Читать книгу Der Brief der Königin - Manfred Rehor - Страница 5

Оглавление

Der Fluchtplan

Als Benjamin wieder zu sich kam, dauerte es eine Weile, bis er wusste, was geschehen war und warum er zwischen den Zeltplanen im Dreck lag. Es war spät geworden, auf dem Rummelplatz herrschte Ruhe. Vorsichtig tastete er seinen Rücken ab. Er spürte das klebrige Blut, das sein Hemd durchtränkte. Die Wunde schmerzte höllisch. So schlimm hatte ihn sein Ziehvater schon lange nicht mehr erwischt. Wer konnte ihm jetzt helfen? Ein Arzt kam nicht in Frage. Breitmann, der Besitzer der Wurfbude, fungierte als Sanitäter auf dem Rummel, verlangte aber Geld für seine Dienste. Blieb also nur Rosalinde. Benjamin wollte aufstehen, da legte sich von hinten schwer eine Hand auf seine Schulter.

Benjamin warf sich herum und versuchte, seinem Angreifer zu entkommen. Doch als er erkannte, wer es war, gab er den Versuch auf. Vor Herkules brauchte er sich nicht zu fürchten. Der ‚stärkste Mann der Welt‘ war gutmütig und so etwas wie sein Freund.

„Hab dich gesucht“, sagte Herkules. Er ließ Benjamin los und hielt die Hand hoch, um sie im Mondlicht anzusehen. „Blut“, sagte er. „Grabow?“

„Ja. Mit der Peitsche.“

„Ich bringe ihn um“, drohte Herkules und machte kehrt, um seinen Vorsatz sofort in die Tat umzusetzen.

„Halt, warte!“ Benjamin wusste, dass Herkules nicht zur Gewalttätigkeit neigte. Aber man konnte nie richtig abschätzen, was in seinem langsam arbeitenden Verstand vor sich ging. „So schlimm ist es auch wieder nicht. Warum hast du mich gesucht?“

„Rosalinde schickt mich. Hier.“ Herkules gab Benjamin ein zerknittertes Blatt Papier.

Es standen nur wenige Worte darauf: „Es geht um deinen Vater. Komm zu mir herüber.“ Darunter war groß und mit vielen Schnörkeln der Buchstabe ‚R‘ gemalt.

„Mein Vater!“, sagte Benjamin und ließ das Papier vor Überraschung beinahe fallen. Hatte Rosalinde etwas über seinen toten Vater in Erfahrung bringen können?

„Grabow!”, folgerte Herkules. „Ich bringe ihn um.“

„Nein, es ist alles gut. Danke für deine Hilfe. Ich gehe jetzt zu Rosalinde und du gehst schlafen. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, brummte der Riese und tappte davon.

Benjamin sprintete los zu dem in Pastellfarben bemalten Wohnwagen, in dem Rosalinde und ihre Mamschka lebten. „Was ist mit meinem Vater?“, rief er atemlos, als er die Tür des Wohnwagens aufstieß.

„Wie siehst du denn aus?“, begrüßte ihn Rosalinde. „Dreh dich mal um. Du blutest ja!“ Rosalinde rührte sich nicht aus ihrem Sessel, sie deutete nur auf einen Lappen und einen Krug mit frischem Wasser auf der Kommode.

Benjamin feuchtete den Lappen an und drückte ihn Rosalinde in die Hand. Dann zog er die Reste seines Hemds aus, bückte er sich vor ihr und ließ sich das Blut vom Rücken abwaschen.

Rosalinde keuchte, während sie vorsichtig über die zerschundene Haut fuhr. Selbst diese Anstrengung war ihr schon fast zu viel.

„Warum bist du heute nicht in der Abendvorstellung?“, fragte Benjamin, um sich von den Schmerzen abzulenken.

