Читать книгу Eine neue Welt - Manfred Rehor - Страница 8
ОглавлениеKontrolleure
Das Dorf Dernheim war weitaus interessanter, als es auf den ersten Blick wirkte. Die zwölf Häuser, die entlang einer Durchgangsstraße standen, waren an sich nicht beeindruckend. Schon weil die Straße nicht befestigt war, sondern nur ein festgetretener Weg aus Lehm.
Aber in jedem der Häuser übte jemand ein Gewerbe aus, das für die Gemeinschaft nützlich war. Wobei die meisten nebenher noch in der Landwirtschaft der umgebenden Höfe halfen oder selbst ihre großen Gärten bewirtschafteten.
Als ich mit Jorg den Ort besichtigte, weil wir einiges einkaufen sollten, wirkte alles wie ausgestorben. Niemand war in den Straßen unterwegs, außer den in Dörfern üblichen Hunden und Katzen. Sogar einige Hühner scharrten am Wegrand nach Futter.
Erst, als Jorg an eine der Türen klopfte und wir eingelassen wurden, sah ich, wie lebendig Dernheim war. Denn in dem Haus lebten ein Dutzend älterer Menschen, die mit Nähen und Korbflechten beschäftigt waren.
„Drei Körbe“, sagte Jorg zu einer Frau. „Die normale Größe, für die Eier, zum Einsammeln.“
„Sind im Schuppen“, antwortete sie. „Hol sie dir. Hast du Geld dabei?“
Jorg holte Münzen aus der Tasche und hielt sie ihr auf der offenen Handfläche entgegen. Sie nahm einige und er steckte den Rest zurück.
„Kann man in so einem kleinen Ort vom Korbflechten leben?“, fragte ich die Frau.
„Wenn man es geschickt anstellt“, antwortete sie und zwinkerte.
„Wie meinen Sie das?“
„Ich muss Flechtwaren nach Dongarth liefern und bekomme Vorgaben von den Kontrolleuren. Aber wir arbeiten hier zu zweit, das wissen die nicht. Also muss ich nur so viele Produkte abliefern, wie eine Person herstellen kann. Die Quote ist inzwischen so hoch, dass das eine alleine niemals hinbekommen könnte, aber zu zweit geht es ohne große Anstrengung.“
„Liefern Sie schlechtere Qualität in die Hauptstadt, als Sie hier im Ort verkaufen?“, wollte ich wissen. Das lag nahe, weil es die meisten Handwerker inzwischen so machten.
„Das ergibt sich ganz von alleine“, antwortete sie. „Wir bekommen entsprechende Mengen Rohmaterial in Form von Weidenzweigen zugeliefert, aber das in ziemlich bescheidener Qualität. Wir sortieren die guten Zweige aus und verwenden sie für das, was wir für unser Dorf und seine Umgebung herstellen. Aus den anderen flechten wir Waren für die Stadt.“
„Also läuft es in Ihrem Gewerbe wie überall“, sagte ich.
„Leider ist das so. Man muss sich anpassen.“
Wir verließen das Haus und gingen zu dem Schuppen dahinter, wo Jorg drei Körbe nahm. Selbst jemand wie ich, der sich um dieses besondere Handwerk nie gekümmert hatte, sah die Unterschiede in der Qualität auf den ersten Blick. Jorgs Körbe waren sauber und gleichmäßig gearbeitet. Sechs davon standen links von der Tür. Rechts waren sehr viel mehr gestapelt, aber die wirkten ungleichmäßig. Die Zweige, aus denen man sie hergestellt hatte, waren verschieden dick und splitterten bereits.
„Was brauchen wir noch?“, fragte ich Jorg.
„Kräuter“, sagte er. „Dort!“
Wir gingen zu einem Haus mit einem auffallend großen Garten. Auffallend, weil dort nicht wie bei anderen Häusern Beete angelegt und Obstbäume gepflanzt waren. Obwohl nun im frühen Winter kaum noch Pflanzen zu sehen waren, glich er einer großen Wiese, die lange nicht gemäht oder von Tieren abgeweidet worden war.
„Ich nehme an, der Heiler hat dort Kräuter angepflanzt, die er für seine Arbeit benötigt“, sagte ich.
Jorg zuckte mit den Schultern. „Hier sind immer viele Bienen und Mücken und Schmetterlinge, im Sommer. Und es riecht gut.“
Der Heiler war ein alter Mann, dem man sofort den früheren Mönch ansah. Schon weil er mit einer der typischen, wenn auch fadenscheinigen Kutten bekleidet war.
„Ist es wieder soweit?“, fragte er, als er uns sah.
„Ja“, bestätigte Jorg. „Wie immer.“ Erneut hielt er die offene Hand mit Münzen hin.
