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Donnerstag, 23. Februar

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Am Tag zwei des Kampfes war ich pünktlich um acht im Büro, obwohl eine fast schlaflose Nacht hinter mir lag, in der ich mich und meine Gedanken ständig hin- und hergewälzt hatte. Wenigstens war ich dabei zu der Entscheidung gekommen, dass es Sinn machte, mich auch auf die zweieinhalbjährige Vertretung der Stelle am ZAL zu bewerben. Mein derzeitiger Vertrag lief ja nur noch ein knappes Jahr, sodass ich unter dem Strich immerhin eine Beschäftigungsdauer von rund eineinhalb Jahren gewinnen würde. Dennoch wäre es nur eine Galgenfrist, denn diese Zeit würde längst nicht ausreichen, die Arbeit an meiner Theorie abzuschließen. Und dann stünde ich erneut vor dem Nichts. Eine Perspektive war das nicht.

Butzmanns Stelle, auf Lebenszeit. Das war eine Perspektive. Gewesen.

Müde und antriebslos hockte ich an meinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Nichts mehr mit Kampfeswille. Alle Energie verpufft. Plötzlich kam mir mein Dasein wie ein Prozess vor, der lediglich dem Zweck diente, mir eine Illusion nach der anderen zu rauben. Erst die Ablehnung meines DFG-Antrags, die mich letztlich meine Stelle gekostet hatte, und jetzt war auch meine letzte Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft zerstört.

Über sieben Brücken musst du gehen, fiel mir auf einmal ein. Dieses Lied. Sieben Mal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein. Zweimal Asche war ich jetzt schon. Dreimal, wenn man das mit Irmtraud dazu nimmt. Doch, das kann man auf jeden Fall mitzählen. Viermal Asche stand mir also noch bevor. Ich musste schlucken. Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Mir war zum Heulen.

Nach einer Weile der apathischen Leere drängte sich mir wieder die Erinnerung an das Gespräch mit dem Präsidenten auf, das mir bereits in der Nacht ständig durch den Kopf gegangen war. Es war in einer entspannteren Atmosphäre verlaufen, als ich erwartet hatte. Die vorangegangene Sache – mein abgelehnter DFG-Antrag und die daraufhin von ihm zurückgezogene Bewilligung der Dauerstelle – hatte der Präsident nicht, wie befürchtet, thematisiert und gegen mich verwendet. Er hatte mir aufmerksam zugehört, meine schwierige Situation erkannt und Verständnis gezeigt. Sein Bedauern, mir bezüglich der ZAL-Stelle keine Perspektive eröffnen zu können, erschien mir aufrichtig. „Wenn sich bei Herrn Butzmann eine neue Entwicklung ergeben sollte, werde ich auf jeden Fall an Sie denken“, waren seine Worte, als er mich mit verbindlichem Händedruck verabschiedete.

Wieder und wieder blieben meine Gedanken an diesem Satz hängen. Wollte er damit andeuten, dass für mich doch noch nicht alles verloren war? Wusste er etwas über Butzmann, das dafür Anlass gab, oder war es nur eine leere Floskel? Ich versuchte vergeblich, mir die Miene des Präsidenten in Erinnerung zu rufen, als diese Äußerung gefallen war. Vielleicht hatte Butzmann dem Präsidenten gegenüber zu verstehen gegeben, dass er die Universität eventuell doch für immer verlassen werde, wenn sich seine Zukunftspläne wie erhofft entwickelten. – Aber wie soll man dann seine Bemerkung „... es sei denn, er stirbt“ verstehen? Das passte dann nicht zusammen. War das nur so dahergeredet, oder steckte wirklich etwas dahinter? Vielleicht war Butzmann ja schlimm erkrankt, was er dem Präsidenten anvertraut hatte, und setzte seine letzte Hoffnung auf einen dieser philippinischen Wunderheiler. War doch möglich, oder?

Ich seufzte resigniert. Alles nur müßige Spekulation. Ich musste aufpassen, dass ich mich jetzt nicht in etwas hineinsteigerte, nur weil ich verzweifelt nach einem Fünkchen Hoffnung in der Asche stöberte. Das half mir jetzt auch nicht weiter.

Dieser verdammte Butzmann. Aus dessen Zeit als Forschungskoordinator am ZAL hatte ich ihn als unauffälligen, blassen Typ in Erinnerung – leicht füllige Statur, teigiges Gesicht mit Goldrandbrille und gewelltes, dunkelblondes Haar, das er bis über die Ohren trug. Er war Ende vierzig, wirkte aber deutlich älter. Seine Kleidung war altbacken und billig, was sogar mir ins Auge fiel, und vermutlich von ihm oder seiner philippinischen Frau aus den Sonderangeboten im Kaufhaus zusammengestellt: karierte Hemden, die wahrscheinlich eher zum Wandern gedacht waren, komisch gemusterte Strickpullunder und weit geschnittene Bundfaltenhosen, dazu kotbraune Lederslipper. In seiner ganzen Art wirkte er auf mich wie der Prototyp oder fast schon wie die Karikatur eines Beamten – bedächtig, aber gewissenhaft, und immer ziemlich verschlossen. Humor hatte er offenbar er keinen, lachen sah ich ihn nie. Ich fragte mich schon damals, ob hinter seiner undurchdringlichen Fassade noch etwas anderes existierte als bloße Einfalt. Eine verborgene, dunkle Seite. Es hätte mich zum Beispiel keineswegs überrascht, wenn er in ein Domina-Studio gehen oder perverse Bilder aus dem Internet sammeln würde, sowas in der Richtung. Bei ihm konnte ich mir das irgendwie vorstellen.

