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Jahrmarkt

Mit Speer und Schild bewaffnet ging Benjamin über den Rummelplatz, um Zuschauer für seine Vorstellung zu interessieren. Ein paar Kinder staunten ihn aus sicherer Entfernung an, rannten dann zu ihrem Kindermädchen und bedrängten es, Eintrittskarten zu kaufen.

Als die Kirchturmuhr vier schlug, kehrte Benjamin zum Zelt zurück und warf einen Blick hinein. Alles war bereit: Petroleumlampen tauchten die Mitte des Rundzeltes in dämmeriges Licht. Räucherstäbchen glommen gut versteckt hinter geschnitzten Masken und ausgestopften Tieren. Ihr schwerer, würziger Geruch überdeckte den Gestank der Lampen und half, die Illusion eines Bantu-Krals im afrikanischen Urwald zu schaffen.

Benjamin schloss den Vorhang am Eingang hinter sich und machte sich für seinen Auftritt bereit. Alles hing von ihm ab, denn er war gleichzeitig Kartenabreißer, Ansager und Hauptattraktion der Nachmittagsvorstellung. Die Kinder im Publikum tuschelten aufgeregt, als es dunkler wurde. Benjamin trat auf den am Boden angebrachten Blasebalg. Vom anderen Ende des Zelts ertönten Tierrufe, Vogelgezwitscher und das Trompeten eines Elefanten. Gespannt starrten die Zuschauer in diese Richtung. Als niemand mehr auf ihn achtete, sprang Benjamin zwischen die Sitzreihen. Ein Kindermädchen schrie auf vor Schreck. Mit einer Handbewegung brachte er es zum Schweigen. Er drehte sich mit ausgestreckten Armen um seine Achse und erwischte dabei einige Kinder mit dem buschigen Ende eines präparierten Löwenschwanzes. Johlen und Lachen belohnten ihn.

Fast eine Stunde lang unterhielt Benjamin sein Publikum mit Vorführungen, Erzählungen, Tierimitationen und Tänzen, bis er zum letzten Teil seines Programms kam.

„Alle singen mir nach!“, rief er und senkte die Stimme. „Ah-wumba-gumba-omba-dumba!“

Die Kinder wiederholten die sinnlosen Worte und klatschten im Rhythmus. Auch heute gelang es Benjamin, seinen Besuchern diesen Tag unvergesslich zu machen!

Bis jemand die Vorstellung störte.

Der Vorhang wurde beiseitegeschoben, das helle Licht des Nachmittags drang herein. Im Eingang stand ein Mann, der mit zusammengekniffenen Augen die Menschen im Zelt musterte. Ein gewaltiger Schnurrbart zierte sein Gesicht. Auf dem Kopf trug er einen roten, randlosen Fez, also stellte er einen Osmanen oder Türken dar. Sein elegantes Jackett verrutschte und gab den Blick frei auf den Griff eines Revolvers, der aus der seidenen Bauchbinde ragte. Der Mann musste ein Schausteller sein. Schausteller verkleideten sich gerne als Türken, das verlieh ihnen etwas Exotisches, ohne allzu fremdartig zu wirken.

„Eintritt während der Darbietung untersagt!“, rief Benjamin. Ein Kollege sollte das eigentlich wissen. Der Mann rümpfte die Nase und ließ den Vorhang wieder fallen.

Benjamin hatte keine Zeit, sich über diesen Zwischenfall zu wundern. Er gab sich Mühe, seine Zuschauer wieder in den Griff zu bekommen. Erneut sprang er herum und gab mit einer kleinen Trommel den Takt vor, während er sinnlose Verse sang.

Die Kinder sangen zunächst nur zögerlich mit, aber bald schrien sie wieder, als hätte es nie eine Störung gegeben. Manche ihrer Mütter und Kindermädchen fielen leise mit ein, andere sahen verschämt zu Boden. Es war kein einziger Mann unter den Zuschauern: Väter gingen nicht mit ihren Kindern zum Rummel. Benjamin bedauerte das. Seinen eigenen Vater kannte er nicht, deshalb machte es ihn traurig, wenn er daran dachte, dass diese Kinder Väter hatten, die sich keine Zeit für sie nahmen.