Der Heiler nahm einige davon, während wir in der Tür standen. Dann ging er ins Haus hinein und kam mit einem Leinenbeutel und einer dunklen Flasche zurück.
„Grüße Charam von mir“, sagte der Heiler und schloss die Tür wieder.
„Wofür ist das?“, fragte ich.
„Charam hat Gicht und schlechte Verdauung“, sagte Jorg. „Alle zwei Wochen hole ich Kräuter für seinen Sud und die stinkenden Tropfen.“
Wir spazierten ein wenig umher und er zeigte auf einige der anderen Häuser. „Schlachter, Bäcker, Händler“, sagte er.
„Ein Schlachter in so einem kleinen Haus?“, fragte ich.
„Er kommt zum Hof, um Tiere zu schlachten“, erklärte er. „Schlachten muss sein, sonst haben wir nichts zu essen.“
„Verständlich. Und wer wohnt dort?“ Ich zeigte auf das letzte Haus an der Straße. Es war größer als die anderen und verfügte über einen Anbau, der nicht aussah wie eine Scheune, sondern wie ein bewohnbarer Seitenflügel.
„Die Händlerin. Hat alles, will aber viel Geld dafür.“
Er sagte das abfällig, deshalb hakte ich nach: „Ist sie auch eine ehemalige Nonne?“
„Bestimmt. Aber keine nette. Sie will, dass ich lerne. Immer, wenn ich etwas bei ihr kaufen muss, verlangt sie, dass ich selbst ausrechne, was alles kostet. Aber das kann ich nicht. Und was ich nicht kann, will ich nicht.“
Er redete sich in Wut und ich stellte schnell eine andere Frage, um ihn abzulenken.
„Kauft man bei ihr all die Dinge, die nicht hier im Ort hergestellt werden? Töpfe, Pfannen, Möbel?“
„Bei ihr oder in Brengen.“ Jorg machte mit der freien Hand eine Bewegung Richtung Süden. „Schlechte Leute dort. Inna geht manchmal mit einem Esel hin und holt Sachen.“
Seine Laune besserte sich nicht wesentlich, deshalb gingen wir schweigend die Straße entlang, die zu der Abzweigung Richtung Charams Hof führte. Der Weg war matschig, weil der nachts gefallene Schnee wieder taute. Auf den Ästen der Bäume links und rechts lag er aber noch, die Landschaft sah im Sonnenschein ausgesprochen schön aus.
Die Idylle wurde gestört von zwei Reitern, die uns entgegen kamen. Wir gingen beiseite, um sie vorbei zu lassen, aber sie hielten an. Es waren zwei Männer. Einer war klein und hager, er trug einen dicken Mantel und schien trotzdem zu frieren. Der zweite war dafür umso leichter gekleidet, mit einfacher Hose und Hemd, ohne eine Jacke. Der trug am Gürtel ein Kurzschwert.
„He, Bauern!“, rief der mit der Waffe uns zu, so laut als wären wir weit entfernt. „Wo ist hier der Hof von Charam? Wir suchen seit einer halben Stunde danach.“
Da diese Abzweigung für Ortsfremde leicht zu übersehen war, dachte ich mir nichts dabei und wollte schon antworten.
Jorg ließ aber die Körbe fallen, verschränkte die muskulösen Arme und fragte lauernd: „Warum?“
„Warum was?“
„Was wollen Sie von Charam?“
Nun antwortete der kleine Mann: „Das geht Sie zwar nichts an, aber wir sind von der Kontrollbehörde. Wir gehen Hinweisen nach, dass bei den Eierlieferungen nicht alles in Ordnung ist.“
„Kontrolleure?“, fragte Jorg knapp, und ich sah, wie seine Halsschlagadern anschwollen.
„Ja, wir sind aus Brengen und führen eine Voruntersuchung durch, bevor wir unsere vorgesetzte Stelle in Kerrk informieren.“
Jorg sprang unvermittelt auf das Pferd des kleinen Mannes zu und riss ihn aus dem Sattel. Das verblüffte nicht nur dessen Begleiter, sondern auch mich so, dass wir beide für einen Moment nur zusahen, wie Jorg auf sein am Boden liegendes Opfer einschlug.
Dann reagierten wir aber beide gleichzeitig. Der Reiter stieg ab und zog sein Schwert, ich war mit einem schnellen Satz bei ihm und hielt ihm meinen Dolch an die Kehle. Nun rächte es sich, dass wir auf Charams Hof die Waffen ablegen mussten.
Mein Gegner hielt still, deshalb konnte ich ihm mit der freien Hand das Schwert abnehmen und es beiseite werfen. Er entwand sich mir aber, als Jorg dem kleinen Mann mit einem brutalen Ruck das Genick brach.