Viel hatte ich nicht mit ihm zu tun gehabt und wusste kaum etwas über ihn, außer dass er vor seiner Anstellung an der Uni für die GIZ, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, auf den Philippinen tätig war. In dieser Zeit hatte er wohl auch seine Frau kennen gelernt, der ich aber noch nie begegnet war.

Und was trieb er nun wieder dort? Das würde mich jetzt doch mal interessieren.

Den kleinen Energieschub nutzend, schwang ich mich auf, schlüpfte in meine Jacke und begab mich auf den Weg zum Gebäude des ZAL.

Ich klopfte an die offen stehende Tür eines Büros. „Hallo Bernd. Na, alles klar bei dir?“, eröffnete ich die Konversation.

Bernd, der für die Finanzverwaltung des ZAL zuständig war, löste seinen Blick von einem Flachbildschirm und guckte mich an. Wie immer erinnerte mich sein Anblick unwillkürlich an einen Aktivisten der Friedensbewegung aus den 80er Jahren. Seine langen, blonden Haare und der üppige Vollbart standen heute in Einklang mit einem ausgeleierten, braun-weiß gemusterten Norwegerpullover, einer dunkelgrünen Breitcordhose und schweren Bergstiefeln.

Nach kurzem Austausch von Bemerkungen zum Wetter kam ich zu meinem Punkt. „Mal eine Frage, weißt Du eigentlich, wo der Butzmann genau steckt und was er jetzt macht?“ Ich lehnte mich an den Türrahmen.

„Butzmann? Na ja, auf den Philippinen. Neulich kam mal `ne Karte, die mit den Reisterrassen. Dort ist er jetzt.“ Bernd zeigte mit dem Daumen auf eine Pinwand aus Kork, die mit bunten Ansichtskarten gespickt war. Eine davon zeigte in unnatürlichem Grün einen imposanten Hügel, der mit seinen steilen, stufenartigen Terrassen wie eine riesige Pyramide aussah.

Ich wusste über diese Gegend Bescheid. Es handelte sich um die berühmten, etwa 2000 Jahre alten Reisterrassen in einem abgelegenen Tal der Cordillera Central, einem Gebirgszug auf der Hauptinsel Luzon. Die Stufen zum Himmel, wie sie genannt werden. Erschaffen hatte sie der Volksstamm der Ifugao, der diese bis heute nach alter Tradition bewirtschaftet. Heute zählen sie zum UNESCO-Weltkulturerbe. Bei meinen verschiedenen Aufenthalten auf den Philippinen hatte hatte ich jedoch nie die Gelegenheit genutzt, diese eindrucksvolle Landschaft zu besichtigen, vor allem wegen der zeitaufwändigen Anreise.

„Und da lebt er jetzt oder was? Was macht er denn dort?“, hakte ich nach.

„Er arbeitet für ‚Food-for-Asia‘, diese Entwicklungshilfeorganisation. Die haben ihn wohl dorthin geschickt, aber genaueres weiß ich auch nicht. Er war ja in den letzten Jahren schon öfters auf den Philippinen und sonstwo in Asien. Ständig auf Dienstreisen unterwegs. Angeblich, zumindest. Es ging immer um irgendwelche wichtig-wichtigen Connections für Forschungskooperationen, aber rausgekommen ist dabei bisher kaum etwas.“ Bernd hielt nicht viel von Butzmann.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, warum er das gemacht hat, mit seiner Beurlaubung?“ Meine Frage sollte beiläufig klingen.

„Also wenn du mich fragst“, sagte er gedämpft und blickte an mir vorbei auf den Flur, als ob Butzmann dort zufällig auftauchen könnte, „hatte das vor allem private Gründe. Er ist ja mit einer Filipina verheiratet, und wahrscheinlich steckt die hinter dem Ganzen. Die hat wohl Heimweh bekommen und ihm Stress gemacht, damit er sich einen Job auf den Philippinen sucht. Weißt ja, wie sowas läuft.“ Ich wusste es zum Glück nicht und sah Bernd skeptisch an.

„Ich kann dir auch seine E-mail geben, wenn`s dich interessiert“, reagierte er auf meinen Blick, „butzmann-at-foodforasia – in einem Wort – Punkt org. Kommt allerdings nur selten eine Antwort. Hat wohl auch kein Internet dort oben. Was willst du denn von ihm?“

„Ach, nicht so wichtig. Bloß was fragen. Also, danke für die Infos. Tschüss dann!“, verabschiedete ich mich mit erhobener Hand.

Gut. Jetzt wusste ich wenigstens, wo Butzmann steckte. Eine Mail würde ich ihm natürlich nicht schicken.

Spontan entschloss ich mich, noch einen Spaziergang durch den Park zu machen. Die Gedanken an Butzmann ließen mich nicht los. Was hatte ihn dazu bewogen, seinen bequemen Arbeitsplatz am ZAL zu verlassen? Ein Krebsleiden oder sowas war wohl eher auszuschließen. Dafür hätte es keinen neuen Job gebraucht.

