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Donnerstag, 13. April

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Es war schon lange hell, als ich vom Lärm der Mopeds auf der Straße wach wurde und mich stöhnend und geblendet von dem Streifen Sonnenlicht, der die Wand beschien, erhob. Mit trockenem Mund und pochenden Kopfschmerzen griff ich nach der Wasserflasche, trank gierig und spülte auch gleich zwei Tabletten Aspirin hinunter. Anschließend stellte ich mich in die gemauerte Duschkabine und ließ den harten, kühlen Wasserstrahl, der direkt aus einem Leitungsrohr von der Decke schoss, einige Minuten auf Kopf und Nacken prasseln. Um eine weitere Verbesserung meines Zustandes herbeizuführen, brauchte ich jetzt noch einen ordentlichen Kaffee. Einen solchen auf den Philippinen zu bekommen, müssen Sie wissen, ist praktisch unmöglich. Filterkaffee ist gänzlich unbekannt, und in Restaurants kriegt man bestenfalls ein Glas lauwarmes, abgestandenes Wasser aus einer Thermoskanne und dazu ein winziges Tütchen minderwertigen Löskaffees, der das Wasser ein wenig braun färbt. Nicht das, was ich morgens brauche, und deshalb habe ich das Nötigste immer dabei: einen kleinen Reisetauchsieder mit passendem Adapter, eine Blechtasse, in der das Wasser direkt erhitzt wird sowie ein Glas Löskaffee von vernünftiger Qualität aus Deutschland. Den Blechlöffel zum umrühren lasse ich immer im Flieger mitgehen.

Ich nippte an dem so zubereiteten heißen, bitteren Gebräu, zündete mir eine Zigarette an und begann, mich mit dem Tag anzufreunden. Mein Programm sah eine zwanglose Besichtigung der Gegend vor. „Das gesamte, eindrucksvolle Panorama der Reisterrassen erschließt sich dem Besucher vom Viewpoint aus. Dieser Aussichtspunkt befindet sich am Ende des Tales etwa zwei Kilometer außerhalb des Ortes und ist zu Fuß bequem erreichbar“, stand in meinem Reiseführer. Motiviert durch das Wort „bequem“, schlüpfte ich in eine halblange Outdoorhose, T-Shirt, Socken und Trekkingsandalen, nahm meinen Rucksack auf und verließ den Raum.

Als ich um die erste Ecke bog, befiel mich ein kurzes Unbehagen. Der flache Betonbau mit den vergitterten Fenstern war eine Polizeistation. Okay. Gab es hier also auch. Gut zu wissen. Den Blick nach vorne gerichtet, lief ich zügig daran vorbei.

Bereits nach wenigen hundert Metern auf der befestigten, bergauf führenden Straße lief mir in der prallen Tropensonne der Schweiß von der Stirn. Ich setzte meinen Rucksack ab und stellte fest, dass ich vergessen hatte, die Wasserflasche mitzunehmen. Verdammter Mist. Ich blickte die Straße hinunter. Jetzt noch mal zurückgehen, sie zu holen und mich in einer viertel Stunde wieder genau an dieser Stelle zu befinden, ohne dem Ziel einen einzigen Schritt näher gekommen zu sein, war eine frustrierende Vorstellung. Ich beschloss, weiterzugehen.

Die letzten Häuser des Ortes lagen schon ein gutes Stück hinter mir, als ich zum ersten Mal innehielt, um die Gegend auf mich wirken zu lassen. Vom Deich eines Reisfeldes aus ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen. Bis auf wenige, meist sehr steile Bereiche mit Bäumen oder Gebüsch wurden Hänge und Einschnitte des Tals vollständig von den aus Lehm errichteten Terrassen eingenommen. In Form und Größe dem Relief angepasst, wirkten sie fast wie eine natürlich entstandene, geologische Stufenlandschaft, durchsetzt vom leuchtenden Grün der Reispflanzen. Die Kuppen der umgebenden Hügel waren von Wald bedeckt. Wirklich eindrucksvoll.

Schließlich wandte ich mich von dieser Kulisse ab und betrachtete das Feld neben mir. Der Reis war fast einen halben Meter hoch, hatte aber noch keine Rispen ausgebildet, und war stellenweise viel dichter gepflanzt als in der Regel üblich. In diesem Punkt nahm man es hier wohl nicht so genau. Zwischen den gut entwickelten Pflanzen fanden sich gleichmäßig verteilt auch zahlreiche strohige, ausgebleichte Sprosse. Das war Zikadenbrand, diagnostizierte ich dieses Schadbild. Es wird von winzigen Reiszikaden verursacht, die die Pflanzen anstechen, an ihnen saugen und sie bei hoher Befallsdichte zum Absterben bringen. Ein häufiges Problem im Reisanbau, wusste ich.

Ich setzte meinen Weg auf der Straße fort und fühlte mich zunehmend schlecht. Die Kopfschmerzen kehrten zurück, mir war flau im Magen und etwas schwindelig. Ich hätte besser doch noch die blöde Wasserflasche holen sollen. Aber jetzt war es nicht mehr weit und ich hoffte, dort oben etwas zu trinken und Obst, vielleicht Bananen oder eine Papaya, zu bekommen, um meinen Elektrolythaushalt wieder in Ordnung zu bringen.

Hinter der nächsten Wegbiegung erblickte ich eine alte Frau, die tief gebückt in einem Reisfeld arbeitete. Sie war mit einem traditionellen, rot-schwarz gestreiften Wickelrock und einer blauen Jacke bekleidet und trug einen Strohhut. Als ich näher kam und sah, was sie machte, stutzte ich. Sie war offensichtlich dabei, die ganzen Reissetzlinge wieder herauszureißen. Ein Teil des Feldes war bereits ausgeräumt. Sie bemerkte mich und meinen erstaunten Blick, richtete sich soweit auf, wie es nach Jahrzehnten Arbeit in den Reisfeldern eben noch ging, und kam mir durch das trübe, braune Wasser entgegen.

