Читать книгу Eine neue Welt - Manfred Rehor - Страница 9
ОглавлениеAssassinenmord
Es war eine schreckliche Fahrt. Wir steckten mit angezogenen Knien in den Weinfässern, die zwar sauber waren, aber erbärmlich stanken. Ich hätte nie gedacht, dass der Geruch von Wein so ekelerregend sein könnte. Trotz der warmen Kleidung fror ich nach einer Stunde, und nach zweien hatte ich den Eindruck, meine Beine würden absterben und ich den Kältetod sterben.
Gerade, als ich es nicht mehr auszuhalten glaubte, hielt das Fuhrwerk an und das Fass wurde geöffnet.
„Es ist jetzt dunkel genug“, sagte der Weinhändler. „Wir stehen abseits der Straße. Aber bitte nicht laut reden und möglichst wenige Spuren hinterlassen.“
Wir waren absichtlich am späten Nachmittag losgefahren, um nach einer ersten Etappe eine Pause einlegen zu können. Zwölf Meilen waren für ein Fuhrwerk eigentlich keine lange Strecke, aber die matschigen Feldwege, die Vindar Pollderan wählte, ließen kaum Schritttempo zu. Außerdem fuhr er nicht die direkte Strecke zu seiner Weinhandlung, sondern einen weiten Umweg.
Erstaunlicherweise schien ausgerechnet Fürst Borran die Fahrt am besten zu verkraften. Sein Aufenthalt im Kerker hatte ihn womöglich so weit abgehärtet, dass er unsere Reise als Lappalie empfand.
Nachdem wir uns gedehnt und gestreckt hatten, setzten wir uns um ein kleines Lagerfeuer.
„Hoffentlich kommt unterwegs niemand auf die Idee, Ihre Ladung zu überprüfen“, sagte ich.
„Wieso?“, fragte der Händler. „Ich bringe leere Fässer von meinen Kunden zurück nach Hause. Wenn man dagegen schlägt, klingen sie hohl. Warum sollte jemand da noch verlangen, dass ich sie öffne?“
„Dass sie nicht voller Wein sind, kann jeder schon von weitem sehen“, sagte Serron.
„Wie denn das?“, wollte ich wissen.
„Wären sie voll, würden zwei Pferde diesen Wagen im Matsch nicht von der Stelle bekommen.“
„Normalerweise transportiere ich auch nur zwei bis drei Fässer“, gab der Weinhändler zu.
„Ist es schon vorgekommen, dass Sie kontrolliert wurden?“, fragte ich.
„Unterwegs? Gelegentlich. Aber das sind dann Kontrolleure, die sicherstellen wollen, dass tatsächlich guter Wein in den Fässern ist. Die verlangen einen Krug von jedem Fass als Warenprobe. Und bekommen ihn natürlich von mir. Wie gesagt, sobald die sehen, dass die Fässer leer sind, erlischt deren Interesse an meiner Ladung.“
Wir lachten und bereiteten uns darauf vor, eine kurze Nacht im Freien zu verbringen. Noch vor Morgengrauen würden wir weiterfahren, damit wir sicher sein konnten, dass niemand beobachtete, wie wir zurück in die Fässer krochen. Das kleine Lagerfeuer löschten wir, nachdem wir gegessen hatten.
Obwohl der Weinhändler es für unnötig hielt, blieb immer jemand von uns wach. Pia, Serron und ich wechselten uns ab. Serron war in den Stunden nach Mitternacht dran.
Er weckte mich und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Ich konnte ihn kaum erkennen, weil der Mond nur schwach durch die über den Himmel ziehenden Wolken schien.
„Was ist?“, flüsterte ich.
„Dort hinten brennt etwas. Vermutlich ein Bauernhof.“ Er deutete nach Osten.
Es war schwierig, zu schätzen wie weit der Brand entfernt war und was dort in Flammen stand. Da wir uns in dieser Gegend nicht auskannten, weckte ich Vindar Pollderan.
„Ein Dorf gibt es dort nicht“, sagte er. „Also muss es ein Hof sein.“
„Wir müssen hin und sehen, ob wir helfen können“, sagte Serron.
„Vorsicht!“, warnte der Händler. „Die meisten Brände werden heutzutage absichtlich gelegt. Von Söldnern oder Assassinen, um Bauern abzustrafen, die wiederholt das verlangte Soll nicht abliefern.“
„Aber einfach hierbleiben und weiterschlafen können wir doch auch nicht“, wandte ich ein. „Dort können Menschen in Not sein.“
„Wenn Sie hingehen und gefangen werden, wird man Sie fragen, wo Sie mitten in der Nacht herkommen“, sagte der Händler. „Und diese Leute haben Möglichkeiten, die Wahrheit von Ihnen zu erfahren, glauben Sie mir das. Egal, was dort geschehen ist, Sie sollten hierbleiben!“
Da er lauter sprach als Serron und ich, wachten nun die Anderen auf und kamen zu uns.
„Aron, Pia, Sie beide gehen zu dem Bauernhof!“, ordnete Borran an, nachdem er erfahren hatte, was los war. „Nutzen Sie Schleichwege und jede Deckung aus, soweit das im Dunkeln möglich ist. Gehen Sie nur so nahe heran, wie nötig ist, um zu sehen, warum der Hof brennt. Greifen Sie nicht ein!“
Der Weinhändler erhob nun keine Einwände mehr. Die befehlsgewohnte Stimme des Fürsten beeindruckte ihn. „Wir bereiten uns aber jetzt schon auf die Weiterfahrt vor“, schlug er vor. „Sammeln Sie alles ein, was herumliegt, und kriechen Sie in die Fässer.“
Das löste Widerspruch aus, doch Fürst Borran gab dem Händler Recht.