„Es geht mir nicht gut.“

Das sagte Benjamin genug. Rosalinde war erst vierzehn, wog aber schon mehr als vier Zentner. Ihr Körper kam mit dem Gewicht nicht mehr zurecht. An manchen Tagen musste Mamschka draußen im Zelt auf sie verzichten. Aber es arbeiteten noch zwei nicht ganz so dicke Mädchen für Mamschka. Die genügten, um Zuschauer anzulocken, auch wenn ‚das Kolossalkind Rosalinde‘ als Star der Vorführung fehlte.

Rosalinde legte den Lappen beiseite. „Wie ist das passiert?“, wollte sie wissen.

„Grabow hatte einen Wutanfall. Was ist mit dir?“

„Ich bin wieder ohnmächtig geworden.“ Rosalinde lief trotz des kühlen Wetters der Schweiß herunter. Der ganze Wohnwagen war erfüllt von dem Schweißgestank und dem süßlichen Bouquet des billigen Parfums, mit dem sie versuchte, ihren Körpergeruch zu überdecken.

„Wenn du nicht abnimmst, wirst du sterben“, mahnte Benjamin. „Du weißt, was die Ärzte sagen.“

„Ich darf nicht abnehmen. Wenn die Leute keinen Eintritt mehr bezahlen, um mich zu sehen, setzt mich Mamschka aus. Sie hat erst gestern wieder damit gedroht. Wir sind eh fast pleite.“

„Vielleicht kannst du ein ganz normales Leben führen, wenn du dünn wirst“, munterte Benjamin sie auf. Er hatte das schon Dutzende Male gesagt und wusste, dass es unsinnig war. Rosalinde war auf Gedeih und Verderb an Mamschka gebunden, so wie er an Grabow. Aber er konnte die Hoffnungslosigkeit in Rosalindes Augen nicht verkraften, wenn von ihrem Aussehen die Rede war.

„Ich habe einmal abgenommen, als Kind, weil ich krank war“, erzählte Rosalinde die alte Geschichte wieder, die ihr selbst als Rechtfertigung für ihr Dulden diente. „Ich sah aus wie ein Monster. Die Hautfalten hingen wie Säcke an mir herunter. Jetzt finden die Leute mich wenigstens niedlich, weil ich in den Rüschenkleidern wie ein Riesenbaby wirke.“

„Noch“, sagte Benjamin und bereute es gleich wieder.

„Du brauchst nicht so zu reden! Im Gegensatz zu mir könntest du wirklich weggehen. Und sag jetzt nicht, du hättest keine Chance im Leben, weil du ein Afrikaner bist. Du bist ein Mischling. Deine Haut ist so hell, dass du nur zu behaupten brauchst, du seiest ein Italiener aus dem Süden, und jeder würde dir glauben.“ Rosalinde blickte auf Benjamin herunter, der vor ihr auf dem Boden saß.

Benjamin wechselte schnell das Thema. „Was ist mit meinem Vater?“, fragte er.

„Gestern hat Grabow im Suff Mamschka verprügelt.“

Das interessierte Benjamin nicht sonderlich. Die Schmerzen auf seinem Rücken wurden stärker und machten ihn fast verrückt. Er riss sich zusammen und sagte: „Ich habe sie vorhin gesehen. Sie hat ein blaues Auge.“

„Und jede Menge blauer Flecken. Sie war betrunken und hat die halbe Nacht auf Grabow geschimpft.“ Rosalinde keuchte ein paarmal, bevor sie weiterreden konnte. Ein triumphierendes Blitzen ihrer Augen kündigte den nächsten Satz an: „Sie sagte, es sei schlimm, wie er alles Geld versäuft und verspielt, das er von deinem Vater bekommt.“

„Der ist tot!“

„Mamschka muss es besser wissen“, widersprach Rosalinde. „Sie hat ganz früher mal mit Grabow zusammengelebt.“