War er wirklich ausgezogen, um einen selbstlosen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten? Bei Butzmann konnte ich mir das nicht wirklich vorstellen. Und der Typ, der aus seinem langweiligen Dasein ausbrechen will, um nochmal ein neues Leben anzufangen, war er auch nicht. Das passte einfach nicht zu seiner Spießigkeit. Finanzielle Interessen waren ebenfalls auszuschließen, denn als Entwicklungshelfer bei einer nichtstaatlichen Organisation wie Food-for-Asia verdiente er mit Sicherheit einiges weniger als auf seiner Beamtenstelle. Auch daran, dass Butzmanns Frau die treibende Kraft hierfür gewesen sein soll, glaubte ich nicht. Heimweh hin oder her, auch sie würde den Lebensstandard in Deutschland einer Existenz in der philippinischen Einöde allemal vorziehen. Und falls es doch ihr Wunsch gewesen sein sollte, war Butzmann diesem sicherlich nicht aus bedingungsloser Liebe nachgekommen. – Vielleicht waren es ja auch besondere sexuelle Neigungen, die er dort auszuleben suchte? Sie wissen, was ich meine. Wie schon gesagt, ich hatte kein Problem, mir so etwas bei Butzmann vorstellen zu können. Er wäre schließlich nicht der Einzige, den es aus solchen Gründen nach Asien zog.

Aber letztlich spielten Butzmanns Motive gar keine Rolle. Alles in allem gab es jedenfalls keinen Anlass zu der Hoffnung, dass er nicht mehr ans ZAL zurückkehren würde. Weshalb sollte er bereit sein, freiwillig auf seine Sicherheiten zu verzichten? Dann hätte er ja auch gleich kündigen können. Egal was er vorhatte – Butzmann konnte seiner Zukunft gelassen entgegensehen. Es müsste also schon ein Wunder geschehen, damit für mich alles noch eine positive Wendung nahm.

Ich konnte allenfalls noch hoffen, dass Butzmann etwas Schlimmes passieren würde. Auf den Philippinen gab es hierfür ja eine große Vielfalt an Möglichkeiten: tückische Tropenkrankheiten, die gesamte Palette an Naturkatastrophen wie Taifune, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen und Tsunamis. Erst kürzlich hatte ich gelesen, dass die Philippinen unter den Ländern mit der größten Gefahr, dort durch Naturgewalten ums Leben zu kommen, auf Rang drei stehen. Deutschland kam erst auf Platz 150. Hinzu kamen dann noch jede Menge weiterer Risiken, die man zum Beispiel bei Benutzung der oft schrottreifen und überladenen Transportmittel zu Lande, zu Wasser und in der Luft einging. Außerdem die unzureichende medizinische Versorgung. Besonders in ländlichen Gegenden konnte im Notfall kaum mit rascher und effektiver Hilfe gerechnet werden. Und schließlich die Sicherheitslage. Kommunistische, islamistische und sonstige Rebellengruppen waren in verschiedenen Teilen der Philippinen aktiv und traten durch Kämpfe mit Regierungstruppen, Anschlägen und Entführungen – gerne auch von Ausländern – in Erscheinung.

Aber trotz allem war natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass Butzmann etwas zustoßen würde, eher gering. Und wenn wirklich mal was passierte, dann traf es natürlich solche, die es nicht verdient hatten. So wie meinen Kollegen Markus von der Uni Göttingen, der in einem Küstenschutzprojekt auf Sumatra gearbeitet hatte. Bei einem kleinen Nickerchen unter einer Palme war er von einer herunterfallenden Kokosnuss erschlagen worden. Schädelbasisbruch. Nichts mehr zu machen. Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, wie man da sagt. Scheiße sowas.

Ich seufzte. Butzmann auf solche Weise loszuwerden, würde ein frommer Wunsch bleiben. Schließlich hatte ich ja selbst lange Zeit auf den Philippinen verbracht, ohne ernsthafte körperliche Schäden davonzutragen. Und außerdem: Unfall oder Krankheit machten nur dann einen Sinn, wenn Butzmann auch wirklich daran starb. Halblebige Sachen wie eine böse Infektion oder eine Verletzung würden nämlich eher dazu führen, dass er früher als vorgesehen wieder in Deutschland auf der Matte stehen und womöglich die Lust an seinem Tropenabenteuer gänzlich verlieren würde. Nicht gut.

An einer kleinen Holzbrücke angekommen, setzte ich einen Fuß auf das Geländer und guckte hinunter auf den vereisten Bach. Die Postkarte mit den Reisterrassen fiel mir wieder ein. Was für ein segensreiches Projekt Butzmann dort wohl leitete? Etwas Bedeutendes konnte es kaum sein, denn Food-for-Asia war nur eine kleine Organisation, die wenig Finanzmittel hatte und hauptsächlich auf Spenden angewiesen war. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Vorhaben zur Förderung von Kleinbauern, um deren Einkommen und die Anbaumethoden zu verbessern. Vermutlich mussten sie, unter seiner Anleitung als selbst ernannter Experte, Komposthäufen anlegen, um organischen Dünger zu gewinnen. Oder Fischteiche buddeln. Irgend sowas.