Pia und ich schnallten unsere Degen um und machten uns auf den Weg querfeldein. Aufgrund des schwachen Mondlichts war es schwierig, zwischen Büschen und Bäumen einen gangbaren Weg zu suchen. Einfacher wäre es gewesen, offene Wiesen und Ackerflächen zu nutzen, aber dort hätte man uns sehen können. Über der Landschaft lag eine dünne Schneedecke, gegen die wir als dunkle Gestalten abstachen. Das bedeutete im Übrigen, dass man unsere Spuren bei Tageslicht auf jeden Fall finden würde, egal wo wir entlang gingen. Wir durften nur nicht jetzt schon entdeckt werden.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis wir nahe genug heran waren, um zu erkennen, dass ein Wohnhaus und ein Nebengebäude brannten. Menschen oder Tiere sahen wir keine. Langsam gingen wir außerhalb des Feuerscheins in einem Bogen um die Brandherde herum. Das Haus qualmte nur noch; das Nebengebäude brannte noch lichterloh.
Wir wagten uns nicht näher heran, und das war gut so, denn unvermittelt stürzte das Nebengebäude in sich zusammen. Brennende Teile wurden in weitem Umkreis verstreut. Einige davon erreichten das Wohnhaus und lösten dort neue Brände aus.
In deren Licht konnte ich zwei Tote sehen, die im Hauseingang lagen. Sie waren verkohlt, deshalb hatte ich ihre Körper zunächst für heruntergefallene Balken gehalten.
„Dort drinnen lebt niemand mehr“, sagte ich zu Pia. „Falls es Überlebende gibt, sind sie geflohen und auf dem Weg ins nächste Dorf, um Hilfe zu holen. Oder sie verstecken sich irgendwo.“
„Dann suchen wir nach ihren Spuren. Wir gehen einmal ganz um den Bauernhof herum. Vielleicht sehen wir auf seiner Rückseite noch etwas Interessantes.“
Es dauerte eine Weile, bis wir dorthin kamen, weil die Gebäude nun wieder heller brannten und wir sorgfältig darauf achteten, nicht in den Bereich des flackernden Lichts zu geraten. Schließlich sahen wir mehrere Tote, die nicht verbrannt waren. Offenbar hatten sie das Wohnhaus durch die Hintertür verlassen und versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Dabei waren sie gestorben.
Wir gingen nicht nahe genug heran, um genau sehen zu können, woran. Aber so, wie Männer, Frauen und Kinder dalagen, hatte man sie mit Schwertern erbarmungslos niedergemäht. Acht Personen waren es insgesamt.
„Die Bauernfamilie und einige Knechte und Mägde“, vermutete Pia. „Es waren also Söldner, die den Hof in Brand gesetzt haben.“
„Gehen wir zurück zum Wagen“, sagte ich. „Helfen können wir hier niemandem mehr.“
Wir richteten uns auf, denn bisher hatten wir in geduckter Haltung dagestanden, um nicht entdeckt zu werden. Da war mir, als sehe ich eine Bewegung rechts hinter Pia. Es war nur ein Moment, in dem etwas noch dunkler war als die vorherrschende Dunkelheit, und im nächsten Augenblick war es wieder weg.
„Runter!“, rief ich. Gleichzeitig zog ich die Waffe und sprang über Pia, die sich reaktionsschnell fallen ließ. Ohne genau zu erkennen, was da war, stieß ich mit der Spitze des Degens zu und sprang sofort wieder zurück.
Ein unterdrückter Aufschrei belohnte mich, und eine seltsame Waffe schlug nach mir. Sie glich einem Mittelding zwischen Degen und Schwert, mit besonders langer Klinge. Ich war knapp außer der Reichweite des Gegners, das rettete mir das Leben.
Pia gelang es, am Boden liegend ihren Degen zu ziehen und schräg nach oben zu stechen. Sie traf den Gegner in den Bauch und die Klinge fuhr hoch und zerfetzte wahrscheinlich die Lunge oder eine lebenswichtige Schlagader. Jedenfalls kippte die schwarze Gestalt einfach um, ohne einen weiteren Laut von sich zu geben.
Im selben Moment spürte ich einen Schmerz am linken Arm. Ich warf mich mit einem gewaltigen Satz nach rechts, wo ich in einem Busch landete, der meinen Sturz auffing. Das hatte den Vorteil, dass ich nicht hart fiel, aber den Nachteil, dass ich mich aus den Ästen befreien musste, bevor ich mich umwenden konnte.
Hinter mir hörte ich eine zischende Stimme, die etwas Unverständliches sagte, und das Aufeinanderprallen von Klingen. Pia rettete mich erneut - hoffentlich.
Immerhin war ich es diesmal, der den Gegner töten konnte. Der war mit Pia beschäftigt und wandte mir den Rücken zu. Das war ein Fehler, den er selbst bemerkte, weshalb er einen halben Schritt rückwärts auf die Seite machte, um uns beide in den Blick zu bekommen. In genau diesem Moment traf ihn mein Hieb auf Kniehöhe, er stolperte, wollte sich umwenden und drehte sich dabei wegen des kaputten Knies zu weit, so dass die Spitze meiner Klinge ihn in der Herzgegend traf. Er sackte zu Boden.
Mit den Waffen in der Hand standen Pia und ich keuchend da und warteten ab. Gab es einen dritten Angreifer?