Das war ein Argument. Mamschka kannte Grabow schon, als Benjamin noch gar nicht geboren war. „Wenn das stimmt, haben es mir beide immer verheimlicht. Warum sollten sie das tun?“

„Grabow, weil er das Geld deines Vaters vertrinkt, und Mamschka aus Angst vor Grabow. Wahrscheinlich erwartet dein Vater, dass Grabow dich für das Geld gut erzieht. Mit Schule und so. Stattdessen lässt Grabow dich für sich arbeiten. Du musst herausfinden, um welche Summen es geht. Bestimmt gibt es Schecks oder Quittungen.“

„Dann sind sie in Grabows Eisenkassette. Den Schlüssel trägt er Tag und Nacht an einer Kette um den Hals. Als Kind habe ich mal versucht, die Kassette zu öffnen. Er hat mich erwischt und verprügelt.“

„Jetzt bist du kein Kind mehr.“ Rosalinde griff nach einem Fächer und wedelte sich Luft zu. „Du musst deinen Vater suchen und ihm sagen, was Grabow getan hat.“

Benjamin mochte diese Idee nicht. Wenn sein Vater wirklich noch lebte, hatte er Benjamin verstoßen – wegen der Hautfarbe, warum auch sonst? Benjamin war sich nicht sicher, ob es richtig war, zu so einem Mann zu gehen. Er sah in Rosalindes Gesicht. Waren es Schweißtropfen oder Tränen, die über ihre Wangen liefen? „Vielleicht tue ich es“, sagte er.

„Schau zumindest nach, was in der Kassette ist. Versprichst du mir das?“

„Klar. Wenn sich die Gelegenheit ergibt.“

„Dafür musst du sorgen! Nicht immer warten, Benjamin“, tadelte ihn Rosalinde. Sie wäre gerne Lehrerin geworden, das merkte man manchmal. Auch wenn sie selbst nur ein paar Monate in ihrem Leben eine Schule besucht hatte, den strengen, fordernden Ton hatte sie sich gemerkt.

„Also gut: versprochen!“

„Dann sage ich dir jetzt, wie du an den Schlüssel für die Kassette herankommen kannst. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Dort neben dem Spiegel liegt ein Papiertütchen mit Pulver.“

Benjamin stand auf und holte es. Das Tütchen war eines von der Sorte, in der Apotheker Medikamente in einzelnen Portionen verkauften.

Rosalinde bestätigte seine Vermutung: „Das ist ein starkes Schlafmittel, das Mamschka manchmal nimmt. Ich habe es ihr stibitzt. Jetzt brauchst du nur noch eine Flasche Schnaps. Errätst du meine Idee?“

Benjamin lachte, auch wenn ihm nicht wohl war bei dem Plan, den Rosalinde ausgeheckt hatte. „Ich verstehe“, versicherte er. Sein Herz schlug noch schneller als vorhin bei der Flucht aus dem Zelt. Hier eröffnete sich ihm ein Weg in die Freiheit. Eine Freiheit, die nicht ungefährlich war für einen wie ihn. Wie schlecht Grabow ihn auch behandelte, Benjamin war auf dem Rummel sicher vor Nachstellungen wegen seiner dunklen Hautfarbe. Wäre es nicht fahrlässig, diese Sicherheit aufzugeben?

„Ich werde es tun“, beteuerte er noch einmal. Er war selbst überrascht über die Festigkeit in seiner Stimme.

Zufrieden ließ sich Rosalinde zurücksinken. „Dann mach dich jetzt sofort daran!“, befahl sie.

Trotz seiner Angst vor Grabow schlich sich Benjamin zurück zum Zelt. Die Petroleumlampen brannten noch. Zwischen den umgestürzten und zerschlagenen Stühlen lagen zwei Schnapsflaschen. Eine davon war nicht ausgelaufen, die nahm er mit. Schmeckte der billige Schnaps anders, wenn das Schlafpulver darin aufgelöst war? Benjamin öffnete das Papiertütchen und probierte eine winzige Menge des Pulvers. Es war sehr bitter. Blieb also nur die Möglichkeit, Grabow weiszumachen, dass der Schnaps bitter schmecken musste, weil er etwas Besonderes war.