Und warum hatte er sich dafür ausgerechnet diese Gegend ausgesucht? Auf den Philippinen gab es schließlich genügend schöne Plätzchen mit Strand und Palmen, an denen es sich angenehmer leben ließ. Wenn man schon freiwillig so einen Job machte. Die Cordillera-Region, zu der die nach ihren Bewohnern benannte Provinz Ifugao mit den Reisterrassen gehörte, war nämlich kein so idyllisches Fleckchen Erde. Die Bergstämme hatten zwar ihr traditionelles Brauchtum der Kopfjagd nach wiederholten Ermahnungen seitens christlicher Missionare und der amerikanischen Kolonialmacht bereits Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend aufgegeben, aber friedlich war es dort auch danach nur selten. Als die Philippinen im Zweiten Weltkrieg von japanischen Truppen besetzt und unter verlustreichen Kämpfen von den Amerikanern wieder befreit wurden, war das Gebiet um die Reisterrassen Schauplatz der letzten Schlacht zwischen japanischen und amerikanischen Streitkräften auf philippinischem Boden. Mit Unterstützung einheimischer Guerillaverbände, die diese Gelegenheit ein letztes Mal zum Erwerb der einst so begehrten Schädeltrophäen nutzten, wurden dort die Japaner unter ihrem Befehlshaber General Yamashita zur Kapitulation gezwungen. Bis heute hält sich hartnäckig die Legende, dass die Japaner dort auch Kriegsbeute – Goldschätze vor allem – zurücklassen mussten und irgendwo vergraben hatten.

Seit Anfang der 1970er Jahre zählt die Cordillera zum Operationsgebiet der NPA, der New People’s Army, die bis heute, unbeeindruckt von den weltgeschichtlichen Entwicklungen, den bewaffneten Kampf für die kommunistische Revolution auf den Philippinen führt. In den Bergen tummeln sich außerdem die Cordillera People’s Liberation Army und ihre diversen Splittergruppen, die eine politische Unabhängigkeit der Region anstreben. Deren teils bewaffneter Widerstand richtet sich vor allem gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Gebieten der verschiedenen Bergvölker mit eigener Kultur und Tradition. Aktivitäten wie die Abholzung von Wäldern, der Bau von Staudämmen und das Schürfen nach Bodenschätzen erfolgten meist ohne Rücksicht auf deren Interessen und sorgen bis heute für Konflikte.

Durchaus denkbar, dass deshalb auf Fremden und vor allem auf Ausländern, die sich dort längere Zeit herumtrieben, wachsame Augen ruhten. So manchem Einheimischen mochte es nicht ohne weiteres einleuchten, warum ein Americano, wie von ihnen alle westlichen Ausländer pauschal genannt werden, auf die Philippinen kommen sollte, wenn er nicht vor hatte, seinen Reichtum zu mehren, eine Frau zu finden oder wenigstens einem Vergnügen nachzugehen. Aber was brachte es ihm, den armen Reisbauern zu helfen? – Typen wie Butzmann könnten daher leicht in den Verdacht geraten, Absichten zu verfolgen, die nicht im Einklang mit denen bestimmter Interessensgruppen stehen.

Vor allem, wenn dann noch das Gerücht aufkäme, dass er in Wahrheit garnicht von einer Entwicklungshilfeorganisation, sondern von einer Minengesellschaft geschickt worden war und den Auftrag hatte, die Gegend nach wertvollen Erzen zu untersuchen. Vor allem nach Gold. Dieses Stichwort würde garantiert die richtigen Leute auf den Plan rufen. Dann würde er dort ziemlich gefährlich leben, der Herr Dr. Butzmann.

Nachdenklich kramte ich meinen Tabak hervor und drehte mir eine Zigarette.

Man könnte ein solches Gerücht ja auch tatkräftig schüren. Um die Leute auf die Spur zu bringen.

Und dann? – Gute Frage. Unwahrscheinlich, dass man Butzmann deshalb gleich umlegen würde. Eher würde man ihm den wohlgemeinten Rat geben, sich unverzüglich vom Acker zu machen. Dann würde er nach Deutschland flüchten und sich wieder hinter seinem sicheren Schreibtisch im ZAL verkriechen. – Okay, so viel zu dieser Idee.

Himmel, fiel mir plötzlich ein. Ich riss den Arm hoch und schaute auf die Uhr. Höchste Zeit umzukehren. In zwanzig Minuten begann das Seminar „Spezielle Aspekte der Agrarökologie“, das ich moderieren musste.

Im Büro schnappte ich mir noch schnell Stift und Notizblock, bevor ich zum Hörsaal eilte. Von dem runden Dutzend Masterstudenten, die das Modul „Agrarökologie der Tropen und Subtropen“ belegt hatten, waren die meisten schon da, und der Blick auf die Projektionsfläche des bereits eingeschalteten Beamers verriet mir zum Glück auch das heutige Thema. Es lautete „Die Anfänge der Landwirtschaft“. Vortragende war Inga-Lill, eine kleine, quirlige Schwarzhaarige mit pummeliger Figur. Mir war es ein Rätsel, wie sie zu ihrem Namen gekommen war. Wahrscheinlich war ihre Mutter noch bis zum Ende der Schwangerschaft irrtümlich der Überzeugung, dass es sich beim Vater des Kindes um ihren blonden Ehemann mit schwedischem Migrationshintergrund handelte und nicht um den jungen Tretbootverleiher, mit dem sie sich im letzten Italienurlaub kurz vergnügte, während sich ihr Gatte auf dem dreitägigen Segeltörn befand, von dem er schon vor der Reise ständig geschwärmt hatte.