Unvermittelt brach er den Gesang ab. „Das war großes Lied von Tapferkeit in unserem Stamm“, radebrechte er. Er wusste, dass ein Afrikaner, der fließend Deutsch sprach, nicht glaubwürdig klang. „Ihr jetzt auch große Krieger und tapfere Kriegerfrauen. Nie wieder Angst haben werden! Ab heute ihr seid mutig. Ja?“

„Ja!“, riefen die Kinder. Sie sprangen hoch und fingen die bunten Bonbons auf, die er zwischen sie warf.

„Sagt all euren Freunden, sie hier her kommen“, forderte Benjamin sie auf. „Sie auch große Krieger werden.“ Er öffnete den Ausgang und sprang beiseite, als lauere draußen eine Gefahr. Noch einmal schrien die Kinder, dann drängten sie hinaus, der nächsten Attraktion entgegen. Karussells und Puppentheater warteten auf sie, Zauberer und tanzende Bären.

Das Tageslicht verwandelte den afrikanischen Häuptlingssohn zurück in den geschminkten Benjamin, der vor den Kindermädchen dienerte. Er nahm ein paar Pfennige Trinkgeld entgegen und steckte den Kleinen beim Hinausgehen weitere Süßigkeiten zu.

Nachdem sie weg waren, wischte Benjamin die Schmutzschicht von der Werbetafel. Wegen des kühlen Wetters heizten die Leute noch. Der feine Regen filterte den schwefeligen Ruß aus der Luft und legte ihn als schmierige Ablagerung auf allem nieder. Der große Afrikaforscher Friedrich Grabow ..., stand auf der Tafel und in kleineren Buchstaben darunter: ... berichtet von seinen haarsträubenden Abenteuern in den unerforschten Teilen des Schwarzen Kontinents und präsentiert weltexklusiv den Sohn eines Bantu-Häuptlings aus den Dschungeln jenseits des Äquators. Nach Paris, London und Konstantinopel nun auch in Hannover! Nachmittags lehrreiche Veranstaltung für Kinder, exotische Abendvorstellung für Erwachsene!

Benjamins Ziehvater Grabow war nie in Afrika gewesen und Benjamin war auch nicht der Sohn eines Bantu-Häuptlings, sondern nur ein halber Afrikaner, vonseiten seiner Mutter. Doch seine dunkle Haut genügte den Menschen als Beweis für die Echtheit der Behauptungen auf dem Schild.

Der Mann, der die Vorstellung gestört hatte, fiel Benjamin wieder ein. Der hatte bemerkenswert echt gewirkt, sogar die Waffe, die zu sehen gewesen war. „Haben wir einen Neuen auf dem Platz, der einen Türken darstellt?“, fragte er seinen Standnachbarn, der gebrannte Mandeln verkaufte.

„Ne, nichts gesehen. Hier, sind noch warm.“

Benjamin nahm die Tüte mit den Mandeln und sah sich um, während er sie knabberte. Die Geschäfte auf dem Rummelplatz gingen schlecht in diesem Frühjahr 1887, die Menschen hatten nicht viel Geld in der Tasche. Zwar spazierten viele Neugierige über das Gelände, aber sie kauften nichts. Mit einem Speer in der Hand stellte sich Benjamin in Kriegerpose vor den Eingang des Zelts und hoffte auf Kundschaft für die erste Abendvorstellung. Ob Grabow mitmachen würde, hing wie immer davon ab, wie betrunken er war. Noch war er nicht von seinem Nachmittagsschoppen zurückgekehrt.

Ein junger Mann und seine Begleiterin, eine dickliche Dienstmagd, blieben vor dem Zelt stehen und lasen das Schild. Benjamin lächelte die Frau an und hielt ihr eine Eintrittskarte entgegen. Sie wich erschrocken zurück. Ihr Freund spuckte verächtlich auf den Boden und zog sie mit sich davon. Benjamin zuckte nur mit den Schultern. Bei Kleinstädtern, die zum ersten Mal einen Menschen mit dunkler Haut sahen, war das keine ungewöhnliche Reaktion.

Als der Regen stärker wurde, ging er ins Zelt, stellte die Stühle wieder richtig hin und sammelte den Abfall ein. Diese täglichen Arbeiten blieben immer an ihm hängen. Grabow kümmerte sich um nichts, sein Lebenszweck waren das Trinken und das Anzetteln von Ärger.