Uns beiden war klar, dass wir nicht noch einmal in eine Falle tappen durften. Deshalb blieben wir mehrere Minuten bewegungslos stehen. Die beiden schwarzen Gestalten am Boden rührten sich auch nicht, aber es war durchaus möglich, dass sie sich nur tot stellten. Wir mussten sie untersuchen, auch um herauszufinden, wer sie waren. Dazu brauchten wir Licht.
Als wir einigermaßen sicher waren, dass niemand mehr auf uns lauerte, kümmerte ich mich als erstes um die Verletzung an meinem linken Arm. Sie schmerzte und blutete, aber es konnte sich nur um eine leichte Schnittwunde handeln. Trotzdem musste sie versorgt werden.
Pia verband mich, was in der Dunkelheit schwierig war. Das Haus war niedergebrannt, nicht einmal das Flackern des Feuers war mehr zu sehen. Nur der Mond, der durch die schnell treibenden Wolken leuchtete, lieferte ein wenig Helligkeit.
„Du hast Glück gehabt“, sagte Pia leise, nachdem sie aus dem Ärmel meines Hemds einen provisorischen Verband gemacht hatte.
„Wir haben beide Glück gehabt. Ich weiß nicht, was die Angreifer zögern ließ, aber hätten sie gnadenlos sofort zugeschlagen, als wir hierher kamen, würden wir jetzt hier tot am Boden liegen.“
„Sie wussten nicht, wer wir sind“, vermutete sie. „Wir haben uns nicht benommen wie Bauern oder Knechte, die vor dem Feuer fliehen. Deshalb haben sie gezögert, bevor sie angriffen.“
Wieder warteten wir schweigend eine Weile. Dann trieb der Wind die Wolken auseinander und es entstand eine Lücke, durch die das Mondlicht mit voller Helligkeit schien. Wir nutzten die wenigen Minuten, um die Toten zu untersuchen.
Sie trugen hochwertige Lederkleidung, die so fein gefertigt war, dass sie die Bewegung nicht behinderte und trotzdem schützte. Allerdings nicht gegen so heftige Hiebe und Stiche, wie wir sie austeilten, als wir um unser Leben kämpften. Die Waffen schienen Sonderanfertigungen zu sein. Ihre Klingen waren aufwendig ziseliert. Erstklassige Handwerker mussten Wochen daran gearbeitet haben. Auch der Stahl war hochwertig und die Klingen waren ausgesprochen scharf.
„So etwas hat in den Ringlanden nicht jeder“, sagte ich beeindruckt.
Pia stimmte mir zu. „In diesen Zeiten verfügen nur die Kurrether über Waffen von erstklassiger Qualität. Und vielleicht die Fürsten, die sie unterstützen. Schauen wir uns an, was die Kerle in den Taschen haben, solange es hell genug ist.“
Wir fanden Goldmünzen und einige wenige Silbermünzen. Jeder der beiden trug ein kleines Vermögen bei sich.
„Assassinen“, folgerte ich.
„Wahrscheinlich. Sie werden Pferde hier in der Nähe haben. Suchen wir danach?“
„Wir müssen zurück zum Wagen. Die Anderen schicken sonst jemanden los, um nach uns zu suchen.“
„Wen sollten sie schicken?“, fragte Pia. „Höchstens Serron. Aber der wird beim Fürsten und dem Magi bleiben, weil die sonst ohne Schutz sind.“
„Also gut, suchen wir nach den Pferden der beiden. Aber in welcher Richtung?“
„Sie haben die Bewohner des Bauernhofs getötet und ihn angezündet, und das muss drei Stunden oder länger her sein. Also waren sie nur noch hier, um den Brand zu beobachten und sicherzustellen, dass es keine Überlebenden gibt. Dafür haben sie sich sicherlich einen Ort ausgesucht, von dem sie schnell den Rückweg antreten können. Sie werden nicht noch einmal in der Dunkelheit um den Hof herumgehen wollen, um zu ihren Pferden zu gelangen. Also müssen die in der Nähe sein.“
„Klingt logisch“, gab ich zu.
Es dauerte eine weitere Stunde, bis wir sie fanden. Das lag zum einen am Mond, der wieder hinter Wolken verschwunden war, zum anderen daran, dass wir uns nun ausgesprochen vorsichtig und möglichst geräuschlos bewegten.
Die zwei Pferde waren an Bäumen festgebunden. Sie waren gut dressiert, denn sie gaben keinen Laut von sich, während wir uns näherten, kein Schnauben und kein Scharren mit den Hufen. Erst, als Pia nach den Zügeln griff, warf eines der Tiere seinen Kopf herum und wir wichen zurück.
Es waren Rassetiere, Rappen wie sie in der Provinz Kirringa gezüchtet wurden und die, wie ich dort erfahren hatte, nur noch den Kurrethern zustanden. Sie waren nicht gesattelt, also hatten ihre Besitzer nicht damit gerechnet, schnell von hier fliehen zu müssen. Die Sättel und Satteltaschen lagen in der Nähe. Sie bestanden aus geschwärztem Leder, waren bestens verarbeitet und reichlich verziert, aber nicht mit glänzenden Goldapplikationen, wie die Kurrether sie liebten.
In den Satteltaschen fanden wir außer den üblichen Dingen wie Vorräten und Decken auch je einen Beutel mit Goldmünzen sowie Etuis mit seltsamen Gerätschaften, die wir beide nicht kannten.
„Die Etuis nehmen wir mit“, sagte Pia. „Wir zeigen sie dem Fürsten und Magi Achain. Was machen wir mit dem Rest und den Pferden?“
„Die lassen wir hier. Bei Tageslicht werden Leute von anderen Bauernhöfen oder einem der Dörfer in der Umgebung kommen. Sollen sie sich freuen über die wertvollen Tiere und all das Gold.“
„Einverstanden. Jetzt müssen wir nur den Weg zurück zum Fuhrwerk finden.“ Pia ging voraus und wir umgingen in großem Abstand den Bauernhof.