„Alles Unkraut!“ rief sie und warf das Büschel Reispflänzchen, das sie mir in einer Hand entgegenstreckte, in hohem Bogen auf den Haufen am Rand des Feldes, der bereits von ihrem Tun zeugte.

„Entschuldigung?“

„Schlechte Pflanze! Nicht gut!“ erklärte sie in gebrochenem Englisch und sah mich erwartungsvoll lächelnd an. Sie hatte nur noch wenige Zähne.

„Ach so, ja. Danke!“ erwiderte ich irritiert und sah zu, dass ich weiter kam. Auch hier blieb man von Demenz eben nicht verschont. – Ob die zu Hause wissen, was ihre senile Oma hier gerade veranstaltet? Die Reisernte fällt bei denen dieses Jahr jedenfalls aus, soviel war sicher. Aber das ist ja nun wirklich nicht mein Problem, winkte ich innerlich ab, nachdem ich die spontane Idee, irgendjemanden darüber zu informieren, wieder verworfen hatte. Es würde wohl zu weit führen, sich als Americano in die privaten Angelegenheiten einer hiesigen Bauernfamilie einzumischen.

Ich war fast am Ziel. Beiderseits der Straße standen jetzt wieder Häuser, in manchen befanden sich kleine Souvenirläden.

„Manuel!“

Ach sieh mal einer an. Die Miss Mendoza. Von der anderen Straßenseite aus, wo sie auf einem niedrigen Holzschemel saß, winkte sie mir zu. Sie hatte Jeans und ein weißes T-Shirt an, und statt ihrer roten Schuhe trug sie nun die landesüblichen Tsinelas, die außerhalb der Philippinen als Flip-Flops bekannt sind. Schräg gegenüber von ihr saß ein älterer Mann auf der Treppe zu einem Hauseingang. Ich entschied mich, keine Emotionen zu zeigen, hob kurz die Hand und ging weiter. „Hi!“ war alles, was ich sagte.

Ich hatte gerade den größten Durst mit einer sogar kalten Cola gelöscht und stand an der Umrandung der betonierten Aussichtsplattform. Das Panorama war in der Tat beeindruckend, aber ich nahm es kaum wahr. Gedanklich machte ich an meinem Verhalten gegenüber Kitty herum. Es war vielleicht doch falsch gewesen, sich so abweisend zu geben. Eine kindische Trotzreaktion. Sie schien sich jedenfalls gefreut zu haben, mich zu sehen. Aber eigentlich konnte sie von mir auch nichts anderes erwarten, nach ihrem Abgang gestern Abend. Da konnte ich nicht so tun, als wäre nichts gewesen. – Oder sollte ich jetzt doch umkehren, in der Hoffnung, dass sie noch dort war, und dann einlenken?

Plötzlich spürte ich eine Hand an meiner Schulter und zuckte zusammen.

„Hallo Manuel“, sagte Kitty.

Ich drehte mich um, holte tief Luft und sagte nichts. Ich erwartete eine Erklärung, aber Kitty sah mich nur an. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, genau wie Irmtraud immer. In ihrem Blick lag eine Spur von Besorgnis. Ich weiß, dachte ich. Ich seh` scheiße aus, weil ich gestern zu viel gesoffen habe und rasiert bin ich auch nicht.

„Manuel, hör mal ...“, begann sie schließlich. Oje, jetzt kommt’s, schwante es mir. Sie ist glücklich verheiratet, hat zwei Kinder, und das dritte ist seit kurzem unterwegs. Unbewusst richtete ich meinen Blick auf ihren perfekt flachen Bauch.

„ ... ich würde gerne mit dir über etwas reden.“

Ich nickte ahnungsvoll. „Wegen gestern.“

„Gestern?“ Kitty schaute fragend. „Nein, etwas das ich heute Morgen erfahren habe.“

„Na dann ist es ja gut, dass wir uns zufällig nochmal getroffen haben“, erwiderte ich in beleidigtem Ton.

„Manuel. Glaubst du, ich hätte nicht herausgefunden, wo du untergekommen bist? Ich hätte mich auf jeden Fall auch noch von dir verabschiedet.“

Verabschiedet? – Na toll.

„Aha. Und was möchtest du jetzt mit mir besprechen?“ Neugierig geworden, beschloss ich, meine aufgekeimte Missstimmung zu unterdrücken.

Einige lärmende Kinder bevölkerten inzwischen die Plattform und versuchten, durch Kaspereien meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ein besonders vorwitziger Bengel zupfte an einer Schlaufe meines Rucksacks. Ich drehte mich abrupt um, riss die Hände hoch und mimte ein Monster, worauf die ganze Bande kreischend und lachend zurückwich.

„Lass uns woanders hingehen“, entschied Kitty. „Da lang.“

Sie ging voraus und folgte einem schmalen Pfad, der hinunter zu den Reisterrassen führte. Sicheren Schrittes bewegte sie sich in ihren Tsinelas über die schmalen Lehmdeiche der Felder. An einer Stelle, die vom Aussichtspunkt aus nicht einsehbar war, blieb sie stehen und nahm ihre Segeltuchtasche von der Schulter. Ich ließ meinen Blick über ihren Körper gleiten und war auf Enthüllungen aller Art gefasst.