Nach einer kurzen, improvisierten Einführung erteilte ich Inga-Lill das Wort und setzte mich auf einen Platz in der ersten Bankreihe, die von Studenten grundsätzlich gemieden wurde.

„In meinem Referat möchte ich vor allem auf zwei Punkte eingehen“, begann Inga-Lill ihre Powerpoint-Präsentation, „und zwar auf die Ursachen der Entstehung von Landwirtschaft sowie auf die Prozesse, die von den Wildpflanzen zu den Kulturpflanzen führten.“ Das nächste Bild zeigte einen afrikanischen Bauern, der mit einer primitiven Hacke ein Feld bearbeitete. „Zunächst stellt sich sie Frage, wann die Menschen damit begonnen haben, Pflanzen anzubauen, die der Nahrungsversorgung dienten. Nach allem, was wir heute wissen, geschah dies vor rund 10.000 Jahren. Aber warum hat der Mensch überhaupt angefangen, Landwirtschaft zu betreiben, und gerade zu dieser Zeit? Vor dem Beginn der Landwirtschaft, also während der weitaus längsten Zeit seiner bisherigen Existenz, lebte er ausschließlich als Jäger und Sammler.“

Ich hielt mir den Zeigefinger an die Backe, um bei Inga-Lill den Anschein aufmerksamen Interesses zu erwecken, während ich versuchte, einen Gedanken zu greifen, der mir vorhin kurz durch den Kopf gegangen war: Auf den Philippinen wird der Besitz selbst kleinster Mengen an Drogen hart bestraft, was auch schon so manchen Ausländer für Jahre hinter Gitter gebracht hatte. Darunter waren nicht wenige, die behaupteten unschuldig zu sein und es oft auch waren. Man hatte ihnen den Stoff untergeschoben und sie anschließend zu denunziert. Geschäftliche Konkurrenz, persönliche Animositäten oder Eifersucht mochten Motive dafür gewesen sein. Ich hatte von solchen Fällen gehört. Auch für Butzmann wäre es in so einem Fall unmöglich, seine Unschuld zu beweisen.

Diese Vorstellung entlockte mir ein Lächeln. Inga-Lill lächelte zurück. Ihr Vortrag lenke mich einen Moment lang von meinen Gedanken ab.

„ ... wird die Entstehung der Landwirtschaft oft so dargestellt, als handelte es sich um eine geniale Erfindung, die ein bequemeres und sorgloseres Leben ermöglichte, als dies zuvor der Fall war. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass hauptsächlich Umweltfaktoren dazu geführt haben.“

Ich tippte mir mit dem Kugelschreiber an die Lippen. Eine solche Aktion wäre allerdings mit einigen Risiken behaftet. Erstens müsste ich eine möglichst große Menge Marihuana oder sowas beschaffen, zweitens bei Butzmann verstecken und drittens einen entsprechenden anonymen Hinweis geben. Für einen Ausländer kaum machbar. Und einen Einheimischen mit dieser Aufgabe zu betrauen, wäre auch keine gute Idee. Ich schüttelte den Kopf, worauf Inga-Lill kurz den Faden verlor.

Das war alles zu riskant. Von Drogen sollte man auf den Philippinen besser die Finger lassen. Und überhaupt, fiel mir dann noch ein: War eine Haftstrafe auf den Philippinen überhaupt von Relevanz für den Beamtenstatus in Deutschland? Und würde man dafür auch das Urteil eines philippinischen Gerichts zu Grunde legen? Ich kannte leider keinen Juristen, der mir zu diesem Thema Auskunft geben konnte. Wahrscheinlich würde ein gewiefter Anwalt versuchen, die Sache für Butzmann zu regeln. Und so lange würde man ihm seinen Bürosessel an der Uni auf jeden Fall warm halten müssen. Ich hatte wohl tatsächlich nur eine Chance, wenn, wie der Präsident in weiser Voraussicht erkannt hatte, Butzmann sterben würde.

„ ... und so kam es“, drang Inga-Lills Stimme wieder zu mir vor, „dass die Ernährung der Menschheit heute vollständig von der Landwirtschaft abhängt. Umgekehrt sind aber auch die Kulturpflanzen auf den Mensch angewiesen, da sie ohne ihn in der freien Natur nicht existieren könnten. – Damit möchte ich meine Präsentation beenden und bedanke mich für eure Aufmerksamkeit.“ Die Zuhörer klopften auf die Tische, und ich erhob mich. „Ja, dann vielen Dank erst mal“, gab ich von mir, ließ einige Fragen zu und würgte die Diskussion nach zehn Minuten ab.

Zurück im Büro, ließ ich mich kraftlos auf meinen Stuhl sinken. Ich hatte Kopfschmerzen. Meine Energie war aufgezehrt. Die ganzen Gedankenspielereien zu Butzmann waren doch völlig sinnlos. Es gab einfach nichts, was mir noch irgendwie Mut oder Hoffnung machen konnte. Irgendwann würde ich einen Idiotenjob annehmen müssen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dann würde ich abends müde nach Hause kommen und nicht mehr fähig sein, mich noch auf die Arbeit an meiner neuen Theorie zu konzentrieren. So konnte das nichts mehr werden. – Sollte das mein Schicksal sein? Unvorstellbar.

Ich blickte aus dem Fenster. Wenn Butzmann sterben würde. Das wäre wirklich gut.