Zu meinem Glück griff er mich nicht sofort an, denn ich war durch Jorgs Aktion noch abgelenkt, sondern hechtete sich zu seinem abseits liegenden Kurzschwert.
Ich wollte ihm nach und mit dem Dolch zustechen, doch Jorg war schneller. Er packte den Mann von hinten, drehte ihn herum und griff nach seiner Kehle. Dann drückte er so lange zu, bis sein Opfer tot zusammenbrach. Ich versuchte zwar, ihn davon abzubringen, aber er war wie rasend.
Erst, als beide Männer tot im Dreck lagen, wandte sich Jorg mir zu. „Kontrolleure!“, sagte er und spukte aus.
Dann nahm er die Körbe und ging weiter, als sei nichts geschehen.
„Halt!“, rief ich. „Wir können sie hier nicht liegenlassen. Sobald man sie entdeckt, wird man einen Trupp Söldner zu Charam schicken.“
Er blieb stehen, sah mich überlegend an und kam dann zurück. Ohne etwas zu sagen, packte er die erste Leiche und warf sie über den Sattel ihres Pferdes, und dann die zweite. Dann nahm er die Pferde an den Zügeln und führte sie mit sich.
Ich hob das Schwert auf und folgte Jorg. Er sprach nicht mit mir und auch ich sagte nichts. Hektisch dachte ich darüber nach, wie man den Mord an den beiden Männern vertuschen konnte. Wer wusste, wohin sie unterwegs waren? Wann erwartete man sie in Brengen zurück und würde einen Suchtrupp losschicken, wenn sie nicht kamen? Konnte man die Spuren ihrer Pferde auf dem aufgeweichten Boden verwischen?
Pia und Serron waren bei den Hühnern und rannten zu uns, kaum dass sie uns sahen. Inna kam aus dem Haus, machte aber gleich kehrt und holte Charam, Fürst Borran und Magi Achain.
Wir alle umstanden die beiden Pferde mit den Leichen.
Jorg sagte nur: „Kontrolleure. Waren böse.“
Ich berichtete, was vorgefallen war, und stellte die Fragen, die mir durch den Kopf gegangen waren.
„Spuren verwischen ist schwierig“, sagte Charam bedächtig. „Sie sind den ganzen Weg von Brengen bis hier geritten und dann offenbar einige Male auf der Straße hin und her, weil sie die Abzweigung zu meinem Hof nicht gefunden haben. Wir können hoffen, dass kommende Nacht so viel Schnee fällt, dass er morgen nicht mehr wegtaut. Dann wären die Hufspuren darunter verborgen. Aber darauf können wir uns natürlich nicht verlassen, denn im Moment scheint die Sonne und es sieht nicht nach Schneefall aus.“
„Wenn wir alle uns daran machen, die Spuren zu verwischen, die Hälfte von uns auf der Straße südlich, die andere ...“, begann Inna.
„Das bringt nichts“, sagte Borran dazwischen. „Wir können nicht sämtliche Spuren bis in einige Meilen Entfernung verschwinden lassen.“
„Was sonst?“, fragte Charam.
„Wir tun das Gegenteil“, schlug der Fürst vor. „Nur die Fußspuren und diejenigen des Kampfes verwischen wir. Dann reiten zwei von uns mit den Pferden irgendwohin, wo wir die Leichen ablegen. Weit weg, so dass man keine Verbindung mit diesem Hof herstellen kann. Es muss auf der Straße so aussehen, als seien sie von Brengen kommend hier vorbei geritten und weiter nach Norden. Was befindet sich dort?“
„Einige Bauernhöfe links und rechts des Weges, und in zwölf Meilen Entfernung eine kleine Stadt, Kranningen.“
„Wenn wir auf ihren Pferden bis dorthin reiten“, überlegte Pia, „am besten abends und mit den beiden Leichen hinter den Sätteln über die Pferderücken gelegt, fallen wir mit Sicherheit jemandem auf.“
„Es wäre ein großer Zufall, wenn nicht“, bestätigte Charam. „Genauso gut können wir um Schneefall beten.“
„Ich habe eine andere Idee“, sagte ich. „Liegt Kranningen auch am Donnan?“
„Direkt am Ufer. Sie haben eine Anlegestelle, weil dort Holz aus den Wäldern im Nordwesten auf Lastkähne geladen wird. Warum?“
„Zwei von uns reiten in der Abenddämmerung bis in die Nähe der Stadt. Ungefähr so gekleidet wie die beiden Toten. Von der Statur her könnten Serron und ich das übernehmen. Wir binden die Pferde irgendwo am Ufer an. Außerdem nehmen wir einen Hasen mit, dem wir dort den Hals durchschneiden. Mit dem Blut legen wir eine Spur von den Pferden zum Ufer des Stroms. Wer das entdeckt, wird glauben, die beiden Kontrolleure seien in Kranningen ermordet und dann heimlich ins Wasser geworfen worden.“
„Und die beiden Leichen begraben wir?“, fragte Magi Achain.