Mit einer ausschweifenden Handbewegung richtete Kitty meine Aufmerksamkeit auf das Tal. „Das meiste, was du hier siehst, ist kein Reis. Jedenfalls keiner, den die Bauern gepflanzt haben.“

„Wie bitte? Was denn sonst?“ Ich warf Kitty einen kritischen Blick zu. Was redete die da für ein Zeug?

„Das ist die große Frage. Es scheint irgendein Unkraut zu sein, das die Felder zuwuchert.“

„Die Felder zuwuchert, wie meinst du das?“, fragte ich vorsichtig.

„Es ist eine Art Gras, das sich überall in den Feldern ausgebreitet hat. Wenn es erscheint, wird der gepflanzte Reis nach kurzer Zeit gelb und stirbt ab. Das aufkeimende Gras sieht den Reissetzlingen zum verwechseln ähnlich, weshalb man es auch nicht so einfach herauszureißen kann. Abgesehen davon ist es dann für den Reis ohnehin schon zu spät. Die Bauern sind deshalb ziemlich verzweifelt. Manche versuchen jetzt, ihre Felder komplett zu jäten und nochmal ganz neu zu bepflanzen. Ob das was bringt, ist fraglich.“

Dann war die Reisfeld-Oma also doch nicht verrückt, dämmerte es mir. Und Kitty vermutlich auch nicht.

„Seit wann ist das schon so?“

„Das hat wohl letztes Jahr bereits angefangen. Allerdings waren da noch wenige Felder betroffen, und nur im unteren Teil des Tales. In der Brachezeit hat sich die Pflanze dann aber stark vermehrt und kommt jetzt fast überall vor.“

„Und jetzt willst du von mir wissen, ob ich eine Erklärung für das Ganze habe und ob man was dagegen tun kann.“

„Genau. Du bist doch Biologe und kennst dich mit solchen Sachen aus. Vielleicht weißt du ja, was hier los ist.“

Ich fühlte mich etwas schwach auf den Beinen und setzte mich auf die Deichkante. Kitty tat es mir gleich. „Also, zunächst mal“, begann ich nach kurzem Überlegen, „von einem Fall wie diesem habe ich noch nie etwas gehört. Natürlich gibt es in Reisfeldern, wie in anderen Feldern auch, eine ganze Reihe von Unkräutern, die allerdings kaum jemals so aggressiv sind. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es sich in diesem Fall um eine invasive Art handelt, also ein neu eingeschlepptes Unkraut aus einer anderen Region, das hier besonders günstige Existenzbedingungen vorfindet. Sowas kommt immer wieder vor. Zum Beispiel auch die Wasserhyazinthe. Die stammt ursprünglich aus Südamerika und wurde nach Südostasien eingeschleppt. Jetzt wuchert sie hier überall auf den Flüssen und Seen.“ Ich nickte vor mich hin. Diese Erklärung erschien mir schlüssig. „Aber das ist nur eine erste Vermutung“, stellte ich klar. „Ich würde mir das alles gerne noch genauer ansehen.“ Mein wissenschaftliches Interesse war geweckt.

„Das habe ich gehofft! Ich schlage vor, wir besuchen Joel. Er ist ein Bekannter von mir, bei dem ich heute Morgen schon war. Er hat mir das alles erzählt und kann sicher noch mehr dazu sagen.“

Als ich mich erhob, wurde mir schwarz mit roten Punkten vor Augen. Einen Moment lang hatte ich Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten.

„Da geht’s lang.“ Kitty zeigte auf die mehrere Meter hohen, senkrecht abfallenden Lehmterrassen, die vor uns lagen. „Ich hoffe, du bist schwindelfrei.“

Nach etwa zwanzigminütigem Balanceakt auf den Deichen näherten wir uns einer kleinen Siedlung im Tal nahe dem Fluss. Zwischen Mangobäumen, Betelpalmen und Bananenstauden waren die pyramidenförmigen Dächer der kleinen, auf vier hohen Holzpfählen errichteten traditionellen Ifugaohäuser erkennbar. Die meisten Dächer waren aus Wellblech, aber es gab auch noch welche aus dem einst üblichen Schilfgras.

„Kitty, warte mal. Du solltest bei Joel bitte nicht den Eindruck erwecken, dass ich hier der große Experte bin. Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken.“

„Keine Sorge. Lass mich nur machen“, erwiderte sie und drückte kurz ihre Schulter an mich.

Joel saß vor einem offenen Schuppen und bearbeitete einen mit einem Haumesser, landläufig Bolo genannt, einen Baumstamm. Ich schätzte sein Alter auf mindestens Fünfzig. Er trug ein ausgewaschenes, gelbes T-Shirt mit der Aufschrift ‚Bayer CropScience’ und dem Logo der Firma, eine kurze Sporthose und Tsinelas.

„Hallo Joel. Ich möchte dir Manuel aus Deutschland vorstellen. Er ist Biologe und interessiert sich für das Problem mit dem Unkraut.“

Joel hatte sich erhoben und begrüßte mich mit ausholendem Handschlag.

„Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte er aufgeräumt.

„Sind sie Bildhauer?“, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen und weil mir die archaisch anmutenden Holzskulpturen unter dem Haus neben der Werkstatt aufgefallen waren.

„Das ist mehr ein Hobby“, sagte Joel bescheiden.

„Joel ist Künstler. Er hatte auch schon Ausstellungen in Japan und Australien“, stellte Kitty klar.

„Ich orientiere mich an Figuren, die in der Religion und der Kultur der Ifugao Bedeutung haben und schon früher aus Holz gefertigt wurden“, erläuterte Joel, „wie zum Beispiel die Bulul, das sind die Reisgötter.“ Er zeigte auf eine Gruppe großer, menschenähnlicher Figuren in hockender Haltung. Ich fand sie sehr beeindruckend.