Es war bereits hell, als wir endlich bei dem Wagen ankamen.
Während wir von unseren nächtlichen Begegnungen berichteten, untersuchte Magi Achain meine Verletzung. Er hatte eine Zeitlang als Heiler in einem Dorf am Donnan gearbeitet und kannte sich gut aus damit.
„Sollte problemlos vernarben“, sagte er. „Sie haben ja Erfahrung mit Wunden, Aron, denn Sie haben schon viele solcher Narben am Körper. Sauber halten, den Verband immer mal wieder wechseln, und alles wird gut.“
Wir zeigten ihm die beiden Etuis, die wir gefunden hatten. Er nahm die Gegenstände einzeln heraus und sah sie sich an. Es waren scharfe Messerchen, Zangen, seltsame Klemmvorrichtungen und ähnliche Dinge, alle aus Stahl gefertigt.
„Die herzustellen muss viel Geld gekostet haben“, sagte ich. „Wenn das alles tatsächlich aus den Ringlanden stammt, dann haben es die Feinwerker in der Provinz Kirringa angefertigt, die sonst Uhren bauen.“
„Ich glaube nicht, dass es ringländische Folterinstrumente sind“, sagte der Magi.
„Folterinstrumente?“, fragte ich überrascht.
„Ja, einen anderen Sinn kann ich nicht darin erkennen. Außerdem sind die Assassinen dafür berüchtigt, dass sie ihre Opfer bestialisch foltern, bevor sie sie töten. Das scheint bei dem Bauernhof nicht der Fall gewesen zu sein, sonst hätten die beiden Männer diese Etuis bei sich gehabt, statt sie in den Satteltaschen zu lassen.“
„Unter Folter stelle ich mir das Zertrümmern von Knochen mit einem Knüttel vor“, sagte ich. „Oder das Verbrühen von Haut mit kochendem Wasser, das Aufhängen mit den Füßen nach oben und so weiter. Was macht man mit so kleinen Gerätschaften?“
„Dem Hörensagen nach kann man die Fingernägel einzeln ausreißen, Finger zerquetschen und noch viel schlimmere Verletzungen zufügen“, sagte Magi Achain. „Ich bin froh, noch nie ein Opfer solcher Methoden gesehen zu haben. Sie sollen schrecklich leiden. Der Tod ist für sie eine Erlösung.“
„Warum tut man das?“, fragte Pia. „Gewöhnlich foltert man Menschen, um ihr Wissen aus ihnen herauszupressen.“
„Es geht nur darum, Schrecken zu verbreiten“, erklärte Fürst Borran. „Es soll sich herumsprechen, was jemandem bevorsteht, wenn er die Aufmerksamkeit der Kurrether auf sich zieht. Zum Beispiel, indem er wiederholt die vorgegebenen Ziele bei der Herstellung von Waren nicht erreicht. So wie Magi Achain haben vermutlich alle Menschen in den Ringlanden Gerüchte über die Methoden der Assassinen gehört. Das schreckt ab.“
Wir beschlossen, nicht weiter über dieses Thema zu sprechen, sondern unsere Reise fortzusetzen. Sobald man die Leichen der beiden Assassinen fand, würde man nach den Mördern suchen.
„Und nach denen der Bauersleute“, ergänzte ich. „Womöglich schiebt man uns diese Tat in die Schuhe, weil wir in der Nähe waren.“
„Nein“, sagte Fürst Borran. „Die Tat dient der Abschreckung, deshalb wird man nicht behaupten, normale Räuber oder Söldner hätten sie verübt. Und den Tod der Assassinen wird man vertuschen. Er könnte falsche Hoffnungen in den Menschen wecken.“
Zunächst beseitigten wir alle Spuren am Lagerplatz und in seiner Umgebung, die darauf hinwiesen, dass hier mehr als eine Person übernachtet hatte.
Dann krochen wir in unsere Weinfässer und der Wagen ruckte an.
Der Tag war kalt, aber die Wolken der Nacht hatten sich verzogen. Die Sonne schien prall herunter und mir wurde zunehmend warm in dem Versteck. Es war die gegenteilige Erfahrung der bisherigen Fahrt, während der ich gefroren hatte. Ich versuchte, mich der dicken Jacke und der Decke zu entledigen, die ich extra um mich gelegt hatte. Es war schwierig und, wegen meiner frischen Wunde, schmerzhaft.
Ich hatte es fast geschafft, als der Wagen anhielt und Männerstimmen zu hören waren.
„Seit wann wird im Winter Wein ausgeliefert?“, verstand ich.
„Es sind leere Fässer“, sagte der Händler.
„Gebrauchte Fässer vertragen keinen Frost!“
„Richtig, ganz richtig“, beeilte sich der Weinhändler zu versichern. „Aber der Winter kam dieses Jahr früh. Ich hoffe, ich bekomme die Fässer noch ohne Schäden nach Hause. Heute scheint die Sonne und wärmt sie auf. Damit dürften sie auch die kommende Nacht überstehen, ohne dass sich der Frost in die Fugen frisst.“
Ein paar heftige Schläge waren zu hören, dann knallte auch etwas gegen das Fass, in dem ich steckte.
„Sind tatsächlich nicht gefüllt“, sagte der Fremde. „Schade, sonst hätten wir an Ort und Stelle eine Weinprobe gemacht, was?“
Einige andere Männer lachten laut.