Meine Gedanken schweiften zurück in meine Zeit auf den Philippinen. Ich erinnerte mich an das merkwürdige Ableben der beiden jungen Männer in dem Dorf auf der Insel Leyte, wo ich seinerzeit als Doktorand gelebt hatte. Beide waren, im Abstand von wenigen Wochen, über Nacht plötzlich verstorben. Sie waren weder krank noch hatte es sonst irgendwelche Vorkommnisse gegeben, die als Erklärung dafür herhalten konnten. „Sie sind an schlechten Träumen gestorben“, wurde mir erklärt, als ich mich diskret nach der Ursache erkundigt hatte. Nun ja. Vielleicht leuchtete dies wirklich allen ein und musste nicht weiter hinterfragt werden, aber womöglich wusste man es auch besser, was ich natürlich niemals erfahren würde. Solches zählte zu den Geheimnissen einer philippinischen Dorfgemeinschaft mit ihren komplexen Verwandtschafts-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, in die ein Fremder keinen Einblick bekam.

Mit seltenen Ausnahmen. Zu diesen gehörte Father Joost, ein belgischer Priester, der eine kleine katholische Gemeinde auf der Insel Cebu betreute. Er war eine eindrucksvolle Persönlichkeit und ein hervorragender Kenner der philippinischen Pflanzenwelt, weshalb ich ihn des Öfteren besucht und so manchen anregenden Abend bei ihm verbracht hatte. Leider war er inzwischen von seinem obersten Herrn abberufen worden. Father Joost kannte nicht nur Pflanzen, sondern von der Beichte her auch mehrere Ehefrauen, die ihre Männer mittels Gift ins Jenseits befördert hatten. Dass keine dieser Taten je entdeckt wurde, war unter anderem auf die bestehende Rechtslage zurückzuführen. Auf den Philippinen kann eine Obduktion nur vorgenommen werden, wenn die Familie des Verstorbenen dies verlange oder dem zustimme. Dies gelte selbst dann, wenn die Umstände des Todes unklar seien, hatte Father Joost mir erklärt. Davon abgesehen war eine rechtsmedizinische Untersuchung, die zum Beispiel einen sauber ausgeführten Giftmord aufdecken konnte, mangels Experten und technischer Ausstattung auf den Philippinen kaum möglich. Insgesamt also sehr gute Voraussetzungen, jemanden ohne großes Risiko aus der Welt zu schaffen. – Wäre das eigentlich bei einem Ausländer auch so einfach, oder würde dessen Tod weitere Untersuchungen nach sich ziehen?

Mit einem Mal wurde ich wieder munter. Nur mal angenommen, Butzmann würde ohne äußere Verletzungen tot aufgefunden. Dann würde die örtliche Polizei oder sonstige Offizielle auftauchen und die ganze Sache zu Protokoll nehmen, aber ansonsten wahrscheinlich erst mal nicht viel unternehmen. Ein Arzt, sofern verfügbar, könnte wohl den Tod Butzmanns, aber kaum die Ursache dafür bescheinigen. Anschließend müsste seine Frau oder sonst jemand wohl die Deutsche Botschaft in Manila informieren.

Und dann? Was würde man mit seiner Leiche machen? Wahrscheinlich nach Deutschland überführen und eventuell obduzieren. Oder konnte man ihn auch einfach auf den Philippinen begraben? Keine Ahnung.

Aber das könnte ich ja mal im Internet recherchieren. Ich rief die Startseite von Google auf und kratzte mich am Kopf. Und nach was sucht man jetzt am besten? Mal mit „Todesfall im Ausland“ probieren. Da. Ein Link zum Auswärtigen Amt: Hilfe bei Todesfällen.

„Von einem Todesfall im Ausland werden die Angehörigen in Deutschland oft durch Mitreisende oder den Reiseveranstalter informiert“, hieß es dort. In diesem Fall sicher nicht. Ich überflog den Text und stieß auf einen aufschlussreichen Satz: „Wegen besonderer klimatischer Bedingungen, gesetzlicher Bestimmungen oder Bestattungsgebräuche vor Ort müssen die Angehörigen ihre Entscheidung über die gewünschte Überführung oder Ortsbestattung möglicherweise sehr schnell treffen.“ Aha. Besondere klimatische Bedingungen waren auf den tropischen Philippinen definitiv gegeben, und es würde seine Zeit dauern, bis man den Transport seiner Leiche von den Reisterrassen bis nach Deutschland organisieren konnte. Und eine vernünftige Kühlmöglichkeit gab es vor Ort sicher auch nirgends. Und dann war es noch ein ganzer Tag reine Fahrzeit nach Manila. Dort würde Butzmann dann schon ziemlich streng riechen, was die Entscheidung, ihn auf den Philippinen zu lassen, sehr erleichtern dürfte. Und so eine Rückführung war sicher auch nicht ganz billig.

Ich lehnte mich zurück und bohrte in der Nase. Das schien ja tatsächlich ziemlich einfach zu sein. Wenn man Butzmann irgendwo in der Wildnis, weit weg von der nächsten Straße finden würde, könnte man sogar noch mehr Zeit gewinnen. Dann würde man ihn vielleicht gar nicht erst nach Manila bringen. Sondern vor Ort begraben. Garantiert ohne Obduktion. Fertig. Ich rollte den geförderten Nasenpopel zwischen den Fingern zu einem Kügelchen und schnippte es weg.