„Nein. Während Serron und ich unterwegs sind, bringt ihr sie zum Donnan und werft sie in der Dunkelheit hinein. Wenn sie irgendwo angeschwemmt werden, kann man nicht feststellen, ob man sie hier oder in Kranningen hineingeworfen hat.“
Der Plan wurde für gut befunden und so umgesetzt.
Es klappte alles, wie wir es uns gedacht hatten - zumindest was Charams Hof anging. Einige Tage nach dem Vorfall kam ein Mann aus Dongarth mit einem Trupp Söldner. Er fragte, ob zwei Kontrolleure auf dem Bauernhof gewesen seien. Charam verneinte.
„Also sind sie direkt von Brengen nach Kranningen durchgeritten“, sagte einer der Söldner zu dem Anführer. „Sie müssen eine Spur verfolgt haben, die dorthin führt. Und es war eine richtige Spur, das beweist ihr Tod.“
Die Männer stiegen ab, sahen sich ein wenig um, ohne etwas Auffälliges zu entdecken, und ritten weiter. Zum Glück war Jorg mit Arbeiten an einem weit entfernten Gatter beschäftigt. Wer weiß, wie er auf diesen Besuch reagiert hätte. Auch Magi Achain und den Fürsten sahen die Söldner nicht, die blieben in ihren Zimmern. Um mich, Pia und Serron kümmerten sie sich nicht, denn wir trugen schmutzige Arbeitskleidung und waren mit Füttern und Ausmisten beschäftigt, als sie kamen. Gewöhnliche Knechte also, deren Anwesenheit sie vermutlich kaum wahrnahmen.
Soweit also das, was auf Charams Hof geschah. Leider geriet aber das Städtchen Kranningen nun in den Mittelpunkt des Interesses, und das war nicht gut für die dortigen Bürger. Wir hörten nur gerüchteweise davon, dass Söldner den Magistrat der Stadt während einer Sitzung überfielen, den Bürgermeister schwer verletzten und die anderen heftig verprügelten. Grund für den Überfall war, dass man in Dongarth vermutete, der Tod des Kontrolleurs und seines Begleiters sei ein Komplott, von dem die Stadtherren gewusst haben müssten, wenn sie nicht sogar die Anstifter waren.
Das löste in der Stadt offenbar einigen Widerstand aus, weil die Mitglieder des Magistrats allgemein beliebt waren. Ein paar Betrunkene fingen einige Tage später im Dunkeln einen Kontrolleur auf dem Heimweg ab und schlugen ihn bewusstlos. Von da an eskalierte die Sache.
Wir nahmen das mit schlechtem Gewissen zur Kenntnis, konnten aber nicht eingreifen, ohne uns selbst ans Messer zu liefern. Also redeten wir abends beim Wein darüber, machten Pläne über einen heimlichen Besuch in Dongarth im Laufe des Winters und warteten ab.
Das änderte sich, als ein Wanderarbeiter auf dem Hof eintraf, der nach Arbeit fragte. Im Winter brauchten die Bauern kaum Helfer, und wir waren sowieso schon zu viele Menschen hier. Deshalb wunderte es mich, dass Charam den Mann zu sich bat und hinter verschlossener Tür eine halbe Stunde mit ihm redete. Dann schickte er ihn wieder weg, nicht ohne ihm vorher von Inna einen ordentlichen Vorrat an Proviant mitgeben zu lassen.
„Kommen Sie alle zu mir!“, sagte er anschließend zu uns.
Wir versammelten uns in seinem Lesezimmer und waren gespannt auf das, was er zu sagen hatte.
„Die Situation in Kranningen ist außer Kontrolle geraten“, begann er. „Es ist unsere Schuld, dass man auf die Stadt aufmerksam wurde. Aber für das, was nun geschieht, tragen die Bürger dort selbst die Verantwortung.“
„Was geschieht denn?“, fragte Magi Achain.