„Das ist leider nicht möglich“, sagte der Händler. „Aber ihr wisst ja, wo ihr den besten Wein kaufen könnt, wenn euch danach ist. Kommt einfach in mein Geschäft. Ich habe auch ein paar preiswerte Sorten, falls euch die guten Sall-Weine zu teuer sind.“
„Typisch“, sagte der Mann. „Ein Weinhändler denkt immer daran, wie er seinen verdünnten Verschnitt loswerden kann. Fahr weiter, bevor ich mich aufrege.“
Das Fuhrwerk ruckte wieder an und rollte weiter.
Eine Stunde fuhren wir, so schätzte ich, dann hielt der Wagen erneut an. Der Händler half uns aus den Fässern. Er hatte eine vor Blicken geschützte Stelle in der Nähe der Straße gefunden, wo wir Pause machen konnten.
„Wer waren diese Männer?“, fragte Fürst Borran, als wir alle draußen waren.
„Der Büttel eines der Dörfer an dieser Straße. Er hatte einige schlecht bewaffnete Männer bei sich. Vermutlich Leute aus seinem Dorf, die er mitgenommen hat, damit er nicht alleine die Straße absuchen muss.“
„Also keine Söldner. Bedeutet das, dass man die toten Assassinen noch nicht gefunden hat?“
„Vermutlich. Man hat den Brand gesehen und sucht jetzt nach Fremden in der Umgebung, um der Pflicht Genüge zu tun. Der Büttel wird einen Bericht schreiben und erwähnen, dass er mich mit einem Wagen leerer Weinfässer angetroffen hat. Mit etwas Glück wird das in seiner vorgesetzten Behörde und danach bei den Kurrethern kein Misstrauen hervorrufen. Besonders, wenn er behauptet, dass er die Fässer persönlich überprüft hat; was er vermutlich schreiben wird, um sich selbst abzusichern.“
„Also keine Probleme von dieser Seite“, sagte der Fürst. „Was erwartet uns, wenn wir Ihr Weinhaus erreichen? Und wie sicher sind wir dort, falls man doch nach den Mördern der Assassinen sucht und den Vorfall nicht vertuscht?“
„Lassen Sie sich überraschen“, sagte der Weinhändler. „Es ist nur noch eine halbe Stunde Fahrt. Wir bleiben hier, bis es dunkelt, damit man unsere Ankunft nicht beobachten kann.“
Es war Nacht, als wir das Haus des Weinhändlers erreichten. Der Wagen rollte in eine große Scheune, wo ein Helfer die Pferde ausspannte und in ihren Stall führte. Wir krochen aus den Fässern und folgten Vindar Pollderan durch eine Tür, die aus der Scheune direkt ins Wohnhaus führte. Dort ging es eine Treppe hinunter in seinen Weinkeller, wo in großen Gewölben Dutzende von Fässern lagerten. Solche, wie wir sie als Versteck benutzt hatten, aber auch kleinere und größere.
Der Händler ging zu einem der großen, das liegend fast mannshoch war, nahm einen daneben stehenden Krug und öffnete den Hahn, der unten an der Vorderseite des Fasses war. Roter Wein lief heraus.
„Darauf bin ich besonders stolz“, sagte er.
„Warum?“, fragte Fürst Borran. „Ist das ein besonderer Jahrgang?“
„Nein. Aber schauen Sie mal.“ Der Weinhändler griff oben in eine schmale Nut des Fassdeckels und zog diesen mit einem Ruck auf.
Ich sprang unwillkürlich zurück, weil ich erwartete, von einem Schwall Wein durchnässt zu werden. Dann sah ich in das Fass hinein und staunte: Im Inneren war ein weiteres Fass, nur einen halben Schritt hoch. Zu ihm gehörte der Hahn, aus dem der Wein geflossen war. Darüber hatte man einige Holzbretter befestigt, die nach hinten führten - zu einer Öffnung in der Rückwand des Weinkellers!
Aus einer Ecke des Kellerraums holte der Händler eine Leiter, mit deren Hilfe wir auf die Bretter in dem großen Fass klettern und nach hinten kriechen konnten. Dort führten einige Stufen hinunter in einen großen Raum.
Wir wurden erwartet. In einem breiten Sessel, umgeben von Kerzenständern, die für reichlich Licht sorgten, saß Charam.
„Willkommen!“, rief er. „Leisten Sie mir Gesellschaft beim Verkosten all dieser hervorragenden Tropfen.“
Neben ihm standen mehrere Krüge auf einem Tisch, dazu Becher und ein Teller mit verschiedenen Käsesorten.
„Der Weg hierher muss mühselig gewesen sein“, fuhr er fort, während einer nach dem anderen von uns in den Raum kletterte. „Besonders der Eingang durch dieses elendige Fass. Ich hatte größte Mühe damit.“
Ich konnte mir kaum vorstellen, wie dieser überfette Mann durch das Weinfass gekrochen war. Aber er saß hier, also hatte er es geschafft.
Der Raum war groß genug, um eine vielköpfige Familie unterzubringen, und so war er auch ausgestattet. Es standen mehrere niedrige Betten darin, außerdem Tische, Stühle und Schränke. In einer Ecke war ein Loch im Boden, neben dem ein Eimer stand. Man konnte sich hier also selbst mit Wasser versorgen. Eine Holztür direkt neben dem Loch ließ vermuten, dass auch für andere Bedürfnisse vorgesorgt war. Wenn man genügend Vorräte eingelagert hatte, konnte man es hier lange aushalten.
