auch für die Hühner.“

„Und Sie machen all die Arbeit alleine?“, fragte Pia Tenga ungläubig.

„Nein, ich habe Helfer, die im Dorf wohnen. Und ich habe Jorg, der ist für die Tiere hier verantwortlich.“

Sie deutete auf einen Mann, der den Waldweg entlang kam, dem wir auch gefolgt waren. Er war zwei Kopf größer als ich und breit gebaut. Das Auffallendste an ihm waren die feuerroten Haare und der Vollbart in derselben Farbe. Er hielt eine Axt in den kräftigen Händen, die seltsam klein wirkte im Vergleich zu ihm. Gekleidet war er in eine ärmellose Jacke und eine Hose aus Leinen. Die Oberarme waren dick wie meine Schenkel und von weißlichen Narben überzogen.

Mein erster Eindruck war, einen ehemaligen Söldner vor mir zu sehen, und ein kurzer Blickwechsel mit Pia und Serron zeigte mir, dass sie ebenso dachten.

Als er vor uns stand, sah er uns aus gutmütigen Augen an und schwang die Axt ein wenig hin und her, als wiege sie nichts.

„Die Bäume dort“, sagte Inna zu ihm und zeigte in den hinteren Bereich einer Viehweide. „Sie sind morsch. Wenn der Schnee sie umwirft, könnten sie das Gatter zerbrechen und die Tiere laufen uns davon. Die müssen gefällt werden.“

Jorg nickte und machte sich auf den Weg dorthin.

„Das ist aber keiner der alten Mönche, wie sie angeblich die ganze Bevölkerung von Dernheim bilden“, sagte Magi Achain.

„Nein. Er war als junger Mann ein Soldat des Fürsten von Arbaran. Bei der Verteidigung eines Konvents in der Einöde gegen Söldner und Riesen wurde er verletzt. Erst durch Schwerthiebe und dann, als er bereits am Boden lag, hat ihm ein Riese mit der Keule auf den Kopf gehauen. Jorg hat überlebt, aber er ist seitdem nur noch für einfachste Arbeiten zu gebrauchen. Der Schlag hat wieder ein Kind aus ihm gemacht.“

„Immerhin ist er kräftig und kann Charam und Sie verteidigen, falls ihr angegriffen werdet“, sagte ich.

„Angegriffen von wem?“, fragte Inna zurück. „Wenn die Kurrether einen Trupp Söldner schicken, oder gar Assassinen, die uns in der Nacht ermorden, kann uns Jorg nicht gegen sie schützen. Gut, Wölfe kann er töten, das ist wahr.“

„Seit wann gibt es so nahe bei Dongarth Wölfe?“, fragte Pia.

„Früher wurden sie bejagt“, antwortete die alte Frau. „Aber seit alles von den Kontrolleuren vorgegeben wird, ist das nicht mehr so. Wölfe sind keine Handelsware, deshalb gilt die Jagd auf sie als Zeitverschwendung. Wer es trotzdem tut, muss sich gegen den Vorwurf wehren, es nur aus Spaß zu machen, anstatt Rehe zu jagen, die man als Wildbret verkaufen kann.“

„Werden jetzt schon Wildtiere in die Statistiken aufgenommen?“, frage ich.

„Nein, aber man erwartet, dass wir zusätzlich zu dem Fleisch, das unsere Kleintiere liefern, auch so etwas anbieten. Und sei es, um auf dem Tisch eines Oberkontrolleurs oder sogar Kurrethers zu landen, damit die uns im Gegenzug in Ruhe lassen.“

„Also eine Art Bestechung“, sagte Fürst Borran. „Ist das inzwischen üblich?“

„Sicherlich. Besonders in Dongarth und anderen großen Städten. Wenn man nicht immer mal wieder etwas extra dazu gibt, schauen die Kontrolleure besonders genau hin.“

„Warum protestiert niemand gegen diese Praxis?“, wollte Magi Achain wissen.

„Wer sich wehrt, lebt nicht lange. Und wir in den Dörfern und auf den Bauernhöfen wissen, wie viel Glück wir haben. Warum sollten wir absichtlich Ärger verursachen?“

„Wieso Glück?“, fragte ich.

„Wir haben immer etwas zu essen. Und jeder Bauer und jeder Dörfler weiß, wie er genügend für sich und die Seinen beiseite legen kann. Notfalls werden die Kontrolleure betrogen, damit man selbst genug hat. In Dongarth dagegen sterben die Leute an Hunger, wenn der Winter hart wird.“

„Wie kann das sein?“, fragte Borran. „Es gibt genügend Lagerhäuser in der Stadt, an den Donnan-Häfen und am Händlerwasen. Was dort vorrätig ist, reicht mehrere Monate!“

„Wenn tatsächlich das drin ist, was sein soll“, sagte Inna. „Und wenn die Qualität es für die menschliche Ernährung tauglich macht.“

„Was heißt das?“, fragte ich.