„Nach den Zwischenfällen, von denen wir bereits gehört haben, hat man königliche Soldaten in Kranningen stationiert und ein ganzes Dutzend Kontrolleure hingeschickt.“
„Königliche Soldaten?“, fragte ich dazwischen. „Gibt es die immer noch?“
„Rat Geshkan hält nach wie vor an der Behauptung fest, dass er nur bis zur Wahl eines neuen Königs der Ringlande die Macht in Händen hält“, sagte Charam. „Gerade in solchen Situationen zahlt sich das aus, weil der äußere Schein gewahrt wird. Schickt man Söldner, kann man das als eine Form illegaler Unterdrückung ansehen; schickt man Soldaten in königlicher Uniform, hat es den Anschein der Rechtmäßigkeit.“
„Was sollen die vielen Kontrolleure dort tun?“, wollte Fürst Borran wissen.
„Jedes Lagerhaus genauestens überprüfen, jede Abrechnung, jede Werkstatt eines Handwerkers, jedes Ladengeschäft.“
„Da dürften sie einige Unregelmäßigkeiten entdecken“, vermutete ich.
„Das haben sie bereits. Nicht mehr, als man in jeder anderen Stadt finden würde, das wissen wir alle. Aber nun ist es dokumentiert. Aufgrund der vielen Fehlerberichte hat man das Überprüfungsverfahren von der Provinzhauptstadt Kerrk abgegeben an Dongarth. Dort geht man nun davon aus, dass in Kranningen systematisch Sabotage betrieben wird. Bei einem Dorf würde man in solchen Fällen alle Häuser niederreißen und die Bewohner zwangsweise in andere Provinzen umsiedeln, wo sie unter besonderer Beobachtung als Helfer arbeiten müssten. Bei einer ganzen Stadt geht das nicht.“
„Was tut man stattdessen?“, wollte ich wissen.
Die Antwort konnte ich eigentlich an den Gesichtern der Anderen ablesen, die denselben Verdacht hatten wie ich. Charam bestätigte dies.
„Man wird Assassinen losschicken, die immer wieder Verdächtige und deren Familien töten. Es ist eine bestialische Art der Unterdrückung, weil es nie Beweise gibt. Keiner kann sagen, die Kurrether in Dongarth haben Mörder losgeschickt, keiner kann nachweisen, dass es tatsächlich Assassinen waren. Man findet am Morgen einige zu Tode gefolterte Menschen und jeder weiß, wer es getan hat. Aber alle Bürger halten den Mund, um nicht die nächsten Opfer zu sein. Außerdem, und das ist auch wichtig, werden die Prüfungen der Kontrolleure ausgeweitet und verstetigt.“
„Was heißt das?“
„Man wird auf Monate, vielleicht sogar Jahre hinaus, alles genau überwachen, was in Kranningen geschieht, ebenso in den umliegenden Dörfern und Städten. Wenn wir Pech haben, erstreckt sich der Umkreis dieser Kontrollen bis zu meinem Hof. Aber ich glaube es nicht, wir sind zwölf Meilen entfernt.“
„Warum ist das wichtig?“, fragte Magi Achain.
„Weil in Kranningen einige Leute leben, die man nicht zu genau kontrollieren sollte“, sagte Charam. „Ich sage nicht, wer sie sind, aber es darf niemand herausfinden, dass es sie gibt und warum sie dort sind. Wir müssen irgendwie verhindern, dass Kontrolleure und Assassinen lange in Kranningen bleiben.“
„Also Agenten aus Ostraia“, folgerte ich, und Fürst Borran nickte.
Charam dagegen schüttelte den Kopf: „Wir sollten das nicht einmal laut sagen in einer zugespitzten Situation wie dieser. Falls Jorg das zufällig hört und in seiner Beschränktheit irgendwo nachplappert - nicht auszudenken.“
„Gut, akzeptiert“, sagte Pia Tenga. „Aber wie sollen wir die Assassinen aufhalten? Selbst wenn wir uns nachts in der Stadt auf die Lauer legen und welche erwischen, bedeutet das doch nur, dass noch mehr kommen werden. Wenn wir versuchen, die Kontrolleure von dort zu vertreiben, wird das erst recht in Dongarth die Überzeugung bestärken, dass in Kranningen Saboteure am Werk sind, die gegen die Kurrether arbeiten.“
„Richtig“, sagte Charam. „Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen.“
Wir alle dachten nach.