„Man könnte tatsächlich glauben, dass die derzeitige Situation eine Strafe der Reisgötter ist – dafür, dass sie sich nicht mehr gewürdigt fühlen, weil der traditionelle Reisanbau zunehmend an Bedeutung verliert“, sinnierte Joel. „Aber bevor wir darüber reden, essen wir erst mal was. Meine Frau hat einen Topf Süßkartoffeln auf dem Feuer, die dürften jetzt so weit sein. Kitty, besorgst du bitte mal die Teller?“ Sie nahm das Bolo, das ihr Joel hinhielt. Beide entfernten sich und ich sah mir in der Zwischenzeit die Kunstwerke genauer an.

„Setz dich, Manuel!“, rief Kitty. Auf dem Holztisch unter dem Haus stand ein Bambuskorb mit dampfenden Knollen, und an jedem Platz lag ein Stück des Bananenblattes, das Kitty besorgt hatte.

„Hier ist frisches Quellwasser.“ Joel brachte noch eine Plastikflasche und Gläser. Ich schnitt eine Süßkartoffel in Scheiben und bestreute sie mit Salz. Sie hatte einen köstlichen, unerwartet aromatischen Geschmack. Ich fühlte sich auf einmal sehr wohl und empfand sogar einen kleinen Moment des Glücks.

„Diese Süßkartoffeln sind eine alte Sorte und typisch für diese Region. Wahrscheinlich gibt es die woanders gar nicht“ erklärte Joel auf mein Lob des einfachen Mahles hin. „Früher waren sie hier das Grundnahrungsmittel der Familien, die keine oder nur kleine Reisfelder besaßen. Auch heute gelten sie noch als Arme-Leute-Essen und werden hauptsächlich als Schweinefutter verwendet. – Meine Frau hat übrigens gerade erzählt, dass sie dieses neue Unkraut auch in einem Süßkartoffelfeld entdeckt hat. Die frisch gepflanzten Setzlinge sind schon alle kaputtgegangen.“

„Weiß denn hier jemand etwas genaueres über diese Pflanze? Ist die neu hier oder gab es sie auch schon früher?“ griff ich das Thema auf.

Joel nickte. „Ich habe mich bei einigen alten Frauen erkundigt, die noch über ein großes traditionelles Wissen verfügen. Aber sie kannten die Pflanze nicht. Ein alter Ifugao-Priester hat jedoch behauptet, dass es sie hier früher einmal gab, allerdings ziemlich selten. Er bezeichnete sie als ‚wilden Reis’. An eine Situation wie diese kann aber auch er sich nicht erinnern. So etwas gab es demnach zumindest in den letzten sechzig Jahren noch nie.“

Ich dachte nach. „Mit solchen Pflanzen kenne ich mich leider nicht gut aus“, gestand ich ein, „aber ‚wilder Reis’ könnte alles mögliche sein. Vielleicht ist es wirklich eine Urform der kultivierten Sorten. Es kommen aber auch Arten in Frage, die mit den heutigen Züchtungen verwandt sind, oder andere Gräser, die den Reispflanzen ähnlich sehen. Es gibt ja zum Beispiel auch diesen so genannten Wildreis aus Nordamerika mit den langen, schwarzen Körnern. Das ist aber eine Grasart, die botanisch mit dem Reis hier nichts zu tun hat, sondern zu einer ganz anderen Gattung zählt.“

„Wir können uns das ja alles mal ansehen. Ich habe dort hinten ein paar Reisfelder.“ Joel deutete mit dem Kinn in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Gleich um die Ecke.“

Nach einem kurzen Stück auf dem ebenen Fußweg im Tal schlugen wir einen steilen Pfad ein, der zwischen hohem Schilfgras zu den ersten Reisterrassen hinaufführte. Über Deiche und mit Trittsteinen befestigten Stufen in den Lehmwänden der Terrassen ging es weiter nach oben, bis Joel vor einem kleinen Feld stehen blieb. „Hier ist soweit nichts ungewöhnlich“, erklärte er, als Kitty und ich neben ihm standen. „Das ist alles gepflanzter Reis, der sich auch normal entwickelt.“

„Und warum kann es nicht auch dieses Gras sein?“ fragte ich nach.

„Weil wir dieses Feld genau beobachten und auch selbst bepflanzt haben.“

„Und wann war das?“

„Anfang März, vor fünf Wochen, wie alle Felder hier. Das ist jedes Jahr so. Die Ernte ist dann im Juli. Normalerweise. Dann kommt die Brachezeit, in der es in dieser Höhenlage für den Reisanbau zu kühl ist. Zumindest für die traditionellen Sorten. Im Januar werden dann die Saatbeete angelegt, in denen die Setzlinge für die neue Saison heranwachsen, bevor man sie in die Felder auspflanzt. So läuft das hier schon seit 2000 Jahren.“

Joel führte uns zu einem anderen Feld. „Und so sieht dieses Unkraut aus“, zeigte er. „Kurz nachdem der Reis gepflanzt wurde, ist es hier erschienen.“ Es war die Situation, die mir schon auf dem Weg zum Aussichtspunkt aufgefallen war: Ein dichter, saftig grüner Bestand, der aussah wie Reis, und dazwischen einzelne strohige, abgestorbene Pflanzen, von denen Joel eine herauszog und uns zeigte.

„Das ist der gepflanzten Reis“, erklärte er, „oder das, was davon übrig ist.“

„Gibt es irgendwo auch ausgewachsene Exemplare von diesem komischen Unkraut?“, wollte ich wissen.