Im Mondlicht ging Benjamin über den dunklen Rummelplatz. Hier kannte er sich aus. Als Kind war er oft nachts aus dem Wohnwagen geschlichen, um sich draußen umzusehen. Es war dann so still und friedlich, ganz anders als tagsüber und abends, wenn Besucher über den Platz strömten. Nur die Gerüche hingen noch immer in der Luft: gebratene Wurst, Hustenbonbons, Pferdeäpfel. Er wüsste sogar mit geschlossenen Augen, wo er sich gerade befand.

In einem Abfallkorb entdeckte er eine bauchige Flasche mit ausländischem Etikett. Vielleicht französisch, was bei Alkohol ja immer gut war. Er füllte den Schnaps in die bauchige Flasche um, ließ das Pulver aus dem Tütchen hinein rieseln und verkorkte die Flasche sorgfältig. Dann kehrte er ins Zelt zurück und versteckte sie.

Die restliche Nacht verbrachte er unter Grabows Wohnwagen. Das tat er immer, wenn er sich dessen Zorn zugezogen hatte. Aus dem Stall, in dem die Zugpferde standen, holte er Stroh und breitete es unter dem Wagen aus. Er legte sich mit dem Bauch darauf, weil er es auf dem Rücken nicht aushielt, und hörte über sich Grabow randalieren. Als Grabow zu Schnarchen anfing, fand auch Benjamin ein wenig Schlaf.

Am frühen Morgen, als es empfindlich kalt wurde, kletterte Benjamin in den Wohnwagen. Es sah wüst aus, wie gewöhnlich nach Grabows Wutanfällen. Grabow schnarchte fürchterlich laut. Der Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug, hing seitlich aus dem Hemdkragen. Er war wie ein Kreuz geformt. Das verlieh Grabow das Ansehen eines frommen Mannes – zumindest bei Menschen, die nicht wussten, was dieses Kreuz in Wirklichkeit war.

Benjamin wagte es nicht, dem Schlafenden die Kette mit dem Schlüssel über den Kopf zu ziehen. Grabow war unberechenbar und konnte von einem Moment zum nächsten hellwach sein.

Leise legte Benjamin sich in sein Bett und schlief noch ein paar Stunden, bis Grabow gegen Mittag stöhnend erwachte und krächzend nach etwas zu Trinken rief.

Benjamin brachte ihm einen Krug mit Wasser und ein Glas Kräuterlikör. Es gehörte zu seinen Aufgaben, dafür zu sorgen, dass immer ein Vorrat dieses leuchtend grünen, zuckersüßen Getränks vorhanden war. Der Likör war das Einzige, was Grabow über den morgendlichen Kater hinweg half.

Als Grabow sich schließlich nach einem zweiten Glas aus seinem Bett hochwuchtete, hatte er die Ereignisse des Vorabends vergessen. Auch das war nicht ungewöhnlich. „Räum auf!“, knurrte er Benjamin an, dann verließ er schwankend den Wagen, um sich bei einem der Nachbarn ein Frühstück zu schnorren.

Benjamin machte sich ans Säubern des Wagens, wobei er auch die Eisenkassette unter dem Schreibtisch abwischte. Sie war etwas größer als ein Schuhkarton und aus dickem Blech gefertigt. Das Schloss war eine Schweizer Spezialanfertigung, das behauptete Grabow jedenfalls.