„Nehmen Sie uns: Wir liefern eine bestimmte Menge Eier. Aber diese Zahl wird immer weiter erhöht und ist jetzt an der Grenze dessen, was die Hühner legen. Es gibt Monate, da haben wir nicht genug, und Monate, da haben wir etwas mehr. Aber Eier kann man nicht lange lagern.“

„Also?“

„Blasen wir überzählige Eier aus. Das Innere verwende ich in der Küche, zum Beispiel für Omelette und zum Backen. Die leeren Schalen heben wir auf.“ Inna deutete auf das Dach einer Scheune, das über den Wipfeln der Bäume zu sehen war. „Dort drinnen sind einige hundert leere Hühnereier. Legen unsere Tiere nicht genug, tauchen wir ein paar von den Eiern in Wasser, bis sie voll sind, und verschließen die Öffnungen mit hellem Wachs. Diese Wassereier legen wir dann zwischen die normalen. Die Kontrolleure zählen und bestätigen die korrekte Anzahl in unserer Lieferung. Der Dongarther, der so ein Ei kauft, hat nur Wasser.“

„Ein schöner Trick. Aber kommen die Kontrolleure euch nicht auf die Schliche?“

„Nein. Die stehen ja auch unter Druck und müssen nach oben die Erfüllung aller vorgegebenen Ziele melden. Deshalb sind sie froh, wenn jeden Monat die Anzahl der Eier stimmt. Die mit Wasser gefüllten erklären sie damit, dass in Dongarth jemand betrügt. Die Händler dort behaupten aber - zurecht - dass sie es nicht sind, also müssen es die Käufer sein. Denen wirft man vor, selbst das Ei auszublasen, es mit Wasser zu füllen und sich dann zu beschweren in der Hoffnung, für das gezahlte Geld ein zweites zu bekommen.“

„Das bedeutet, euer Trick geht zulasten des Letzten in der Kette?“, fragte Pia empört.

„Ja, so ist das wohl. Da kann ich als Rechtfertigung nur sagen, dass in solchen Zeiten jeder zuerst an sich selbst denken muss.“

„Ist das nicht selbstsüchtig?“, wollte ich wissen. „Gerade von einem Bauern, der früher Mönch war und die Güte und die Menschenliebe des Einen Gottes auf Erden vertreten sollte?“

Inna zuckte mit den Schultern. „Ohne Betrug können wir die Vorgaben nicht immer erfüllen. Das bedeutet, es kommt ein Verwalter aus der Hauptstadt, um nach dem Rechten zu sehen. Da das die Hühner auch nicht dazu bringt, mehr Eier zu legen, wirft man uns Sabotage vor. Über kurz oder lang kommt dann ein Trupp Söldner und zündet uns das Dach über dem Kopf an. Es gibt nur zwei Wege, um heutzutage als Bauer zu überleben: Entweder, man betrügt, oder man gibt seinen Hof auf. Was immer mehr tun. Es liegt viel Land brach, gerade hier in der Gegend, wo die Böden nicht so fruchtbar sind wie südlich von Dongarth.“

„Und das lassen die Kontrolleure zu?“, fragte Magi Achain.

„Die erfahren natürlich erst hinterher, wenn jemand aus der Gegend verschwindet. Der Bauer bringt heimlich nach und nach alles, was einen Wert hat, in einen entfernten Landstrich, wo er sich als Knecht verdingt.“

„Als Knecht? Was hat er dadurch gewonnen?“

„Er ist nicht mehr für die Menge verantwortlich, die geerntet wird. Wenn er schlau ist, und das sind die meisten, verkauft er sein Vieh und Anderes rechtzeitig unter der Hand. Das Geld genügt, um sich ein Haus mit einem großen Garten am Rand eines Dorfes zu kaufen. Ein Haus, wie es ein Knecht sich eigentlich nicht leisten kann. Dort pflanzt er alles an, was er und seine Familie brauchen. Außerdem hält er ein paar Hühner und mästet heimlich ein Schwein. Damit lebt er von da an sorgenfrei.“

„Aber die Menschen, die von dem abhängig sind, was auf Bauernhöfen produziert wird, leiden darunter.“

„Richtig. Denn es gelingt so gut wie nie, neue Pächter oder Besitzer für einen aufgelassenen Bauernhof zu finden. Wie gesagt, das Land liegt dann brach. Im Übrigen werden die Preise für Nahrungsmittel in den Städten von den Behörden festgelegt, und zwar so niedrig, dass die Bauern sowieso kaum noch etwas verdienen.“

Wir waren stehen geblieben, um uns das alles anzuhören, denn es klang ungeheuerlich. Ich hatte schon früher auf meiner Reise durch die Ringlande erfahren, wie hart das Nichteinhalten von Mengenvorgaben neuerdings bestraft wurde. Eigentlich war das, was uns Inna erzählte, die logische Folgerung daraus: Wenn sich die Arbeit nicht mehr lohnte und man für geringere Ernten haftbar gemacht wurde, dann gab man sein Gewerbe eben auf. Auch Handwerker machten das so, was sicherlich in den Städten ebenfalls spürbar sein würde.

