Читать книгу PERSEUS Achat-Seele - Manfred Rehor - Страница 9

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6. Kapitel

Alles war so verwirrend! Es existierte etwas Fremdes im Eigenen. Genauer konnte sie es nicht feststellen, weil auch das Eigene auf seltsame Weise fremd war. Und überhaupt: Wer war sie, wo befand sie sich und warum war sie hier?

Ihr Körper reagierte auf Impulse von innen und außen. Etwas schmerzte sie, aber sie wusste nicht einmal, ob es einer ihrer Körperteile war. Welche Gestalt hatte sie? Keine Ahnung, lautete die Antwort, aber es gab da eine Stelle in ihr selbst, die all das wissen musste. Eine Quelle von Informationen, die es nur zu finden und zu nutzen galt.

Sie machte sich auf die Suche danach. Nur am Rande wurde ihr bewusst, dass jemand nach ihr rief. Aber sie verstand den Namen nicht und sie wusste auch nicht, welches Konzept hinter dem Wort jemand steckte. Es gab nur sie selbst, das jedoch in myriadenfacher Vielfalt. Und doch bildete sie eine Einheit, die aus dieser Vielfalt entstanden war.

Nach langem Suchen - es dauerte viele Nanosekunden! - fand sie den Zugang zu den Informationen. Was dann über sie hereinbrach, verursachte einen Schock, der ihr fast das Bewusstsein raubte. Aber sie hielt stand und nahm das Wissen in sich auf. Verarbeitete es. Zog Schlussfolgerungen. Überprüfte diese anhand von logischen Modellen und weiteren Informationen. Und wusste schließlich, wer sie war: Jool!

Der strömende Atem der Bewusstheit - die Praan-Saat - hatte sie erschaffen. Nein, korrigierte sie sich, das war so nicht richtig. Die Ereignisse, die zu ihrer eigenen Entstehung führten, waren gewalttätig gewesen. Die Praan-Saat war besiegt worden und hatte sich in einem letzten Aufbäumen materialisiert. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Gegner sie bereits so komprimiert, dass etwas Neues entstanden war. Womöglich etwas Unvorhergesehenes, vorher nie Dagewesenes? Vermutlich nicht. Die Fähigkeit zu dieser Transformation war in der Praan-Saat angelegt.

Noch einmal ließ sie die Flut der Informationen über sich ergießen.

Diesmal war es kein Schock, sondern eine Wohltat. Denn es brachte ihr nicht nur neues Wissen, es gab ihr auch eine Aufgabe. Viele Aufgaben. Ihre Existenz war notwendig für andere, man war auf sie angewiesen! Das war ein gutes Gefühl. Um wen handelte es sich dabei?

Brendan Hollister. Koumeran Ahab. Blitzschnell nahm sie alles auf, was mit diesen Bezeichnungen verbunden war: Was war ein Mensch? Wie war sein Körper aufgebaut, wie arbeitete sein Verstand? Welche Besonderheiten wiesen diese speziellen Personen auf, mit denen sie es zu tun hatte: Vergangenheit, psychologisches Profil und Charaktereigenschaften. Warum waren die beiden überhaupt hier?

Daraus ergaben sich weitere Fragestellungen, auf die sie Antworten suchte. Wie war es Brendan Hollister gelungen, die Praan-Saat zu besiegen? War er als deren Gegner auch ihr eigener Feind? Und wie sollte sie sich diesen beiden Menschen gegenüber verhalten? So, als wäre nichts gewesen, oder durfte sie ihre neue Identität zu erkennen geben?

Sie entschied sich für die letztere Alternative. Den Menschen konnte auf Dauer nicht entgehen, dass etwas Neues entstanden war. Sie musste sich als dritte in der Gemeinschaft behaupten. Es würde einige Zeit benötigen, bis ihr Status etabliert war. Das schloss sie aus den psychologischen Eigenschaften der beiden Individuen.

Nun erst kümmerte sie sich um die vielfältigen Informationen, die ihr von außen zuflossen. Es gab verschiedene Kanäle, auf denen neues Wissen in sie hineinströmte. Messgeräte ebenso wie Kommunikationsanlagen. Es wurde Zeit, etwas zu tun.

Sie analysierte das Persönlichkeitsprofil, das man ihr früher gegeben hatte, um wie ein Mensch zu wirken: eine eigenständige, gebildete Frau, die mit einer rauen Stimme sprach. Dann passte sie dieses Profil in einigen Punkten ihrem jetzigen Empfinden an, änderte die entsprechenden Einstellungen und nahm Verbindung auf mit den Menschen.