Mit einem kräftigen Ruck hob Benjamin die Kassette einen Fingerbreit hoch. Mehr ließ die Eisenkette nicht zu, die als Schutz vor Dieben an beiden Seiten angeschweißt war. Diese Kette führte durch ein Loch im Boden nach unten und kam zwei Schritte weiter wieder hoch. Sie bildete also eine Schleife unter dem Wagenboden. Ein Dieb musste entweder die stabile Kette durchtrennen oder den Boden des Wagens mit einer Axt zerschlagen, wenn er die Kassette stehlen wollte. Grabow war selbst ein Gauner, deshalb wusste er, wie man sein Eigentum wirkungsvoll schützt.

Nur wenige Male hatte Grabow die Kassette in Benjamins Gegenwart geöffnet. Sie enthielt Papiere und ein paar Gegenstände aus Grabows Vergangenheit. Manchmal legte Grabow auch wertvolle Hehlerware hinein, bis er einen Abnehmer dafür fand.

Nachdem der Wohnwagen wieder bewohnbar war, ging Benjamin hinüber zum Zelt. Dort musste alles für die erste Vorstellung hergerichtet werden. Als er das Zelt durch den Hintereingang betreten wollte, hörte er Grabows Stimme. Benjamin duckte sich, um von niemandem beim Lauschen gesehen zu werden, und hörte zu.

„Ich bin im Moment nicht flüssig“, sagte Grabow gerade. „Einen Teil des Schmucks kann ich nur in Kommission nehmen.“

„Darauf können wir uns nicht einlassen“, antwortete eine Männerstimme. Es war der Diener vom Vortag, der gestohlene Ware loswerden wollte. „Auf Wiedersehen.“

„Nicht so hastig! Wir können uns vielleicht einigen.“ Grabow wusste, wie man einen Fisch an der Angel zappeln ließ.

Eine Frauenstimme sagte: „Georg, wir brauchen das Geld sofort. Wir müssen Hannover heute noch verlassen. Die Prinzessin ...“

„Still, mein Herz. Wir werden jemand Anderen finden, der uns Geld dafür gibt.“

Grabow schwieg einen Moment, bevor er sagte: „Ich werde das Geld besorgen, aber nur, weil ich so ein mitfühlender Mensch bin. Warten Sie! Ich bin in einer Minute wieder hier.“

Benjamin wusste, wohin Grabow jetzt ging: zu Breitmann, dem Inhaber der Wurfbude, der zu horrenden Zinsen Geld verlieh.

„Ist es richtig, was wir tun, Georg?“, fragte die Frau, als Grabow weg war.

„Es ist unsere einzige Chance, Liebes. Ihre Hoheit hat eine solche Abneigung gegen dich gefasst, dass deines Verbleibens nicht länger gewesen wäre. Wir wären getrennt worden, Melanie, für immer.“

„Ja, Georg.“

„Dieser Mann will uns betrügen. Aber das ist egal. Er muss uns für den Schmuck genug Geld für zwei Fahrkarten nach Berlin zahlen. Meine Verwandten werden uns helfen, mit neuen Papieren nach Bayern zu gelangen. Dort übernehmen wir die Gaststätte, die du geerbt hast, und gründen eine Familie, wie andere Leute auch.“

„Ja, Georg.“

„Aber den Brief behalten wir. Den soll dieser Grobian nicht bekommen. Wir wollen der Prinzessin nicht mehr schaden, als unbedingt nötig ist. Wir sind ehrliche Menschen, auch wenn wir nun zum Äußersten gezwungen werden.“

„Ja, Georg.“

Benjamin fand den Schlitz im Zelt wieder, durch den er gestern gespäht hatte. Er beobachtete das Paar. Georg sah zum Eingang und wischte sich alle paar Sekunden den Schweiß von der Stirn. Melanie tippelte von einem Fuß auf den anderen.