Aber vielleicht gab es doch noch ein Problem, fiel mir dann ein. Da stand doch was von einer Sterbeurkunde, die man in der Deutschen Botschaft vorlegen musste. War das so etwas wie ein Totenschein, auf dem auch die Todesursache stehen musste? Gab es so was auf den Philippinen überhaupt? Wie lief das dort?

Das konnte man sicher auch über das Auswärtige Amt in Erfahrung bringen. Ich klickte den Button „Kontakt“ auf der Serviceseite an. Ein Formular zum Ausfüllen erschien: Name, Vorname, Straße, Hausnummer ... Uups. Besser nicht.

Dann lieber nochmal ins Internet gehen und versuchen herauszufinden, was beim ungeklärten Tod eines Deutschen passiert, in einem Land wie den Philippinen.

Nach längerer unergiebiger Suche fand ich eine erste relevante Information: „Nach Paragraph 159 Strafgesetzbuch ist die Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen verpflichtet, wenn der Verdacht eines unnatürlichen Todes besteht. Wenn nach dem Ergebnis ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann, wird der Vorgang in ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts übergeleitet. Die Lage des Tatorts ist dabei unerheblich, weil das deutsche Strafrecht auch für Taten gilt, die im Ausland an Deutschen begangen wurden. Allerdings muss die Tat in dem entsprechenden Land ebenfalls mit Strafe bedroht sein.“ Okay. Aber was bedeutete das konkret? Mal weitersuchen.

Ich war soeben auf einen Fall in Thailand gestoßen, als es an der Bürotür klopfte.

„Ja?“ rief ich und wandte mich um.

Ein bebrillter Jüngling betrat den Raum. Ein Student. Auch das noch. Ich schaute grimmig.

„Grüß Gott Herr Dr. Biener. Hätten Sie gerade einen Moment Zeit?“

„Um was geht’s?“ entgegnete ich unfreundlich.

„Um meine Hausarbeit. Ich hab damit jetzt angefangen und ...“

„Thema?“ unterbrach ich ihn.

Der Student schielte auf den Besucherstuhl. Nein, da darfst du es dir nicht gemütlich machen, beschloss ich im Stillen. Sonst dauert mir das zu lange.

„Das mit den Naturreservaten. Wo es um die Frage geht, wie man die einheimische Bevölkerung in den tropischen Ländern da mit einbeziehen kann, damit sie keine Tiere schießen oder den Wald abbrennen.“

„Weiß ich. Und?“ Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch, um ihn vor weiteren Ausschweifungen abzuhalten.

Der Blick des Studenten fiel auf meinen Computerbildschirm. Toter Kölner Geschäftsmann in Thailand: war es Mord?, stand da als große Schlagzeile.

„Ja also ... äh, ich hab dazu im Internet wenig gefunden. Ich dachte, sie ...“

„Im Internet! Das können sie sowieso nicht alles glauben, was sie da finden. Sie sollen wissenschaftliche Literatur verwenden, das wissen sie doch. Mit ordentlichen Quellenangaben. Und nicht copy-paste machen mit irgendwelchen Texten, wie diese ganzen Politiker in ihren Doktorarbeiten. Mann, Mann. Fangen Sie sowas gar nicht erst an!“

Der Student senkte schuldbewusst den Kopf.

Ich griff nach einem gelben Haftnotizblock und schrieb etwas auf.

„Hier“, streckte ich dem Studenten den Zettel entgegen, der an meinem Zeigefinger klebte. „Besorgen sie sich dieses Buch in der Unibibliothek. Und wenn sie das gelesen haben, reden wir weiter.“

„Gut, danke.“

„Bitte.“

„Ja dann, Wiedersehn!“

„Tschüss.“

Ich schnaubte und wandte mich wieder dem Bildschirm zu. – Um was ging es da? Genau. Eine Bekannte des Toten, der in Thailand aber leider schon eingeäschert worden war, hatte den Verdacht geäußert, dass dieser einem Giftmord zum Opfer gefallen war. Daraufhin nahm sich die deutsche Staatsanwaltschaft des Falles an.

Und der wichtige Punkt war der: deutsche Behörden durften in Thailand nicht aktiv werden, vielmehr mussten thailändische Behörden über die Deutsche Botschaft um entsprechende Ermittlungen gebeten werden. Und das lief mit den Philippinen sicher nicht anders.

Daran, dass die Ermittlungen in einem theoretischen Fall Butzmann zum Erfolg führen würden, hatte ich allerdings meine Zweifel. Die Vertreter lokaler Dienststellen, sofern es solche in Butzmanns Gegend überhaupt gab, waren damit wahrscheinlich überfordert und hatten sicherlich auch wenig Interesse daran, sich mit Nachforschungen in ihrem angestammten Umfeld unbeliebt zu machen. Eventuell aus Manila angereiste Beamte hätten ebenfalls kaum eine Chance, im Kulturkreis der einheimischen Bevölkerung die Hintergründe und Motive des Tötungsdelikts aufzuklären oder gar den Täter zu fassen. Sie würden rasch eine Reihe von Argumenten finden, sich nicht allzu lange mit dem Fall beschäftigen zu müssen. So viel war sicher.