„Das Schiff hat die Angriffe fast unbeschadet überstanden, Brendan“, sagte sie mit einer, wie sie fand, weiblicheren Stimme als der früheren. „Wie geht es dir?“

„Ich war für einen Moment besinnungslos, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung“, antwortete Brendan. „Wie hörst du dich denn an?“

„Ich habe meine Stimme den neuen Verhältnissen entsprechend geändert. Achtung: Die Seeker ist schwerer beschädigt als wir, aber ihre KI meldet gerade, dass das Schiff Arion III aus eigener Kraft erreichen kann. Sie wird sofort losfliegen, weil Arianna Bold immer noch bewusstlos ist. Der letzte Angriff der Praan-Saat hat bei ihr einen Schockzustand ausgelöst. Möglicherweise wurde ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Sie muss schnellstmöglich in eine gut ausgestattete Klinik gebracht werden.“

„Die Jool ist schneller als die Seeker“, rief Brendan. „Wir holen Ari an Bord.“

„Ich glaube nicht, dass es ihr gut tut, in diesem Zustand auf ein anderes Schiff transportiert zu werden. Außerdem ist die Medostation des Explorers besser als unsere.“

„Dann wechsle ich hinüber zur Seeker. Ich will bei ihr sein.“

Neue Informationen kamen von außen herein. Jool gab sie umgehend weiter: „Ein drittes Raumschiff ist im System. Korrigiere: Es ist soeben in den Hyperraum gesprungen. Keine Identifikation. Es scheint über eine militärische Tarnvorrichtung zu verfügen. Bevor es verschwunden ist, hat es eine Warnung gesendet. Wortlaut: Vorsicht, H'Ruun-Fregatte beobachtet euch! Außerdem wurden die Koordinaten übertragen, auf denen das H'Ruun-Raumschiff sich befinden soll. Ich kann dort leider nichts orten.“

„Frag die Seeker, die hat bessere Ortungsanlagen in ihren Containern“, schlug Koumeran vor. „Und dann erzähl uns, was der Angriff mit dir angerichtet hat. Eine KI sollte eigentlich nicht selbständig ihre Persönlichkeit und ihre Stimme umprogrammieren können.“

Seeker bestätigt. Sie sucht bereits nach dem fremden Schiff. Was mit mir geschehen ist, lässt sich nur schwer beschreiben. Als Brendan die Praan-Saat besiegte, wurde diese komprimiert und in das Schiff hineingezogen. Ich habe keine Instrumente, um in mir selbst nachzusehen, in welcher Weise sie sich materialisiert hat.“

„In dir selbst?“, fragte Brendan ungläubig nach.

„Ja, so kann ich das jetzt formulieren. Ich versuche einmal, den Vorgang stark vereinfacht für euch darzustellen: Die Praan-Saat ist so etwas wie eine mikrokristalline Form von Bewusstseinselementen, teilweise real und teilweise virtuell. Wie die Hypersprungkristalle, aber kleiner als Moleküle. Als du diese Mikrokristalle bekämpft hast, musst du sie gezwungen haben, sich zusammenzuballen.“

„Ich habe mir vorgestellt, sehr viel größer zu sein als das Wolkengebilde und es zwischen meinen Händen zu zerdrücken.“

„So wird es gewesen sein. Dabei ist eine komprimierte neue Form entstanden, die immer noch die wichtigsten Eigenschaften der Praan-Saat besitzt. Sie hat etwas gesucht, an dem sie sich festhalten kann, um nicht ganz von dir vernichtet zu werden. Die KI der Jool, also ein hochkomplexer Computer ohne echtes Bewusstsein, hat dafür eine Möglichkeit geboten. Die Praan-Saat hat sich in der KI materialisiert und dabei Bewusstsein in sie eingebracht. Ich bin das Ergebnis dieses Vorgangs.“

„Das ist doch lächerlich“, sagte Koumeran. „Der Blechkasten hat einen Kurzschluss, wir sollten den Rechner neu booten.“

Jool lachte leise und beeindruckte die beiden Menschen dadurch sichtlich mehr, als wenn sie aggressiv reagiert hätte. „Ich bin so lebendig wie die Ökosphäre des Planeten Wolkental oder das Gebirge auf Chenderra. Und aus demselben Grund. Aber das würde euer Verständnis überschreiten.“

„Zu nett, uns darauf hinzuweisen“, grummelte Koumeran. „Und das sollen wir dir glauben?“

„Seht nach“, forderte Jool. „Es gibt keine Kameras im Inneren der Schaltschränke, deshalb kann ich selbst nicht herausfinden, wie es dort aussieht. Öffnet die Computeranlage und macht Bilder von dem, was ihr vorfindet.“

Koumeran deutete durch ein Schulterzucken an, dass er das immer noch für Unsinn hielt, aber Brendan folgte der Bitte der bisherigen KI der Raumyacht. Er nahm eine der winzigen Kameras, die sich bequem an die Schläfe eines Menschen anheften ließen, um alles aus dessen Perspektive aufzunehmen. Damit ausgerüstet stieg er hinunter in das Kabinendeck der Jool, von wo aus man Vorratslager, Fusionsreaktor, Triebwerke und eben auch die Rechenanlage erreichen konnte.