Als habe er meine Gedanken gelesen, zeigte Charam auf einen der Schränke und sagte: „Ihr werdet hungrig sein nach der Fahrt. Dort findet ihr Brot und geräucherte Würste. Käse steht hier auf dem Tisch. Sogar Honig ist in dem kleinen Topf dort, falls jemand etwas Süßes haben möchte.“
Nicht einmal Bücher fehlten. Der dicke ehemalige Mönch hatte einen Folianten aufgeschlagen auf dem Schoß, und mehrere weitere lagen auf einem der Stühle. Selbst für ausreichende Beleuchtung war gesorgt, denn wenn die Kerzen nicht genügten, konnte man Petroleumlampen entzünden, die an mehreren Stellen an Haken von der Decke hingen.
Fürst Borran sah sich ebenso erstaunt um wie wir alle, fragte dann aber: „Dies kann ein Rückzugsort sein, aber auch ein Gefängnis. Kommt man dort ins Freie?“
Er zeigte auf die Holztür, dir mir auch aufgefallen war.
„Nein, da ist nur ein Loch im Boden, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Charam zeigte auf einen der Schränke. „Aber dahinter beginnt ein Gang, der in einen abseits stehenden kleinen Schuppen führt. Von dort kommt auch die Luft, die Sie atmen. Die Wärme der Kerzen zieht sie herein und lässt sie nach oben abströmen, wo sie in den Kamin geleitet wird, der von der Küche des Wohnhauses durch das Dach nach außen führt. Es ist alles wohl durchdacht.“
„Es sieht so aus, als sei dieser Raum für Ihre Bedürfnisse und die mehrerer anderer Menschen eingerichtet worden“, sagte ich. „Sicherlich nicht erst vor wenigen Tagen. Also, was ist das hier?“
„Eine Stätte der Zuflucht für verfolgte Priester und Mönche“, sagte Charam. „Es kommt immer noch vor, dass die Kurrether jemanden aus dem Weg haben wollen, der ihnen unangenehm ist. Wir können nicht jedem Menschen helfen, der vor ihnen flieht, aber für unsere Brüder und Schwestern haben wir Vorsorge getroffen. Der Herr dieses Hauses ist nicht nur ein Weinhändler mit einem hervorragenden Angebot, sondern auch ein ehemaliger Priester, was sich aber nicht herumsprechen soll. Zu seinen Kunden gehören mehrere von uns Ehemaligen, verstreut über Dutzende Meilen im Umkreis. Wer aus einem Tempel oder aus einem der wenigen, noch existierenden Klöster fliehen muss und einen von uns erreicht, wird dort von Vindar Pollderan abgeholt und hierher gebracht. Sie haben die Art des Transports am eigenen Leib kennengelernt. Hier kann man einige Wochen oder Monate bleiben, bis die Lage sich beruhigt hat. Dann bekommen die Mönche einen neuen Namen und eine neue Lebensgeschichte und werden zu einem der Kunden des Weinhändlers gebracht, wo sie als Helfer arbeiten können, bis sie etwas Besseres finden.“
Das lange Reden hatte Charam erschöpft. Er griff nach dem Becher, trank ihn leer und stopfte sich dann ein großes Stück Käse in den Mund.
„Heißt das, wir sollen hier einige Wochen bleiben?“, fragte Magi Achain. „Das hatten wir eigentlich nicht vor.“
„Nein“, sagte Charam mit vollem Mund. „Ihnen dient dieses Versteck als Ausgangsbasis. Aber berichten Sie zunächst, wie die Reise verlaufen ist.“
Während wir das Abenteuer mit dem brennenden Bauernhof und den Assassinen erzählten, schenkte sich der Dicke Wein nach, trank ihn und aß noch mehr Käse. Dabei nickte er immer wieder, als habe er sich alles, was wir erlebt hatten, genau so gedacht.
„Assassinen überfallen Bauern“, sagte er schließlich. „Die Assassinen sterben dabei. Der Dorfbüttel ermittelt der Form halber, tut aber alles, um keine Spuren der Täter zu finden. Es ist wie immer.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Magi Achain.
„Der Schein bleibt aufrecht erhalten“, erklärte Charam. „Man wird den Brand in die Akten eintragen als Unglücksfall und nicht erwähnen, dass die Bewohner des Bauernhofs vorher getötet wurden. Die beiden Toten im Wald wird man zu Reisenden erklären, die von Räubern getötet wurden. Die Suche nach den Tätern blieb erfolglos, vermutlich sind sie mit schnellen Pferden entkommen. Man wird den Fall abschließen. Nach Dongarth meldet man, es seien Räuber hier in der Gegend durchgereist, man möge bitte andere Gemeinden im Umkreis warnen.“
„Räuber ist wohl nicht der richtige Begriff“, wandte ich ein. „Wir haben den beiden toten Assassinen ihr ganzes Gold und ihre Waffen gelassen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Dorfbüttel etwas davon in ihren Taschen gefunden hat“, sagte der dicke ehemalige Mönch und zwinkerte mir zu. „Womöglich haben die Räuber sogar die Pferde mitgenommen, die in der Nähe des Tatortes festgebunden waren.“
„Gut, der Büttel und seine Helfer werden sich bereichert haben“, sagte Fürst Borran. „Umso mehr haben sie allen Grund, die Sache nicht zu hoch zu hängen. Wir müssen folglich nicht damit rechnen, von ihnen gesucht zu werden.“
„Von denen nicht, aber von den Hintermännern der Assassinen“, sagte ich. „Die werden sich nicht damit abgeben, dass man zwei der Männer getötet hat. So etwas darf nicht geschehen, es untergräbt den schrecklichen Ruf, den diese Berufsmörder haben.“
„Trotzdem wird man nicht nach Leuten wie uns suchen“, meinte Magi Achain. „Wer Assassinen töten kann, muss jung, gewandt und sehr gut ausgebildet sein. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Pia und Aron, aber auf den ersten Blick sehen Sie nicht danach aus.“
Ich nickte nur, Pia reagierte gar nicht. Wir näherten uns beide dem vierzigsten Lebensjahr. Sie war sogar zwei oder drei Jahre älter als ich, vielleicht hatte sie das nächste Lebensjahrzehnt bereits erreicht. Wir hatten nie darüber geredet. Aber es stimmte, wir waren beide nicht mehr das, was wir von einem Dutzend Jahren gewesen waren. Bald würden auch unsere Reflexe nachlassen und man würde uns raten, uns möglichst nicht mehr in Kämpfe verwickeln zu lassen.