Es war Fürst Borran, der sich als Erster zu Wort meldete. „Mir fällt nur eine Möglichkeit ein, nämlich das fortzusetzen, was wir nach dem Zwischenfall mit Jorg getan haben. Neue Spuren zu legen, die von Kranningen aus in andere Richtungen führen. Entweder zurück nach Dongarth oder in weit entfernte Regionen. Damit wird der Verdacht von den Einwohnern der Stadt weg gelenkt.“
„Wie sollen wir das tun, ohne uns selbst verdächtig zu machen?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht. Egal wie, wir benötigen schnelle Pferde, die es hier auf dem Hof nicht gibt. Außerdem Gegenstände, mit denen wir falsche Spuren legen können. Ich meine damit nicht Hufspuren, sondern verräterische Waffen oder sonstiges, das auf Leute aus weit entfernten Gebieten hinweist.“
„Entfernte Gegenden sind gut, Dongarth halte ich dagegen für eine schlechte Wahl“, sagte Magi Achain. „Dort wird jeder bespitzelt. Es dürfte kaum möglich sein, einen glaubwürdigen Verdacht dorthin zu lenken.“
„Also bleiben im Nordosten die Provinz Krayhan, deren Fürst mit den Kurrether zusammenarbeitet, oder im Nordwesten die Provinz Malbraan. Wir werden ja nicht den Eindruck erwecken wollen, es seien Städte in der Provinz Borran an den Sabotageakten beteiligt?“
„Keinesfalls!“, sagte der Fürst energisch.
„Warum nicht?“, fragte Pia Tenga. „Die Kurrether werden dann niemals auf den Einfall kommen, dass der ehemalige Fürst der Provinz daran beteiligt ist.“
„Nein!“ Borran atmete einige Male tief durch, bevor er hinzufügte: „Auch, wenn ich nicht mehr den Titel trage, so fühle ich mich nicht von der Verantwortung für meine Provinz entbunden.“
„Reden wir also über die anderen beiden Möglichkeiten“, sagte Magi Achain mit einer schlichtenden Handbewegung. „Wie lenken wir den Verdacht um auf Täter aus entfernten Regionen? Auf wen lenken wir ihn? Wählen wir als Ziel eine bestimmte Stadt oder einen Landstrich aus, oder sogar nur eine Person?“
„Was für eine Person sollte das sein?“, wollte ich wissen.
„Einer der beiden Fürsten. Wenn es uns gelingen würde, einen als Verräter an der Sache der Kurrether anzuschwärzen, wäre das geradezu ein Sieg für unsere Seite.“
„Das dürfte kaum möglich sein“, sagte Fürst Borran. „Wir brauchen etwas Realistischeres.“
„Wie wäre es, wenn wir den Verdacht ganz aus den Ringlanden heraus lenken?“, fragte ich. „Ein paar Waffen und Kleidungsstücke, die typisch für Skjargard oder Thorgard sind, könnten dafür genügen.“
„Dann kontrollieren die Kurrether die Passstraßen“, wehrte Magi Achain ab. „Denkt an die magisch begabten Burdajlahs, die im Auftrag der Askajdaner dort etwas vorbereiten. Wir dürfen nicht riskieren, dass die Kurrether zu genau hinsehen, was auf den Pässen und abseits davon vor sich geht.“
„Was gibt es sonst im Nordosten?“
Pias Frage war an mich gerichtet, weil ich in der Provinz Krayhan aufgewachsen war. Aber das Einzige, was mir einfiel, waren die Elfen, die dort weit verstreut in den Wäldern lebten.
„Nein, keinesfalls“, sagte Borran. „Erstens müssten wir Elfenartefakte haben und verschiedene Zauber wirken, um das glaubhaft zu machen. Zweitens weiß jeder, dass sie sich kaum für menschliche Belange interessieren. Warum sollten sie Kontrolleure töten, und das auch noch in einer Stadt, die ziemlich weit von ihrem Lebensraum entfernt liegt?“
„Uns gehen allmählich die Möglichkeiten aus“, sagte Pia.
Charam lehnte sich zurück, schloss die Augen und sagte: „Was macht ein reicher Bürger, der sich ein paar gefährliche Halunken vom Hals schaffen will, ohne dass man ihn verdächtigt, etwas damit zu tun zu haben?“
„Er besorgt sich eine Handvoll Söldner und schickt sie los“, sagte ich.
„Also warum tun wir das nicht auch? Wieso sollen wir jemanden als Gegner der Kurrether darstellen, wenn es genügt, den Verdacht auf bezahlte Söldner zu lenken? Wer sie bezahlt, darüber müssen nicht wir uns den Kopf zerbrechen, sondern die Kurrether.“
„Guter Einfall“, lobte Fürst Borran. „Aber wo bekommen wir einen Trupp Söldner her, der sich mit den Kurrethern anlegt? Und das, ohne zu wissen, wer ihr Auftraggeber ist, denn wir werden uns ihnen nicht offenbaren.“
„Ich schlage vor, wir verkleiden uns als Söldner“, sagte Pia Tenga. „Dafür benötigen wir Lederrüstungen und Schwerter. Mit Säbeln oder Degen wirken wir nicht echt. Dazu ein guter Bogen oder eine Armbrust oder sogar beides. Und Pferde, wie schon gesagt.“
„Wir könnten sogar eine ganz besondere Drohkulisse aufbauen“, sagte Magi Achain. „Söldner, die Kontrolleure und Assassinen jagen. Sie haben magische Unterstützung, die auf die Elfen hindeutet, ohne dass es echte Beweise dafür gibt. Dann findet man irgendwo auf ihren Spuren ein Schwert, wie es in den Kaltlanden gewöhnlich benutzt wird. Die Kurrether müssen denken, eine große Verschwörung sei gegen sie im Gange. Sie werden sich darauf konzentrieren und Kranningen vergessen.“
„Wenn wir dann noch eine Zwergenaxt haben, wie das Bergvolk ganz im Südosten sie verwendet, verwirren wir die neuen Herrscher in Dongarth endgültig“, warf ich zum Scherz ein.