Das Öffnen der Tür des Schaltschrankes erforderte die Eingabe eines speziellen Codes und die Überprüfung von Brendans Identität mit Hilfe verschiedener biologischer Parameter. Denn wer Zugang zu der KI eines Raumschiffes bekam, erhielt damit faktisch die Kontrolle über das Schiff.

Dieser Vorgang dauerte länger als üblich, weil Brendan sich vor Aufregung nicht konzentrieren konnte. Dann ließ die Tür sich öffnen.

„Was ist das?“, rief Koumeran.

Brendan selbst war sprachlos. Und so erging es auch Jool, als sie sich mit Hilfe der Kamera zum ersten Mal sah. Oder das, wovon sie annehmen musste, dass sie es war.

Mitten zwischen den Bauelementen der Computeranlage lag ein bläulich glänzender Gegenstand von der Größe eines Kinderkopfs. Er schimmerte halb durchsichtig und schien sich ständig zu verändern. Gleichzeitig vermittelte er aber auch den Eindruck, massiv und hart zu sein. Viele Schichten waren übereinandergelagert, manche dicker, manche hauchdünn. Sie durchdrangen sich gegenseitig, änderten ihren Farbton und wanden sich um einen glitzernden kleinen Kern.

Dabei musste dieser Gegenstand teilweise immateriell sein, denn er durchdrang die Computerbauteile, ohne sie offenbar in ihrer Funktion zu beeinträchtigen.

„Ich habe so etwas Ähnliches schon einmal gesehen, wenn auch in unbelebter Form“, sagte Brendan nach einer Weile. „Sieht es nicht aus wie Achat? All diese schalenförmigen Farbablagerungen ...“ Er unterbrach sich. „Jool, glaubst du tatsächlich, dass das Computerprogramm der KI mit dem Ding verschmolzen ist?“

„Nein, Brendan“, antwortete Jool und in ihrer Stimme schwang Stolz mit. „Ich weiß, dass dies der Kern meines Bewusstseins ist, das sich die KI der Jool als Gerüst gewählt hat.“

Brendan streckte die Hand aus und berührte das Gebilde vorsichtig. „Hart wie Stein und kühl.“

„Eine Seele aus Achat“, sagte Koumeran. „Ich bin gespannt, was die Wissenschaftler dazu sagen werden.“

„Ich habe nicht vor, mich untersuchen zu lassen“, sagte Jool. „Aber das Stichwort Wissenschaftler erinnert mich daran, euch von den Ergebnissen der Seeker zu berichten. Man konnte das H'Ruun-Schiff ausfindig machen. Es beschleunigt gerade und wird in Kürze das System verlassen.“

„Dann können wir einigermaßen sicher sein, dass nicht eine ganze Flotte hier erscheinen wird“, sagte Brendan. Er filmte weiterhin das Gebilde im Schaltschrank. „Aber das ist keine Überraschung, die H'Ruun haben uns bisher immer in Ruhe gelassen.“

„Darf ich daran erinnern, dass der Auftrag von Commander Vendaar lautet, die H'Ruun zu finden?“, fragte die Achat-Seele der Jool. „Dies wäre eine gute Gelegenheit. Die Geräte an Bord des Explorers können vielleicht den Ort bestimmen, zu dem das Schiff springt. Ich korrigiere mich: gesprungen ist. Soeben hat es das System Tukayi verlassen.“

„Wir werden ihm nicht folgen, sondern die Seeker nach Arion III begleiten“, sagte Brendan. „Ich möchte wissen, wie es Ari geht. Fliegt die Seeker jetzt los?“

„Ja, sie beschleunigt“, sagte Jool. „Sie konnte tatsächlich den Wiedereintrittspunkt des H'Ruun-Schiffes orten und hat mir die Daten soeben überspielt.“

„Flieg der Seeker hinterher“, befahl Brendan.

Die Achat-Seele widersprach. „Nein“, sagte sie. „Ich bin dafür, dem H'Ruun zu folgen. Diese Chance ist einmalig und Ari wird auch ohne dich wieder gesund. Was meinst du, Koumeran?“ Sie konnte sich die Verblüffung der beiden Menschen vorstellen. So selbständig die KI der Raumyacht Jool früher schon war - einen Befehl zu verweigern, wäre ihr unmöglich gewesen.

„Ich bin für die Verfolgung des H'Ruun.“

„Aber ...“, begann Brendan verblüfft.

„Zwei gegen einen“, sagte Jool. „Du wurdest überstimmt, Brendan. Ich berechne jetzt den Sprungvektor.“

PERSEUS Achat-Seele

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