„Oh ja. Sie stehen in den Feldern, in denen dieses Jahr kein Reis angebaut wurde. Ein Stück weiter oben ist so eins.“ Joel zuckte mit dem Kopf als Zeichen, ihm zu folgen.

„Wahnsinn!“ entfuhr es mir angesichts des wilden Dickichts, von dem das gesamte, vor uns liegende Feld eingenommen wurde. Der Bestand erreichte eine Höhe von etwa eineinhalb Metern. Die Triebe und Ausläufer mit den langen, schmalen Blättern wucherten in alle Richtungen und bedeckten auch den Deich der Terrasse.

„So sah es gegen Ende der Brachezeit in den meisten Feldern aus“, kommentierte Joel.

„Und wie war das vorher, in den früheren Jahren?“ Ich schüttelte immer noch staunend den Kopf.

„Da man die Felder in der Brachezeit sich selbst überlässt, sprießen da natürlich auch alle möglichen Wildgräser und Kräuter. Aber das ist kein Problem, im Gegenteil. Die werden dann einfach von Hand in den weichen Schlammboden gedrückt und dienen als Gründünger für den Reis, der dann gesetzt wird.“

„Und die Bauern haben sich nicht gewundert, dass diesmal nur diese Pflanze hochkommt, und dann noch in diesem Ausmaß?“

„Gewundert schon. Aber Sorgen hat sich deshalb noch niemand gemacht. Man hat es auf die ungewöhnliche Trockenheit im letzten halben Jahr zurückgeführt. Normalerweise ist es in der Brachezeit feucht und kühl, aber diesmal hat es kaum geregnet. Vielleicht der Klimawandel. Dadurch sind viele Felder zeitweise auch völlig ausgetrocknet, was sonst auch nicht passiert. Es waren einfach andere Bedingungen als sonst.“

„... die für diesen vermeintlichen Wildreis günstiger waren als für die Arten, die nur im Wasser wachsen können“, folgerte ich. „Ja, das ist durchaus denkbar.“ Ich griff mit beiden Armen in das Gestrüpp, zerrte es auseinander und versuchte, eine der Pflanzen, die bereits Rispen trugen, herauszulösen. Die messerscharfen Blattränder schnitten mir in die Haut. „Das ist ja wirklich ein verdammt übles Zeug!“, fluchte ich, nachdem es mir lediglich gelungen war, ein längeres Stück Spross abzureißen. „Es hat aber tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Reis.“ Ich hielt eine reife Rispe in die Höhe. „Der Fruchtstand ist allerdings nicht so kompakt.“ Mit den Fingernägeln puhlte ich einen der Samen aus seiner Hülle und präsentierte ihn in der offenen Hand. „So sehen die aus. Klein und rotbraun. Nicht so länglich wie Reiskörner, und nur halb so groß.“

„Und? Hast du eine Ahnung was das sein könnte?“ fragte Kitty.

Ich zuckte die Achseln. „Vielleicht eine Art aus der Gattung Oryza, also nahe verwandt mit Oryza sativa, dem kultivierten Reis. Von solchen Arten gibt es in Asien mehrere. Aber wie gesagt, ich bin da kein Spezialist. Es könnte auch etwas ganz anderes sein.“

„Ja, das war leider bisher nicht in Erfahrung zu bringen.“ Joel machte eine bedauernde Geste. „Die Bauern hier kennen natürlich die wissenschaftlichen Namen der Pflanzen nicht und haben ihre eigenen Bezeichnungen. Auch Mister Butzmann konnte uns da nicht weiterhelfen.“

„Butzmann?“ Ich spitzte die Ohren.

„Ja, auch ein Deutscher. Er ist landwirtschaftlicher Berater und hat dort unten“ – Joel zeigte das Tal hinab – „eine Versuchsfarm. Kennst Du ihn zufällig?“

Überleg dir genau, was du jetzt sagst, mahnte ich mich. Es zu leugnen wäre unklug, denn Butzmann kannte mich ja schließlich auch. Ich könnte sonst womöglich in eine peinliche Situation geraten. Also besser bei der Wahrheit bleiben. – Aber ich könnte zumindest so tun, als wäre mir neu, dass er sich hier aufhält. Dann würde jedenfalls niemand auf die Idee kommen, dass ich wegen Butzmann hergekommen war. Also erst mal den Überraschten spielen.

„Ach, der ist hier? Er war sogar an derselben Universität wie ich. Das ist ja wirklich ein Zufall! Na, dann werde ich ihn doch mal besuchen. – Wo ist das denn genau, seine Farm?“

„Das ist leicht zu finden. Du gehst auf der Straße Richtung Mayoyao, und so etwa 300 Meter hinter dem Ortsende von Banaue liegt linker Hand sein Haus. Es ist das einzige weit und breit, du kannst es nicht verfehlen.“

Ich hatte fürs erste genug erfahren und wollte jetzt lieber wieder das Thema wechseln.

„Also, fassen wir doch mal zusammen, was wir jetzt über die ganze Sache hier wissen. Punkt eins: Wenn der alte Priester recht hat, ist es keine Pflanzenart, die hier neu aufgetaucht ist. Sie kam früher schon mal hier vor, ist aber inzwischen wieder verschwunden. Somit ist meine ursprüngliche Vermutung, dass es sich um ein neu eingeschlepptes Unkraut handelt, vielleicht nicht zutreffend, aber ausschließen können wir es im Moment auch nicht. Punkt zwei: Seit etwa einem Jahr vermehrt sich die Pflanze praktisch ungehemmt und breitet sich vor allem in den Reisfeldern aus.“

„Und sie bringt die Reispflanzen zum Absterben“, ergänzte Joel.