Einige Bonbons lagen zwischen den Stühlen. Als sich Benjamin danach bückte, wurde er von hinten angesprochen. Erschrocken fuhr er herum und starrte das Paar an, das geräuschlos das Zelt betreten hatte: Der Mann trug einen einfachen Anzug und hielt sich sehr gerade. Sein schütteres Haar war ergraut und seine Gesichtszüge zeigten die schlaffe Weichheit des beginnenden Alters. Er mochte Mitte fünfzig sein. Die Frau neben ihm war jünger und adrett gekleidet.

Es hätte ein gutbürgerliches Ehepaar sein können, wäre nicht dieser Hauch von Stolz und Duckmäuserei von ihnen ausgegangen, den Benjamin sofort zuordnen konnte: Dienerschaft aus einem vornehmen Haus! Solche Kunden sah man selten auf dem Rummelplatz.

„Geschlossen, bitte besuchen Sie unsere nächste Vorstellung“, sagte Benjamin und begann, die übliche Anpreisung der Darbietung herunterzurasseln.

„Ich wünsche Herrn von Grabow zu sprechen“, unterbrach ihn der Mann mit leiser, präziser Stimme. Er sah Benjamin nicht an, sondern drehte wie eine Schildkröte den Kopf weg, um einen Blick zurück zum Eingang zu werfen. „Es eilt!“

„Von Grabow?“ Benjamin konnte es nicht fassen. Den Namen seines Ziehvaters mit einem Adelstitel zu versehen, war lächerlich.

Aber der Mann machte nicht den Eindruck, als wolle er scherzen. Er war blass, sein rechtes Augenlid zuckte nervös. Die Hände der Frau zitterten. Der Mann bemerkte es und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles ist in Ordnung, Liebste.“

„Grabow ist nicht da“, sagte Benjamin. „Was wollen Sie denn von ihm?“

„Es ist vertraulich. Wann ist er wieder zu sprechen?“

„Vertraulich? Ich bin sein Pflegesohn. Sie können Vertrauliches auch mit mir besprechen.“

Der Mann zögerte. Die junge Frau schob sich energisch vor ihn: „Man hat uns gesagt, er kaufe manchmal gewisse Gegenstände an. Schmuck, zum Beispiel.“

Benjamin wusste, dass Grabow auch durch Hehlerei versuchte, an Geld zu kommen, das er dann vertrinken und verspielen konnte. Vermutlich hatten die beiden ihre Herrschaft beklaut und suchten nun einen Abnehmer für das Diebesgut. Am liebsten hätte Benjamin das Paar weggeschickt. Aber illegale Einnahmen bedeuteten immer auch, dass Grabows Druck auf ihn nachließ. „Da kommen Sie am besten morgen wieder“, empfahl er daher. „Solche Angelegenheiten verhandelt er nur persönlich.“

Der Mann senkte den Kopf und unterhielt sich flüsternd mit der Frau. „Ja, wir verstehen“, sagte er dann. „Wir werden am Vormittag noch einmal vorsprechen.“ Er deutete zum Abschied eine Verbeugung vor Benjamin an, was der noch nie erlebt hatte.

So vornehm und doch Gauner, dachte Benjamin; denen Grabow wiederum morgen für wenig Geld alles abluchsen würde, was sie hatten.

Nachdem er das Zelt in Ordnung gebracht hatte, ging er mit der Kassenschatulle unter dem Arm in den abgesperrten Bereich hinter dem Rummelplatz. Das Kleingeld in der Schatulle deckte kaum den Lebensunterhalt und die laufenden Kosten für einen Tag. Doch Benjamin liebte die Nachmittagsvorstellungen, bei denen er alleine vor Kindern auftreten konnte. Ohne Grabow im Nacken machte alles viel mehr Spaß.

Er gelangte auf den Abstellplatz, wo die bunt lackierten Wohnwagen nebeneinanderstanden. Pferde wieherten, Schaustellerkinder spielten Fangen, der Geruch von aufgewärmtem Essen wehte herüber. Diese Wagen und der Stall für die Zugpferde waren Benjamins Zuhause – egal, in welcher Stadt er sich gerade befand. Ob Hannover oder Hamburg, Leipzig oder Berlin: Jahrmarkt war Jahrmarkt.

Zurückhaltend grüßte er Breitmann, den Wurfbudenbesitzer, der in Geld schwamm und immer noch mehr haben wollte. Mamschka winkte Benjamin im Vorbeigehen zu. Sie war eine der wenigen eigenständigen Frauen im Schaustellergewerbe. Mamschka sah schlecht aus, letzte Nacht hatte sie sich ein blaues Auge eingefangen. Sie trank zu viel und oft mit den falschen Leuten. Zum Beispiel mit Grabow.