Charam deutete auf den Magi und sagte: „Genau mein Gedankengang! Selbst, wenn man jemanden aus Ihrer Gruppe zufällig sieht, wird man in Ihnen nicht die Leute vermuten, die mit zwei ausgebildeten Assassinen fertig werden. Das eröffnet gewisse Möglichkeiten, nun, da Sie hier sind. Wir können noch einmal gemeinsam überlegen, wie wir vorgehen.“
„Dann erzählen Sie uns zunächst, was Sie sich ausgedacht haben“, forderte der Fürst.
„Nun, wir waren uns ja einig, dass wir den Verdacht unserer Gegner von Kranningen weg lenken müssen, weil dort Verbündete untergetaucht sind. Wie in einigen anderen Orten in den Ringlanden auch. Weshalb wir den Verdacht nicht auf eine andere Stadt lenken sollten, sondern in die weiten Regionen im Nordosten und Nordwesten.“
„Um die Agenten aus Ostraia nicht zu gefährden“, bestätigte ich.
„Sprechen Sie es bitte nicht aus“, sagte Charam. „Man gewöhnt sich leicht daran, einen Begriff zu benutzen, und dann rutscht er einem heraus, wenn man es nicht beabsichtigt.“
„Ich versuche, es mir zu merken“, versprach ich. Diesen Rat hatte er mir schon einmal gegeben. „Also, was haben Sie sich ausgedacht?“
„Genau das, was Ihnen unterwegs schon widerfahren ist: Jagen Sie die Assassinen! Da Ihnen diese Folterwerkzeuge in die Hände gefallen sind - nutzen Sie sie! Natürlich nicht, um Menschen damit zu quälen. Aber wenn es Ihnen gelingt, Assassinen oder von mir aus auch Söldner zu töten, so können Sie deren Leichen nachträglich damit verunstalten. Die Fingernägel abziehen, Finger zerquetschen, Augen aussteche, ich muss das nicht im Einzelnen erläutern. Richten Sie die Leichen so her, als wären sie vor ihrem Tod gefoltert worden. Das wird Angst und Schrecken verbreiten. Aber diesmal nicht unter der Bevölkerung, sondern unter unseren Gegnern. Sie werden befürchten, von einer genauso mächtigen und gewissenlosen Organisation verfolgt zu werden, wie sie selbst eine darstellen.“
Charam strahlte über sein ganzes feistes Gesicht, während er das sagte.
„Ohne jetzt auf die Einzelheiten Ihres Vorschlags einzugehen“, sagte der Fürst, „stellt sich die Frage, wie wir unsere Gegner finden sollen? Es war Zufall, dass wir den brennenden Bauernhof gesehen haben, und Zufall, dass die Assassinen noch in der Nähe waren und Pia Tenga und Aron von Reichenstein töten wollten. Hätten wir nach ihnen gesucht, wir hätten sie sicherlich nicht gefunden.“
„Genau!“ Noch immer strahlte der ehemalige Mönch. „Sie haben es erkannt! Der Plan funktioniert nur, wenn die Assassinen und Söldner nach ihren Feinden suchen. Wir müssen Fallen stellen, in die sie dabei tappen werden.“
„Moment mal“, unterbrach ich ihn, weil er weitersprechen wollte. „Wie das vor sich gehen? Sollen wir unsere wahre Identität preisgeben, um die Gegner auf unsere Spur zu locken?“
„Das würde sicherlich funktionieren. Wenn die Kurrether erfahren, dass Aron von Reichenstein und Fürst Borran in den Ringlanden unterwegs sind, werden sie eine Menschenjagd ohnegleichen beginnen. Aber so weit wollen wir es nicht treiben.“
„Wie sollen wir sie sonst anlocken?“, wollte Pia ungeduldig wissen.
„Wir wenden ihre eigenen Methoden gegen sie an“, sagte Charam. „Zum Beispiel, indem wir Häuser anzünden. Natürlich nur solche, die für die Kurrether und ihre Unterstützer wichtig sind. Ihre Aufgabe ist es also, solche Gebäude auszuspionieren und in Brand zu setzen. Möglichst ohne dass Unschuldige zu Schaden kommen. Es wird nicht lange dauern, bis Söldnertrupps und Assassinen losgeschickt werden, um die Brandstifter zu finden und zu bestrafen. Bleiben solche Anschläge ungesühnt, könnte das in der Bevölkerung den Widerspruchsgeist anstacheln. Soweit überhaupt welcher vorhanden ist.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte ich.
Er wischte meine Frage mit einer Handbewegung beiseite und sprach weiter: „Da Sie sich hier in der Gegend nicht auskennen, habe ich zusammen mit Vindar Pollderan überlegt, welches die ersten Ziele sein könnten. Was halten Sie von einer Lagerhalle in einer Kleinstadt, acht Meilen nordöstlich von hier?“
„Was wird dort gelagert?“, fragte Magi Achain.