„Davon bin ich allerdings nicht überzeugt“, wagte ich zu erwidern. „Das ist kein Effekt, der normalerweise von Unkräutern verursacht wird. Jedenfalls nicht direkt. Die Unkräuter stehen mit den Reispflanzen in Konkurrenz um Nährstoffe, wodurch der Reis zwar schlechter wächst und einen geringeren Ertrag liefert, aber deshalb in aller Regel nicht eingeht.“

„Aber was kann denn sonst der Grund dafür sein?“ fragte Kitty.

„Ich bin mir sicher, dass es Schädlinge waren, und zwar Reiszikaden. Strohige, abgestorbene Reispflanzen sind das typische Symptom des so genannten Zikadenbrandes“, dozierte ich. „Es ist allerdings denkbar, dass das Unkraut indirekt dazu beigetragen hat. Wenn der Reis nicht unter optimalen Bedingungen wächst, was zum Beispiel bei Nährstoffkonkurrenz der Fall ist, kann er auch anfälliger gegen Schädlinge sein.“

„Aber wir wissen jetzt immer noch nicht, um welche Pflanzenart es sich handelt“, warf Joel ein. „Dafür bräuchten wir einen Experten.“

„Ich kenne jemanden, der uns vielleicht weiterhelfen könnte“, meldete sich Kitty, „Der Freund einer Bekannten von mir, ein Norweger, arbeitet am IRRI, dem Internationalen Reisforschungsinstitut. Das ist in Los Banos, in der Nähe von Manila.“

„Weiß ich“, warf ich ein. „Können wir den irgendwie erreichen, von hier aus?“

„Die Telefonnummer meiner Bekannten habe ich hier, kein Problem. Hast du ein Handy?“

„Moment“, sagte ich und nahm meinen Rucksack ab.

Kitty setzte sich auf den Boden und blätterte in dem Notizbuch, das sie aus ihrer Umhängetasche gezogen hatte. Ich schaltete mein Handy ein und reichte es Kitty.

Als die Verbindung stand, plapperte sie ohne Punkt und Komma, kicherte manchmal und unterbrach ihren Redeschwall nur für wenige Sekunden, in denen sie eine Zahlenreihe notierte. Dann beendete sie das Gespräch, gab mir das Handy zurück hielt mir ihren Aufschrieb hin.

„Hier. Die Nummer seines Büros am IRRI. Er heißt Erik. Mit Nachnamen Evensen.“

Ich drückte die Tasten und hatte ihn sofort am Apparat. Ich stellte mich kurz vor und erklärte ohne Umschweife, worum es ging. Mein Gesprächspartner hörte sich sympathisch an, war schnell von Begriff und an der Sache sogleich interessiert.

„Er meinte, es sollte kein Problem sein, die Pflanze zu identifizieren. So spontan konnte er sich aber auch keinen Reim auf die Geschichte machen. Wir sollen ihm Exemplare davon schicken, und auch von dem angebauten Reis“, fasste ich das Telefonat zusammen. „Wie lange wird das wohl dauern, mit der Post?“

„Wenn es schneller gehen soll, gibt es einen anderen Weg“, warf Joel ein. „Ihr könnt das Päckchen dem Bus mitgeben, wenn ihr jemanden habt, der es in Manila entgegennimmt. So machen wir das oft, und der Fahrer freut sich über ein paar Peso Trinkgeld.“

„Gute Idee. Ich kann einen meiner Studenten damit beauftragen, und der soll es dann auch gleich zum IRRI bringen“, griff Kitty den Vorschlag auf.

„Der nächste Bus fährt heute Abend um neun Uhr in Banaue ab und ist dann morgen früh gegen fünf in Manila“, wusste Joel. „Dein Student kann es aber natürlich auch noch später dort abholen. Am Ticketschalter des Busunternehmens.“

„Das passt ja ausgezeichnet. Ich nehme die Pflanzenproben gleich mit.“ Ich schnitt mit meinem Schweizer Taschenmesser einige Sprosse mit Rispen des Unkrauts ab und zog Stücke der langen Wurzelausläufer aus dem Schlamm. Auf dem Rückweg sammelte ich noch einige Exemplare abgestorbener sowie frischer Reispflanzen.

„Hier sind die Sachen, die du brauchst“, sagte Joel und legte Plastiktüten, Packpapier und Klebeband auf den Tisch, an dem ich saß und das Pflanzenmaterial sortierte.

„So, das hätten wir“, sagte ich schließlich, als ich die einzelnen Proben mit beschrifteten Zetteln versehen und das Päckchen fertig gemacht hatte.

„Haltet mich auf dem Laufenden“, bat Joel, als sich Kitty und ich von ihm verabschiedeten und wir uns durch das Tal in Richtung Banaue aufmachten. Ich genoss wieder ungeniert den Anblick ihres süßen Hinterns und den flüchtigen Duft ihres Körpers, den ich wahrnahm, wenn Kitty zwischendurch, nach dem richtigen Weg suchend, stehen blieb und ich mich ihr von hinten dicht nähern konnte. Dann musste ich jedes Mal der Versuchung widerstehen, ihr über den Rücken zu streicheln. Bevor ich sie aber mit einer solchen Aktion irritieren würde, brauchte ich ihre Aufmerksamkeit für ein anderes Thema. Nämlich Butzmann. Jetzt, da sein Name gefallen war, konnte ich Kitty unverfänglich noch ein paar weitere Informationen über ihn entlocken.

„Sag mal“, sprach ich sie an, als wir auf einem breiteren Stück des Weges, der in den Ort führte, nebeneinander her gehen konnten, „kennst du eigentlich Mister Butzmann auch?“

„Nicht persönlich“, gab sie zur Antwort, „aber meine Bauern haben mir von ihm erzählt.“

Ich schwieg, um keine zu große Neugier zu zeigen und hoffte, dass Kitty von sich aus weiterreden würde.

