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Teil I Einführung und Grundbegriffe 1 Einleitung und Übersicht 1.1 Motivation

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Texte sind vielschichtige Objekte. Lesen wir einen, so geschehen vielerlei Dinge mit uns: Unter anderem rufen wir die einzelnen Wörter oder Phraseme (Mehrworteinheiten) in unserem mentalen Lexikon ab; analysieren wir seine Sätze und ihre Bestandteile mit Hilfe unseres grammatischen Wissens; machen uns ein Bild von der Bedeutung der Sätze; stellen dazu Zusammenhänge zu anderen Sätzen her (z.B. beim Verstehen eines Pronomens); setzen auch die einzelnen Satzbedeutungen zueinander in Beziehung (z.B. beim Herstellen eines Kausalzusammenhangs, der nicht explizit ausgedrückt ist); stellen fest, „worum es geht“ und registrieren Themen-Wechsel an bestimmten Textstellen; nehmen den Stil des Textes wahr: auf welche Weise spricht die Autorin oder der Autor mit uns; identifizieren wir gelegentlich versteckte Präsuppositionen und interpretieren unscheinbare Andeutungen; erkennen wir (oder glauben zu erkennen), was man uns mit diesem Text wirklich sagen will, welchen Zweck der Text erfüllen soll. All dies und mehr geschieht sehr schnell und zur gleichen Zeit – der Text geht nicht wie ein Computerprogramm „Schritt für Schritt“ vor und serviert uns solcherlei Informationseinheiten und Verarbeitungsanweisungen in sauberer Reihenfolge, sondern lässt uns in hohem Maße parallel arbeiten, also rezipieren und konstruieren. Ein Blick auf die Etymologie des Wortes TextTextEtymologie, wie ihn etwa Mistrik (1973, S. 10) vornahm, verdeutlicht die Komplexität:

Das Verständnis dieses Begriffes wird uns durch den Rückgriff auf die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Verbums texo, texere und des lateinischen Substantivums textus erleichtert: texo, texere heißt weben, flechten, zusammenfügen, bauen; textus heißt Gewebe, Geflecht, Zusammenhang, Gefüge. Ein Text ist also ein kompaktes Ganzes, dessen Inneres auf eine bestimmte Weise geflochten, d.h. aus der Fügung sprachlicher Elemente entstanden ist. Er ist eine in sich geschlossene sprachliche Äußerung im allgemeinen Sinne.

Mistrik betont hier auch, dass bei aller Komplexität ein (guter) Text am Ende die verschiedenen Fäden wieder zusammen laufen lässt, den Eindruck der Abgeschlossenheit vermittelt. Nach der Lektüre kann der Leser mit der Autorin übereinstimmen oder nicht, kann feststellen, dass vielleicht einige inhaltliche Fragen offen geblieben sind; doch das Lese-Erlebnis als solches ist erfolgreich beendet, wenn sich das Gefühl einstellt, das Anliegen des Textes insgesamt verstanden zu haben.

Wie aber „funktioniert“ ein solch komplexes Lese-Erlebnis? Wie gelingt es dem Text, uns ein solches Erlebnis zu verschaffen? Aus linguistischer Sicht ist dies bislang nur in einzelnen Ansätzen verstanden. Es gibt relativ gut ausgearbeitete Modelle für bestimmte Aspekte (z.B., wie finden wir ein Antezedens für ein Personalpronomen), aber es gibt keine umfassende Erklärung für das Zusammenwirken der verschiedenen Teilaufgaben, die wir beim Lesen bearbeiten. Dass man sich für die Suche nach einer solchen Erklärung auf ganz unterschiedliche Beschreibungsebenen begeben muss, dürfte heute weitgehend unstrittig sein. Bereits im Modell von Grosz u. Sidner (1986) ist von drei verschiedenen Strukturen die Rede (die allerdings nicht gleichermaßen ausgearbeitet wurden): einer intentionalen, einer aufmerksamkeitssteuernden (attentional) und einer linguistischen Struktur. Ähnlich unterscheidet Nussbaumer (1991) eine funktional-illokutive Ebene (Handlungsstruktur), eine inhaltlich-propositionale Ebene, sowie eine sprachlich-ausdrucksseitige Ebene. Sehr reichhaltig ist das Programm der Untersuchung dieser Vielfalt in dem Band Ebenen der Textstruktur (Motsch, 1996) artikuliert. Auch Brinker (2005) betont, dass künftige Forschung die einzelnen Ebenen zunächst isolieren und dann systematisch miteinander verbinden müsse. Allein fehlt bis heute eine Theorie, die auf der Grundlage sorgfältig ausgearbeiteter Einzelebenen dann genau das Zusammenwirken dieser Ebenen erklären könnte. Dieses Ziel wurde vor einiger Zeit bereits sehr eingängig von Brandt u. Rosengren (1992, S. 9, Hervorh. durch MS) formuliert:

Einigkeit besteht heute darüber, dass Texte multidimensionale Gebilde sind (…) In (Motsch 1990a) liegt ein Versuch vor, die einzelnen Ebenen zu identifizieren. Diese kurze Übersicht zeigt, dass die vielen theoretischen Ansätze, die oft neben- und unabhängig voneinander konzipiert wurden und häufig auch nur einen Aspekt des Textes beleuchten, in einem generellen Modell zueinander in Bezug gesetzt und an authentischem Material überprüft werden müssen. Ein solches Modell kann nicht auf Anhieb ausgearbeitet werden.