Sein Ziehvater war noch nicht im Wohnwagen. Benjamin nutzte die Zeit, um im Spiegel seine Verkleidung zu prüfen. Die abgewetzte Hose, auf die Federn und Fellstücke aufgenäht waren, sah noch ganz gut aus. Das mit Tiermotiven bedruckte, ärmellose Hemd dagegen wurde fadenscheinig. Aber das war kein Problem, von einem Wilden erwarteten die Zuschauer, dass er mit zivilisierter Kleidung nicht zurechtkam.

Im Gegensatz zu anderen Darstellern von Afrikanern, denen Benjamin auf Rummelplätzen begegnet war, brauchte er seine Haut mit Schminke nur ein wenig dunkler zu färben. Sie hatte von Natur einen hellbraunen Ton, ein Erbe seiner Mutter, die bei seiner Geburt gestorben war. Benjamin stellte sie sich als afrikanische Häuptlingstochter vor, wunderschön und reich und liebevoll. Er dachte oft an sie, wenn er sich beim Schminken im Spiegel sah. Seine breite Nase und die krausen Haare hatte er ebenfalls von ihr, die blauen Augen dagegen von seinem unbekannten deutschen Vater.

Da Benjamin nicht wollte, dass man ihm seine fünfzehn Jahre anmerkte, schminkte er sich außerdem vor den Vorstellungen einen Bartschatten ins Gesicht. Die Bilder von echten Afrikanern, die er in illustrierten Blättern und auf Plakaten gesehen hatte, zeigten zwar nie einen mit Bart, trotzdem war Grabow mit dieser Zutat einverstanden.

„Es muss nicht echt sein, es muss echt wirken“, sagte Grabow immer. „Du musst nicht aussehen wie ein junger afrikanischer Häuptling, sondern so, wie sich das verehrte Publikum einen vorstellt. Verstanden, Dummkopf?“

Grabow war heute mürrischer als sonst gewesen und schon mittags ausgegangen. An solchen Tagen kehrte er meist mit noch schlechterer Laune zurück. Benjamin war daran gewöhnt, deshalb erschrak er nicht, als er hörte, wie Grabows Stimme in der Ferne ein unanständiges Lied grölte.

Andere Stimmen fielen in den Gesang ein. Der Chor der Betrunkenen näherte sich dem Wohnwagen. Benjamin öffnete die Tür, obwohl er ahnte, was kommen würde.

Grabow stand mit einigen Kumpanen vor dem Wagen. Sein Anzug war schmutzig, die Jacke eingerissen. Er hatte sich wieder einmal geprügelt – und sicherlich gewonnen. Er überragte nicht nur die meisten Menschen um einen Kopf, sondern hatte auch Muskeln wie Stahlstränge.

„Merkt es euch: Niemand besiegt Friedrich Grabow!“, prahlte er gerade. „Benjamin, zu mir!“ Er zeigte auf Benjamin und sagte zu seinen Begleitern: „Das ist er, der afrikanische Häuptlingssohn.“

Benjamin musterte die Männer und versuchte, sie einzuschätzen. Es waren grobschlächtige Kerle, von denen einige Uniformjacken trugen. Vielleicht Soldaten, die sich ein paar schöne Tage in der Stadt machten.

„Tatsächlich, ein echter Neger! Lass ihn tanzen!“, schrie einer von ihnen, und die anderen stimmten ein: „Wir wollen ihn tanzen sehen!“

Grabow schubste Benjamin in Richtung Zelt. „Die Abendvorstellung fällt heute aus. Es gibt eine Sondervorstellung für meine Freunde“, sagte er. „Ich schulde ihnen Geld, also gib dein Bestes, du nichtsnutziger Affe. Tanz für uns!“

Zu Benjamins Abendvorführungen gehörte ein afrikanischer Kriegstanz, zu dem Grabow die Trommel schlug. Der Tanz bestand aus grotesken Sprüngen und sinnlos hervor gestoßenen Schreien, ähnlich wie in der Kindervorstellung, aber wilder.

Im Zelt nahm Grabow die Pose des Afrikaforschers ein, die er auch im Alltag pflegte. Benjamin zuckte zusammen, als Grabow die Peitsche aus dem Gürtel zog und ein paarmal damit knallte. Das gehörte nicht zum normalen Programm. Zum Glück klemmte Grabow sich die Peitsche anschließend unter den Arm und griff nach der Trommel.