Doch die Anderen nickten zustimmend, und wir machten uns daran, den Plan genauer auszuarbeiten.
Zunächst benötigten wir Ausrüstung und Pferde. Geld war nicht das Problem, man hatte Fürst Borran auf dem askajdanischen Schiff mit genügend Barmitteln in ringländischer Währung ausgestattet. Aber wie sollte man in den Ringlanden an solche Dinge kommen, wo doch alles kontrolliert wurde und gute Produkte nur den Kurrethern zur Verfügung standen?
„Der einfachste Weg ist es, all das denjenigen wegzunehmen, die es haben“, sagte Pia. „Wir überfallen Söldner, die im Auftrag der Kurrether unterwegs sind, und berauben sie. Vielleicht können wir sogar Assassinen in einen Hinterhalt locken und töten, die sollen die besten Pferde und Waffen haben.“
„Falls uns das gelingt, wird es für viel Aufregung sorgen“, stimmte ich ihr zu. „Aber das sind Tagträume. Das alles müsste uns gelingen, ohne verdächtige Spuren zu hinterlassen, die hierher weisen. Also sollte es weiter im Norden geschehen, Meilen von Kranningen entfernt. Wie kommen wir ohne Pferde dorthin, wie finden wir ein Versteck, das nicht so leicht zu entdecken ist? Ich zähle gar nicht weiter auf, was noch alles dagegen spricht.“
Wir diskutierten bis in den späten Abend ohne wirkliches Ergebnis. Dann beschlossen wir, eine Nacht darüber zu schlafen und am folgenden Morgen vielleicht mit frischen Ideen an die Sache heranzugehen.
Als wir uns zum Frühstück versammelten, war Charam nicht da. Inna, die immer schon Stunden früher aufstand als wir, sagte, er sei noch vor der Morgendämmerung weggegangen.
„Zu Fuß?“, fragte ich. „Dann kann er nicht weit sein.“
Inna sah mich böse an, sagte aber nichts, sondern kehrte zurück in ihre Küche.
Als Charam mittags noch nicht wieder da war, begannen wir uns Sorgen zu machen. Es sah dem dicken Mann nicht ähnlich, eine Mahlzeit zu verpassen. Inna dagegen schien unbesorgt, war aber nicht bereit, etwas zu sagen.
Da nachts Schnee gefallen war, sahen wir Charams Fußspuren, die vom Bauernhof auf die Straße hinaus führten. Dort verloren sie sich im Matsch. Es war nicht einmal festzustellen, ob er ins Dorf gegangen war oder nach Norden, Richtung Kranningen.
„Weiter als zum Dorf schafft er es zu Fuß nicht“, sagte Pia. „Vielleicht hat er dort eine Kontaktperson, die ihm bei der Beschaffung von Pferden und Wagen helfen kann. Einen anderen Grund für sein plötzliches Verschwinden kann ich mir nicht vorstellen. Er wird bald wieder da sein.“
Wir waren alle dieser Meinung, allerdings kam er auch am Abend nicht zurück, und am folgenden Morgen saßen wir wieder ohne ihn am Frühstückstisch. Ich versuchte später, Jorg auszufragen, aber der hatte keine Ahnung. Inna hatte ihm gesagt, alles sei in Ordnung, und das genügte ihm.
Es dauerte einige Tage, bis wir von Charam hörten. Zu dem Zeitpunkt befürchteten wir schon das Schlimmste. Für uns hieß das, dass er möglicherweise Kurrethern oder deren Helfer in die Hände gefallen war und unter Zwang den Hof und unsere Anwesenheit hier verriet. Wir packten die Rucksäcke, mit denen wir gekommen waren, und legten sich griffbereit neben unsere Betten. Einer von uns hielt immer Wache. Tagsüber in der Nähe der Abzweigung von der Straße, die hin zum Hof führte, nachts unten im Eingang des Hauses.