Auch heute ist dieses Modell noch nicht in Sicht; bei der Feststellung, dass es „nicht auf Anhieb“ entwickelt werden kann, dürfte es sich mithin um eine milde Formulierung handeln. Eine andere Untersuchung, die sich ebenfalls diesem Ziel verschreibt, ist die von Schröder (2003), der formuliert (S. 1, Hervorh. im Original):

Entscheidend ist, dass die multidimensionale Textstruktur als ein Zusammenspiel aus verschiedenartigen Ebenen begriffen wird. Daraus folgt, dass die unterschiedlichen Ebenen der Textstrukturierung nicht nur getrennt und sozusagen ‚nebeneinander‘ existieren, sondern dass sie sich gegenseitig auch beeinflussen und untereinander in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeiten stehen.

Für Schröder steht dann speziell die Handlungsstruktur im Mittelpunkt der Betrachtung, während es uns hier darum geht, nicht eine bestimmte Ebene vertieft zu behandeln, sondern mehrere Ebenen gleichermaßen zur Sprache zu bringen, und die Aufmerksamkeit auf die besagten wechselseitigen Abhängigkeiten zu richten. Um einen Beitrag zu dem eher langfristigen Ziel der Modellierung des Zusammenwirkens zu leisten, schlagen wir zwei, ihrerseits miteinander verwobene, Wege ein:

 Wir versuchen, für eine Reihe interessanter Beschreibungsebenen den jeweiligen „Stand der Kunst“ darzustellen, also Material zusammen zu tragen, das für die Ebene grundlegend ist und auf dessen Basis die Entwicklung präziserer Modelle möglich sein sollte.

 Wir betonen die wichtige Rolle von Daten als Grundlage der Erkenntnissuche und der Theoriebildung. Für die Untersuchung des linguistischen Objekts Satz sind Korpora und insbesondere mit syntaktischer Information angereicherte (sog. ‚annotierte‘) Daten in Gestalt von ‚Baumbanken‘ heute bereits zu einer sehr wichtigen Informationsquelle für viele Syntaktiker geworden. Für den Text ist dieser Perspektivenwechsel bisher – zumindest was die Arbeit mit annotierten Daten betrifft – noch weniger vorangeschritten.

So wie bestimmte Satz-Baumbanken für Computerlinguisten, aber auch für weniger Computer-orientierte Syntaktiker, die gemeinsame Datenbasis darstellen, anhand derer Hypothesen geprüft, weiterentwickelt und miteinander verglichen werden können, kann auch die Untersuchung von Texten erheblich von annotierten Korpora profitieren, anhand derer sich Phänomene aufzeigen lassen, die dann eben auch von Dritten nachvollzogen und weiter intepretiert werden können. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Annotationen einerseits nachvollziehbar und andererseits nützlich sind. Für die Textanalyse bedeutet das – und damit schließt sich unser Kreis – gut motivierte, voneinander getrennte Analyse-Ebenen, die einerseits in sich selbst schlüssig begründet sein müssen und andererseits dann das Auffinden von Korrelationen zwischen diesen Ebenen ermöglichen. Wenn, wie von den oben zitierten (und weiteren) Autoren richtigerweise betont, das Wechselspiel zwischen verschiedenen Ebenen letztlich die TextualitätTextualität hervorbringt, dann setzt eine systematische Untersuchung dieser Phänomene eine geeignete Datengrundlage voraus: Texte, die gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen annotiert sind. Dass die Arbeit mit solchen Text-Daten heute möglich ist, verdanken wir den korpus- und computerlinguistischen Entwicklungen der letzten Jahre. Die technische Seite wird in diesem Buch öfters zur Sprache kommen, sie ist aber auch kein zwingender Bestandteil der Lektüre: Die zentrale Diskussion der einzelnen Beschreibungsebenen wird rein inhaltlicher Natur sein.

Unser Untersuchungsgegenstand sind allein geschriebene Texte, und wir treffen hier auch die oft übliche Einschränkung auf sog. Gebrauchstexte. Um dem komplexen „Funktionieren“ von Texten auf die Spur zu kommen, sollte man einerseits mit „richtigen“ Texten arbeiten und nicht allein mit handgefertigten Beispielen, andererseits aber die Komplexität auch begrenzen: Wie etwa Dichtung oder spielerische Werbetexte funktionieren, werden wir hier nicht untersuchen. Sämtliche multimedialen Aspekte bleiben ebenfalls von der Betrachtung ausgeschlossen. Bedingt durch das unseren eigenen Untersuchungen meist zugrunde liegende Korpus, das Potsdamer KommentarkorpusPotsdamer Kommentarkorpus, gibt es darüber hinaus einen gewissen Schwerpunkt auf Phänomenen in argumentativen Texten; doch die meisten Kapitel und Abschnitte sind unabhängig von dieser Wahl und gleichermaßen für andere Texttypen gültig.

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