„Er bezeichnet sich als landwirtschaftlicher Berater, wie Joel schon sagte. Seine Idee ist wohl, den traditionellen Reisanbau durch ertragreiche und marktfähige Anbaukulturen zu ersetzen. Damit will er den Bauern ein Einkommen verschaffen und gleichzeitig die Terrassen erhalten. So habe ich das zumindest verstanden.“

„Also Gemüse statt Reis?“ hakte ich ein.

„So ungefähr. Auf seiner Farm hat er verschiedene Versuchsfelder angelegt, um den Bauern zu zeigen, was sich hier alles anbauen lässt. Dort hat er auch moderne Reissorten, die schneller wachsen als die traditionellen und auch bei kühleren Temperaturen reif werden. Mit diesen könnte man hier dann auch zwei Ernten pro Jahr erzielen. Zwei oder drei Bauern haben das letztes Jahr ausprobiert, waren aber nicht zufrieden. Damit diese neuen Sorten auch wirklich gute Erträge liefern, muss man nämlich noch Mineraldünger ausbringen. Das wird im traditionellen Anbau nicht gemacht und verursacht natürlich zusätzliche Kosten.“

„Die Bauern sind also nicht überzeugt von seinen Ideen“, stellte ich fest.

„Am Anfang hatten sie sich davon etwas versprochen, aber inzwischen sind sie eher enttäuscht. Im Grunde ist das alles ja nichts wirklich Neues. Manche bauen auf ihren aufgegebenen Reisterrassen schon seit langem Gemüse an, für sich selbst und den Verkauf auf dem lokalen Markt. Damit lassen sich aber keine großen Geschäfte machen, da die Nachfrage nicht sehr hoch ist. Es lohnt sich deshalb nur für wenige. Ein Anbau in größerem Stil wäre theoretisch wohl denkbar, aber dafür fehlt schlicht der Bedarf. Es gibt hier weit und breit keine größeren Städte, und die Produkte über dreihundert Kilometer weit nach Manila zu transportieren, wäre zu aufwändig und zu teuer. Und, davon abgesehen, wäre dies auch das Ende der traditionellen Reisterrassen. Die zählen schließlich zum UNESCO Weltkulturerbe, und das heißt ja wohl, dass sie in ihrer jetzigen Form erhalten werden sollen. Diese ganzen Aspekte scheint Mister Butzmann aber nicht zu sehen. Die Bauern hatten sich von ihm auch praktische Hinweise zu den Anbaumethoden erhofft, wie man das von einem landwirtschaftlichen Berater erwarten sollte, aber da kam nichts. Entweder weiß er selbst zu wenig darüber oder es interessiert ihn alles nicht besonders. Im Übrigen ist er oft auch nicht da, wenn man etwas von ihm will. Um die ganzen Versuchsflächen kümmert sich hauptsächlich seine Frau. Also, irgendwie scheinen mir seine Aktivitäten hier ziemlich halbherzig zu sein“, schilderte Kitty ihre Eindrücke.

So, so, dachte ich. Gut zu wissen. Großer Beliebtheit erfreut er sich hier also nicht, und er war immer mal wieder unterwegs. Stellt sich natürlich die Frage, wo. Das musste ich noch irgendwie herausfinden. Aber alles in allem war das schon mal ganz aufschlussreich.

Da wir den Ort fast erreicht hatten, musste ich mir rasch überlegen, wie es heute noch mit Kitty weitergehen sollte. Insgesamt war der Tag mit ihr ja soweit recht positiv verlaufen. Man hatte sich auf verschiedenen Ebenen gut verstanden, und in ihren Blicken und Gesten glaubte ich, eine weiter gehende Sympathie zu erkennen. Aber das hatte ich ja gestern auch schon gedacht, und dann kam alles anders. Vielleicht war es aber auch so, wie es eine meiner Verflossenen einmal ausdrückte: ich sei „ein Mann für den zweiten Blick“. Also ein Mann, bei dem die Frauen bei einer Begegnung zweimal hingucken, weil sie ihn interessant finden. Dachte ich. Sie meinte aber, dass bei mir die Frauen erst auf den zweiten Blick feststellen, dass ich interessant sein könnte.

Ich fand Kitty jedenfalls auf den ersten Blick interessant genug, um mit ihr ins Bett zu wollen. Um herauszufinden, ob mir das gelingen würde, bedurfte es mindestens eines weiteren gemeinsamen, netten Abends, an dem ich dann auch etwas forscher vorgehen und vor allem Körperkontakt aufnehmen musste. Schließlich erwarteten Frauen auch, dass Männer zu gegebener Zeit die Initiative ergriffen. Ich würde sie also nachher zum Essen einladen, mich mit zwei, drei Bierchen in Stimmung bringen und sie gut unterhalten. Dabei musste ich sie auch immer mal wieder zum Lachen zu bringen. Aus vielen psychologischen Studien war ja bekannt, dass Humor zu den Eigenschaften zählt, die Frauen bei Männern am meisten schätzten. Hierfür hatte ich genügend bewährte Anekdoten auf Lager. In dieser Atmosphäre, es würde inzwischen auch schon dunkel sein, konnte ich dann die erste zärtliche Berührung wagen – ihre Hand streicheln, ihr sanft durchs Haar fahren, je nachdem, wie es sich am besten ergab. Heute würde ich sie jedenfalls nicht mehr einfach davonlaufen lassen.

Auf der Straße durch den Ort kamen wir soeben an meiner Lodge vorbei. Es kann nichts schaden, wenn Kitty das weiß, dachte ich spontan und blieb stehen. „Hier hab ich mein Zimmer“, erklärte ich ihr und zeigte auf das Gebäude.