Inna bemerkte das, aber sie fragte nicht nach dem Grund dafür. Weiterhin schwieg sie eisern und sagte nichts, was mit Charam zu tun hatte.
Eines Tages kam ein Fuhrwerk auf den Hof. Es war unschwer zu erkennen, um wen es sich handelte, denn auf der Ladefläche waren fünf Weinfässer festgebunden. Drei lagen in der unteren Reihe, zwei in der oberen.
Inna ging zu dem Kutscher und sagte: „Ich habe nicht gewusst, dass Charam schon wieder eine Lieferung bestellt hat. Lange können wir uns das nicht mehr leisten. Warten Sie, ich rufe Jorg, er hilft abladen.“
Der Mann stieg ab und sah sich um. Er war einfach gekleidet und trug keine sichtbare Waffe. Wenn er Charam regelmäßig belieferte, wusste er, dass wir hier neu waren. Etwas in seinem Blick war seltsam und ich bedauerte, dass ich meinen Degen nicht umgeschnallt hatte.
„Nicht nötig“, sagte er zu Inna. „Die Fässer sind leer. Ich will nur etwas bereden.“
„Charam ist nicht hier“, sagte sie.
„Ich weiß.“ Er musterte mich ebenso wie Pia und Serron. Dann wandte er sich noch einmal an die Haushälterin. „Der ältere Mann - wo sind er?“
Er konnte nur Fürst Borran meinen. Inna deutete zum Haus und der Weinhändler wollte hingehen.
Ich stellte mich ihm in den Weg. „Was wollen Sie von ihm?“
„Mit ihm reden. Sie sind Aron?“
Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Wenn man mich in den Ringlanden als Aron von Reichenstein erkannte, war dies mein sicherer Tod. Pia Tenga kam neben mich, Serron bezog unauffällig zwei Schritte hinter dem Mann Stellung.
Der bemerkte es und hob beschwichtigend die Arme. „Lassen Sie mich mit dem alten Mann reden. Von mir aus können Sie dabei sein.“
Ich gab Pia einen Wink.
Sie ging ins Haus und informierte Fürst Borran. Gleich darauf kam sie wieder heraus. „Er erwartet uns im Lesezimmer“, sagte sie.
Wir gingen gemeinsam hinein, wobei ich an der Spitze unserer kleinen Gruppe blieb. Sollte der Mann es auf den Fürsten abgesehen haben, so musste er an mir vorbei - und das würde ich verhindern.
Borran erwartete den Besucher stehend. Magi Achain saß in der Ecke, scheinbar in ein Buch vertieft, das er in der Hand hielt. Der Weinhändler streifte ihn nur kurz mit einem Blick und konzentrierte sich dann auf Borran.
„Ich heiße Vindar Pollderan und soll Ihnen etwas von Charam ausrichten“, sagte er. „Er hat sich Ihre Vorschläge durch den Kopf gehen lassen. Dabei ist ihm eingefallen, dass sich meine Weinhandlung nordwestlich von hier befindet, zwölf Meilen entfernt, in einem Dorf an der Straße nach Windlach am Ufer des Sall. Von dort beziehe ich meine Weine, die ich dann hier in der Region weiterverkaufe.“
„Ist etwas besonders an Ihrer Weinhandlung?“, fragte Borran.
„Das habe ich Charam auch gefragt, und er sagte, sie liege nicht in Kranningen. Was auch immer das bedeuten mag. Jedenfalls hat er mich gebeten, Sie zu ihm zu bringen. Er wartet auf Sie.“
„In Ihrer Weinhandlung? Warum das?“
„Auch darauf habe ich keine Antwort. Aber ich schulde ihm einen Gefallen, einen großen sogar, deshalb habe ich mich einverstanden erklärt, Sie zu ihm zu bringen. Und zwar, ohne dass es jemand bemerkt.“
„Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?“, fragte der Fürst.
„Normalerweise liefere ich volle Fässer, die hier in den Keller gebracht werden, und nehme die leeren mit zurück. Diesmal bin ich mit leeren Fässern gekommen. Sie können hineinkriechen und ungesehen mit mir mitfahren.“
„Wie kann ich wissen, dass Sie wirklich von Charam beauftragt wurden?“, wollte Borran wissen.
„Er hat mir ein Wort auf einen Zettel geschrieben, das ich Ihnen sagen soll. Er behauptet, dass niemand in den Ringlanden weiß, was es bedeutet, nur Sie und Ihre Begleiter.“
„Wie lautet dieses Wort?“
Der Weinhändler zog ein gefaltetes kleines Blatt aus der Tasche und las langsam vor: „Burdajlahs.“
Das gab den Ausschlag.