„Waffen“, sagte Charam. „Sie kommen aus den Waffenschmieden der Provinz Krayhan, die ja berühmt für ihre Qualität sind. Aus den verschiedenen Gegenden Krayhans liefert man sie zu dieser Stadt, weil sie verkehrsgünstig liegt. Von dort werden sie alle paar Wochen mit bewachten Transporten zum Unterlauf des Donnan gebracht. Man lädt sie um auf Frachtkähne und bringt sie zur Küste, wo die schwarzen Schiffe der Kurrether auf sie warten.“
„Warum dieser Umweg?“, wollte ich wissen. „Man könnte sie bereits in Krayhan auf dem Donnan verschiffen.“
„Das Problem ist die Hauptstadt Dongarth. Dort ist der Strom abgesperrt. Man müsste die Kähne am Handelshafen nordöstlich der Stadt entladen, die Kisten mit den Waffen zum Westhafen bringen und dort wieder auf Lastkähne laden. Das ist aufwendig und zu viele Menschen würden es regelmäßig beobachten können.“
„Es bringt nichts, die Lagerhäuser anzuzünden“, wandte Pia ein. „Schwertern kann ein Feuer nichts anhaben.“
„Man kann sie sehr wohl durch Hitze verbiegen oder die Griffe verbrennen“, widersprach Charam. „Außerdem werden sie verrußen, weshalb man sie danach einzeln aufwendig reinigen muss. Im Übrigen geht es nicht darum, die Waffen unbrauchbar zu machen, sondern die Kurrether aufzuschrecken. Und ein Anschlag auf dieses Lagerhaus müsste dafür genügen.“
„Es wird bewacht sein“, sagte Serron. „Was wissen Sie darüber?“
„Nichts. Das gehört zu den Dingen, die Sie herausfinden müssen.“
„So weit sind wir noch nicht“, sagte ich. „Zunächst müssen wir die Frage klären, wie wir überhaupt dorthin gelangen. Und zwar ungesehen. Auf den Zugpferden des Weinhändlers reitend?“
„Nicht direkt“, sagte Charam. „Aber diese Pferde werden seinen Wagen ziehen. Sie werden als seine Kutscher Weine ausliefern. Einige seiner Kunden leben auch in dieser Stadt, und man kann im Winter zumindest kleine Fässer transportieren, wenn der Wein nicht hochwertig ist und die Fässer gut gegen Kälte geschützt sind.“
„Die Kunden dort haben etwas bestellt?“, fragte Pia.
Charam zögerte. „Nein. Sie werden überrascht sein, wenn jemand von der Weinhandlung bei ihnen auftaucht. Wir müssen uns da noch eine Ausrede einfallen lassen. Falls Sie eine bessere Idee haben, lassen Sie hören.“
Die hatte keiner von uns, also wandten wir uns dem nächsten Problem zu.
„Wir legen also Feuer und warten in der Stadt oder ihrer Umgebung, bis jemand geschickt wird, um die Brandstifter zu fangen. Jemand, der höher steht als die Stadtwache. Wo verstecken wir uns und wie bekommen wir mit, was geschieht?“ Ich sah den Dicken fragend an.
„Auch das müssen Sie vor Ort herausfinden. Vindar Pollderan und ich sind in solchen Dingen nicht erfahren genug, um Vorschläge zu machen.“
„Ich fasse also zusammen: Wir reisen als Transporteure des Weinhändlers dorthin, beliefern jemanden, der keine Lieferung erwartet, brennen eine bewachte Lagerhalle nieder und warten dann in der Umgebung ab.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Was machen wir während der Wartezeit mit dem Pferdewagen des Weinhändlers?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Charam nun etwas weinerlich. „Sie haben doch Erfahrung mit solchen abenteuerlichen Aktionen. Schließlich sind Sie Aron von Reichenstein!“
Das ließ mich erst einmal sprachlos werden.
„Wie heißt der Ort?“, fragte Pia.
„Das Städtchen trägt den Namen Schön-Dargingen. Es gibt dort nichts besonders außer dem genannten Zwischenlager für Waffen. Außer vielleicht ...“
„Ja?“
„Es gibt eine Kontrollstation für Produkte aus den waldreichen Regionen von Krayhan. Die müssen dorthin geliefert und gewogen werden.“
„Was, zum Beispiel?“
„Getrocknete Beeren und Pilze, Baumharz und Honig. Das habe ich zumindest gehört. Aber nur Dörfer, die größere Mengen davon produzieren, müssen ihre Waren zur Kontrollstelle bringen. Einzelne Sammler nicht - noch nicht.“
„Harz brennt, getrocknete Dinge brennen“, sagte ich. „Ich denke, wir ändern unser Ziel und unsere Tarnung.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kurrether Assassinen schicken, nur weil ein Lagerhaus mit getrockneten Waldpilzen abbrennt“, sagte Pia.
„Es kommt darauf an, wie man es macht“, behauptete ich. „Ich habe da schon so eine Idee.“
„Da bin ich mal gespannt.“
Ich wandte mich an Charam. „Kann man hier im Ort Honig kaufen?“
„Der Weinhändler hat welchen im Angebot“, antwortete der. „Er macht damit ein Geschäft nebenher.“
„Dann soll er uns etwas davon geben. Außerdem besorgen Sie uns Esel oder Maulesel, dann haben wir eine Tarnung. Oder noch besser: Reitpferde. Es müssen nicht die besten sein, die würden bei Honigsammlern auffallen.“
Charam sah mich nur überrascht an.
Fürst Borran verstand sofort, nickte und sagte: „So machen wir es.“