„Ach so? Ja dann gib mir doch das Päckchen“, sagte sie und zog mir selbiges aus der Hand, „ich komme sowieso am Marktplatz vorbei und kann es dann gleich abgeben. Okay, Manuel, schönen Abend noch!“ Sie sah mir lächelnd in die Augen, bevor sie sich abwendete. Genau wie gestern.

Scheiß-blödes Missverständnis, ärgerte ich mich immer noch, als ich unter der Dusche stand. Sie hatte wohl angenommen, dass ich mich mit meinem Hinweis für heute verabschieden wollte. Und ich hatte mal wieder nicht fix genug reagiert. Als ich es richtig kapierte, war sie schon weg.

Aber vielleicht hatte sie ohnehin schon etwas anderes vorgehabt, und ich war damit einer Abfuhr entgangen. Es wäre allerdings schon interessant zu wissen, wo sie eigentlich die Nacht verbrachte. Wahrscheinlich bei Bekannten oder Verwandten, weil es billiger war als in einer Lodge. Vielleicht aber auch bei einem Liebhaber, wer weiß. Womöglich dieser Joel, obwohl es dafür keine Anhaltspunkte gab. Ich hatte die beiden ja genau beobachtet.

An sich war es gar nicht mal so schlecht, wenn Kitty glaubte, dass ich den Abend allein verbringen wollte. Ich durfte schließlich auch nicht den Fehler machen, ihr wie ein Dackel hinterher zu laufen. Das würde schnell aufdringlich wirken. Sie könnte sich dann eingeengt fühlen und auf Distanz gehen.

So gesehen war das jetzt kein Unglück. Und nun konnte ich die gewonnene Zeit auch nutzen, um mir das weitere Vorgehen in Sachen Butzmann zu überlegen, mit den neuen Informationen. Aber zuerst würde ich noch eine Kleinigkeit essen gehen. Wieder mit mir im Reinen, drehte ich den Duschhahn zu.

Mit zwei Flaschen San Miguel-Bier kehrte ich vom Marktplatz zurück (die vage Hoffnung, Kitty noch einmal zu begegnen, hatte sich nicht erfüllt) und lümmelte mich aufs Bett.

Also: Welche Fakten hatte ich inzwischen? Ich wusste jetzt, wo Butzmann wohnte. Das war schon mal gut. Er hatte eine Versuchsfarm, an der die Bauern aber nicht sonderlich interessiert waren. Und er war öfters mal weg. – Was noch? Ich nahm einen Schluck Bier und rief mir das Gespräch mit Joel und Kitty in Erinnerung. Ich hatte zugeben müssen, dass ich Butzmann kannte. Hatte sich leider nicht vermeiden lassen. Außerdem hatte ich angekündigt, ihn besuchen zu wollen. Das war keine so gute Idee. Eine etwas voreilige Äußerung, die mir da herausgerutscht war.

Und was bedeutete das jetzt?

Es bedeutete, dass es jetzt nicht mehr so einfach war, heimliche Ermittlungen anzustellen. Die Verbindung zwischen mir und Butzmann war nun bekannt, zumindest Kitty und diesem Joel. Und ich konnte nicht davon ausgehen, dass es dabei blieb. Vor dem Hintergrund dieser Unkraut-Geschichte war es sogar ziemlich wahrscheinlich, dass es auch noch einige andere Leute mitbekamen. Beide, Kitty und Joel, hatten hier weit reichende Kontakte und würden garantiert herumerzählen, dass ich jetzt dieser Sache nachging. Und früher oder später würde es auch Butzmann zu Ohren kommen, der ja ebenfalls Umgang mit den Bauern hatte.

Mist. Aber das war schließlich nicht vorauszusehen.

Jetzt musste ich mir was Neues einfallen lassen. Über Butzmann würde ich ohnehin nicht viel mehr erfahren, als ich bereits wusste. Ich konnte ja schlecht die Bauern fragen, wo er sich herumtrieb, wenn er nicht da war. Das würde verdächtig wirken.

Ich leerte die erste Flache Bier, stellte sie auf den Fußboden, griff nach der zweiten und öffnete sie mit meinem Feuerzeug.

Dann würde ich die Sache eben genau anders herum aufziehen. Nämlich auf Butzmann zugehen, um ein gutes Verhältnis mit ihm herzustellen. Damit er von sich aus mehr über seine Aktivitäten erzählte, woraus sich weiteres ergeben könnte. Im Idealfall würden wir mal etwas Gemeinsames unternehmen, einen Ausflug in die Gegend oder so. Wenn wir uns erst einmal gut verstanden, könnte ich ja durchaus einen solchen Vorschlag machen. Als Biologe interessierte ich mich natürlich besonders für die unberührte Natur. Sicher, intakte Bergnebelwälder gab es hier noch, aber nicht mehr gleich um die Ecke. Sondern eher in den ganz dünn besiedelten Gegenden der Cordillera. Ich gebe dir recht, Walter, das ist nicht ganz ungefährlich. Wenn da was passiert, hilft uns so schnell keiner, und Rebellen soll es dort auch geben. Aber wenn man was Besonderes erleben will, muss man halt auch mal ein kleines Risiko auf sich nehmen.

Also gut. Dann würde ich Butzmann also einen Besuch abstatten. So, wie ich es Kitty und Joel ja auch gesagt hatte. Am besten gleich morgen. Keine Zeit verlieren. Wann? So am frühen Nachmittag, dann würde Butzmann mich vielleicht auf ein Tässchen Löskaffee einladen.

Darwins Prophezeiung

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