Benjamin begann mit der Vorführung. Normalerweise kam der Tanz erst am Ende eines Programms. Er dauerte nicht lange und sollte das Publikum dazu verführen, dem Artisten noch ein paar Geldstücke zuzuwerfen. Benjamin tanzte zu Grabows unrhythmischen Trommelschlägen. Die Soldaten klatschten und schrien durcheinander.

Ein weiterer Soldat kam ins Zelt. Er brachte mehrere Schnapsflaschen, die er verteilte. Da Grabow keine Hand freihatte, hielt ihm der Mann eine Flasche an den Mund. Grabow trank gierig den Schnaps, während er weiter trommelte.

„Schneller, schneller“, brüllten die Soldaten.

Benjamin griff nach dem verzierten Speer und dem mit Fellen bespannten Schild. Noch wilder führte er den Kriegstanz fort. Als er erschöpft aufhören wollte, weil er nicht mehr konnte, trieb ihn ein Blick in Grabows grimmiges Gesicht zum Weitermachen. Immer lauter grölten die Männer.

Irgendwann wurde Benjamin schwindelig vor Atemnot. Keuchend hielt er inne.

Grabow warf die Trommel beiseite und schlug mit der Peitsche nach ihm. „Weiter, Affe!“

Erschrocken wich Benjamin aus. Grabow stolperte, fluchte und wurde noch wütender. Nun feuerten die Soldaten den betrunkenen Grabow an, der mit der Peitsche versuchte, Benjamin zu treffen. Die Peitsche war eine Waffe, mit der Benjamin schon mehrmals Bekanntschaft gemacht hatte. Seit er als fünfjähriges Kind damit fast tot geprügelt worden war, hatte er enorme Angst vor ihr.

Benjamin tanzte wie zufällig zum hinteren Teil des Zeltes. Dort gab es einen Durchschlupf. Aber einer der Soldaten durchschaute seine Absicht und schnitt ihm den Weg ab. Benjamin wich aus und geriet so in die Reichweite der Peitsche. Sie traf und schnitt eine Furche in seinen Rücken. Die Männer johlten begeistert.

Panisch suchte Benjamin nach einer Fluchtmöglichkeit. Er wich einem weiteren Peitschenhieb aus und schlug mit seinem Speer nach dem Mann, der vor ihm stand. Der Mann war so betrunken, dass er einfach umfiel. Der Weg zum Hinterausgang des Zelts war frei.

Die Stimmung der Soldaten schlug um. Sie grölten nicht mehr vor Schadenfreude, sondern vor Wut. „Bringt dieses tollwütige Tier um!“, brüllte einer. Sie wollten hinter Benjamin herrennen, behinderten sich aber gegenseitig. Ein Peitschenhieb Grabows traf in dem Durcheinander nicht Benjamin, sondern einen der Männer, noch dazu mitten ins Gesicht. Der Mann schrie auf und taumelte zurück. Blindlings rammte er dem Nächststehenden die Faust in die Magengrube. Eine Prügelei jeder gegen jeden begann.

In dem Durcheinander gelang es Benjamin, das Zelt zu verlassen. Zitternd vor Angst und Schmerzen suchte er sich eine Deckung und beobachtete durch einen Schlitz in der Zeltplane, was weiter geschah. Noch nie hatte er einen Menschen niedergeschlagen. Er musste unbedingt wissen, wie Grabow darauf reagierte.

Grabows Stärke und die Macht seiner Peitsche beendeten die Schlägerei schnell. Durch den Vorderausgang flüchteten seine Saufkumpane ins Freie. Sie verfluchten Grabow mit den schlimmsten Ausdrücken, die Benjamin je gehört hatte. Grabow pöbelte zurück. Da er immer noch die Peitsche schwang, wagten es die Männer nicht mehr, sich mit ihm anzulegen. Sie verzogen sich stolpernd zwischen die Rummelplatzbesucher.

Nun machte sich Grabow auf die Suche nach Benjamin. „Wo bist du, Ratte? Ich ziehe dir die Haut in Streifen ab!“ Er knallte mit der Peitsche in die Luft.

Benjamin blieb in Deckung und rührte sich nicht. Er sah zu, wie sein Ziehvater eine der herumkullernden Schnapsflaschen aufhob, halb leer trank und zum Wohnwagen torkelte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Der Brief der Königin

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