Wir gingen langsam weiter.

Zum ersten Mal sagte Serron etwas, und wie immer dachte er an die praktische Seite: „Was erwarten Sie von uns hier auf dem Hof?“

„Das wurde ja schon besprochen: Mithilfe bei der täglichen Arbeit, wie dem Füttern des Viehs. Reparatur von Zäunen, Einrichten eines neuen Gatters am Fluss und so weiter. Außerdem können Sie im Winter Schnee schippen, damit Jorg das nicht jeden Tag tun muss.“

„Was tun wir, wenn ein Kontrolleur auf den Hof kommt?“, fragte Serron weiter.

„Falls wir vorher davon erfahren, schicken wir Sie zum Arbeiten hierher zu den abgelegenen Gattern, wo Sie wegen der Bäume vom Haus aus nicht zu sehen sind. Kommt eine unerwartete Kontrolle, müssen Sie eben tun, als wären Sie einfache Knechte. Hilfsarbeiter, die über den Winter hier arbeiten, während Sie im Sommer als Erntehelfer unterwegs sind, weil man da mehr verdient. Solche Leute gibt es.“

Wir kamen wieder beim Wohnhaus an und Inna zeigte uns, wo das Futter für die Hühner und die Hasen war, wie man Eier einsammelte und ähnliche einfache Verrichtungen. Die Einzige von uns, die darüber schon etwas wusste, war Pia Tenga. Sie war in dem kleinen Ort Werenga aufgewachsen, als Tochter eines Gastwirts. In solchen Städtchen hatte jeder einen großen Garten und oft auch Kleinvieh. Dadurch war man teilweise autark. Wir anderen stammten aus großen Städten und wussten nur, dass man Lebensmittel auf dem Markt kaufen konnte, nicht wie sie hergestellt wurden.

Nach einigen Tagen hatten wir die wichtigsten Dinge gelernt. Es gab nicht genug Arbeit für uns alle, was ganz gut war. Denn Fürst Borran und Magi Achain zeigten keinerlei Talent für solche Tätigkeiten. Sie blieben meist im Haus bei Charam, wo sie lasen oder mit ihm diskutierten. Pia und Serron spezialisierten sich auf die Fütterung und Betreuung des Kleinviehs, während ich Jorg zur Hand ging, wenn es schwerere Arbeiten zu erledigen gab.

Der Hüne war nicht gesprächig, weshalb ich das meiste zur Unterhaltung beitrug. Nach und nach fand ich heraus, dass er nicht nur schweigsam war, sondern auch ziemlich langsam beim Denken. Manches verstand er erst, wenn ich es mehrmals wiederholte oder einfacher formulierte.

Als ich darüber sprach, dass meine beiden älteren Begleiter bei Charam und den Büchern waren, stellte sich heraus, dass er nicht mehr lesen konnte. Vor dem Unfall, wie er die Kampfverletzung nannte, hatte er es ganz gut beherrscht. Aber nun waren ihm Lesen und Schreiben unmöglich, ebenso wie der Umgang mit Zahlen. Selbst beim Einkaufen im Ort hatte er Probleme, weil er die Münzen nicht auseinanderhalten konnte.

Ich erzählte von einigen Regionen der Ringlande, die ich auf Reisen kennengelernt hatte. Er interessierte sich besonders für den Südosten, die Provinz Kirringa, weil er eine Schwäche für Pferde hatte. Ich berichtete ihm von den dortigen Gegebenheiten. Als ich erwähnte, dass auch dort die Kontrolleure inzwischen das Sagen hatten und gute Pferde, wenn sie überhaupt noch gezüchtet wurden, ausschließlich den Kurrethern zustanden, bekam er einen Wutanfall.

Man sagte rothaarigen Menschen allgemein einen Hang zum Jähzorn nach, und bei ihm traf das zweifelsohne zu. Er hieb mit der Axt gegen einen Baum, den wir gar nicht fällen wollten, und zwar so oft, dass der umstürzte, direkt auf ein Gatter, das wir anschließend reparieren mussten.

Als Begründung für seinen Anfall sagte er nur: „Ich mag keine Kontrolleure. Sie sind böse.“

Das sprach er in einer Art kindlichem Trotz aus, der so gar nicht zu seinem muskulösen, erwachsenen Äußeren passte.

Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern konzentrierte mich auf die Arbeit am Gatter. So, wie er dabei zulangte, war seine Wut längst nicht verraucht. Er reagierte sie nun aber ab, indem er etwas aufbaute.

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