Grabow kam zurück und schwenkte ein paar Geldscheine in der Hand. „Mehr gibt‘s nicht. Gilt das Geschäft?“

Benjamin sah die schnelle Bewegung, mit der sein Ziehvater beim Hereinkommen weitere Geldscheine in der Hosentasche verschwinden ließ. Als gewiefter Feilscher hatte er sich bei Breitmann eine größere Summe geben lassen, bot dem Dienerpaar aber zunächst nur einen Teil davon an. Sein Trick funktionierte:

Georg atmete tief durch und richtete sich noch gerader auf, als er sowieso schon dastand. Er hielt auf der offenen Handfläche Grabow in paar Schmuckstücke entgegen, die der sich mit einer schnellen Bewegung schnappte.

Benjamin kannte sich nicht aus mit solchen Sachen, aber bestimmt war diese Diebesbeute auf dem Schwarzmarkt ein Vielfaches der gezahlten Summe wert.

Georg zählte die Geldscheine durch: „Moment, das ist weit weniger ...“

„Das oder nichts!”, bellte Grabow.

„Wir brauchen das Geld”, sagte Melanie unter Tränen.

Georg verstand aber besser als sie, wie Grabow dachte. „Wir können unser Angebot in anderer Richtung erweitern“, sagte er. Er zog ein paar gefaltete Schriftstücke aus der Tasche, sah sie durch und überreichte Grabow mit einer eleganten Bewegung ein Blatt Papier.

„Was soll dieses unleserliche Geschmier darstellen?“, blaffte Grabow.

„Dies ist ein Brief ihrer Majestät, der Königin Viktoria von England. Von eigener Hand geschrieben auf Schloss Windsor, wie Sie am Wappen sehen können. Er ist an eine Verwandte ihrer Majestät hier in Hannover gerichtet. Für seine Echtheit kann ich bürgen. Ich war zufällig dabei, als er von der Empfängerin geöffnet wurde. Dieser Brief ist vorgestern aus London eingetroffen.“

„Na, und?“

„Stellen Sie sich das doch einmal vor: Noch vor drei, vier Tagen hielt die Königin in eigener Person dieses Blatt in Händen!“

Nun verstand Grabow. Mit spitzen Fingern nahm er das Papier und hielt es mit ausgestrecktem Arm vor sich. „Ich kann das nicht entziffern!“

„Die Königin hat eine großzügige Handschrift. Selbstverständlich ist der Brief auf Englisch abgefasst“, erklärte Georg. „So weit ich es beurteilen kann, ist der Inhalt rein familiärer Natur. Aber ich betone noch einmal: Eigenhändig geschrieben! Dieser Brief ist noch einmal so viel wert, wie Sie uns für den Schmuck geben haben.“

Grabow verzog das Gesicht und tat, als wolle er den Brief fallenlassen. „Ach, was!“

Melanie schrie vor Schreck auf.

„Für Sammler ein unbezahlbarer Schatz!”, beeilte sich Georg noch einmal zu versichern.

Grabow zögerte. Er konnte sich von dem Brief nicht trennen. „Ich gebe zu, ich habe noch nie etwas besessen, das von einer echten Königin stammt. Gut, einverstanden.“

Georg steckte das zusätzliche Geld ein, nahm Melanie bei der Hand und verließ mit ihr eilig das Zelt.

Als Grabow auf den Hinterausgang zuging, den Brief wie eine Ehrenurkunde vor sich haltend, rannte Benjamin zurück zum Wohnwagen und gab sich den Anschein, eine Ecke auszukehren.

Polternd kam Grabow herein und zog sich die Kette mit dem Schlüssel über den Kopf. „Verschwinde“, herrschte er Benjamin an. „Bring das Zelt in Ordnung!“

Als Benjamin nicht schnell genug reagierte, schlug Grabow beiläufig nach ihm und traf ihn mit der Hand auf der frischen Wunde am Rücken.

Aufschreiend vor Schmerz flüchtete Benjamin nach draußen. Rosalinde hatte Recht: Es musste ein besseres Leben geben als dieses, ob nun bei einem echten Vater oder irgendwo sonst. Es war Zeit, zu gehen.

Der Brief der Königin

Подняться наверх