Wenn sich der Mörder also nicht besonders dilettantisch anstellte, war seine Wahrscheinlichkeit gefasst zu werden, denkbar gering. Letztendlich war es dann auch egal, auf welche Weise man Butzmanns Leben beenden würde, schloss ich. Es war in der Tat nicht entscheidend, wie man das Problem aus der Welt schaffte, sondern wo. Man müsste ihn einfach nur an einem entlegenen Ort überraschen und dann...

Ich nickte versonnen. Da konnte wirklich kaum was schiefgehen. War jedem nur zu empfehlen, der seinen Ehepartner loswerden wollte. Mit diesem, vielleicht unter dem Vorwand einer Aussöhnung, eine schöne Reise in ein möglichst rückständiges Land machen; weit außerhalb des Einflussbereichs deutscher und sonstiger Behörden. Zum Beispiel eine Bootsfahrt auf dem Amzonas oder eine Trekkingtour im Himalaya.

Um im konkreten Fall die Sache wasserdicht zu machen, könnte man gleichzeitig versuchen, den Verdacht auf einen bestimmten Personenkreis zu lenken. Hierfür könnte sich das Streuen von Gerüchten als durchaus sinnvoll erweisen. Besonders das mit der Goldsuche. Wenn man Butzmanns Leiche dann fand, würde es heißen: das waren die Rebellen. Und damit wäre der Fall erledigt.

Bei dieser Vorstellung bekam ich ein wenig Herzklopfen. Alle meine Probleme könnten sich mit einem Schlag lösen. Wenn ich den Mumm dazu hatte. Unruhig begann ich mit den Beinen zu wippen. Ich versuchte, mir so eine Situation vorzustellen. Butzmann irgendwo im Urwald. Ich schleiche mich von hinten an ihn heran, einen Stein in der Hand. Unter meinen Schritten raschelt das Laub. Butzmann hört es und dreht sich um. – Nein, das würde wohl nichts werden.

Ich seufzte. Wieder nur so eine Tagträumerei. Eine kleine Flucht aus der traurigen Wirklichkeit. Nichts, was daran etwas ändern konnte.

Obwohl.

Etwas wehrte sich in mir. Ich sollte diese Idee nicht so leichtfertig fallen lassen. Was hatte ich schon zu verlieren? Garnichts. Ich habe nämlich schon alles verloren. Aber gewinnen konnte ich alles. Ich würde den Tag erleben, an dem mein Buch erscheint. Vielleicht eine Professur bekommen. Ein sicheres Einkommen haben. Nie wieder Existenzsorgen.

Und all dem stand nur dieser Schwachkopf Butzmann im Weg.

Vielleicht ging es ja auch irgendwie eleganter. Oder es kam mir ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Eventuell ergab sich ja auch eine Situatuion, in der man garnicht so viel nachhelfen müsste. Wo zum Beispiel ein winziger Schubs schon genügen würde. Damit er aus Versehen irgendwo hinunterfiel. Sowas in der Art.

Unter diese Gedanken mischte sich bereits ein weiterer Gesichtspunkt. Schon Ende März würde ich nämlich selbst auf die Philippinen reisen. Dort musste ich an der Visayas State University auf der Insel Leyte mein alljährliches Lehrmodul zur Tropenökologie abhalten, das im Rahmen einer Uni-Partnerschaft bestand. Anschließend könnte ich mir doch endlich einmal die berühmten Reisterrassen ansehen. Butzmanns Wirkungsstätte. Und dann einfach mal schauen, was sich daraus entwickelt. In meiner beschissenen Zukunft wollte ich mir zumindest nicht vorhalten müssen, diese Chance verpasst zu haben.

Ich blätterte in meinem Terminplaner. Das Modul dauerte knapp zwei Wochen, letzter Kurstag war Gründonnerstag. Am Ostersonntag war ich dann noch bei der Familie eines philippinischen Kollegen zu einem Bootsausflug auf eine andere Insel eingeladen. Meinen Rückflug hatte ich auf Ostermontag gelegt, der auf den Philippinen kein Feiertag mehr war. Es wäre aber gar kein Problem, noch eine Woche dranzuhängen. Oder besser zwei. Als Urlaub. Das sollte in jedem Fall ausreichen.

Gut. Am besten gleich das Reisebüro anrufen und den Flug umbuchen. Ich wischte mir meine feuchten Hände an den Hosenbeinen ab und suchte am PC die Nummer heraus.

Als ich den Hörer auflegte, hatte ich immer noch ein wenig Herzklopfen. Ich hatte zwar lediglich meine Reise um zwei Wochen verlängert, aber damit dennoch einen ersten konkreten Schritt unternommen, der über die bloße Gedankenspielerei hinausging.

Umso wichtiger war es nun, mich auf die Vertretung der Butzmann-Stelle zu bewerben. Das hatte ich zwar ohnehin vorgehabt, weil ich mir damit mein Auskommen ein wenig länger sichern könnte als in meiner derzeitigen Lage, aber jetzt kam ein weiterer Aspekt hinzu: sollte Butzmann tatsächlich nicht mehr zurückkommen können, würde man seine Stelle spätestens nach Ablauf der zweieinhalb Jahre wieder unbefristet freigeben. Wenn sie dann bereits von mir vertreten wurde, konnte ich davon ausgehen, ohne Weiteres auf Dauer übernommen zu werden.

Aber so weit war es noch lange nicht.

Darwins Prophezeiung

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