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Mittwoch, 12. April
ОглавлениеDer Bus hatte Manila vor drei Stunden am frühen Morgen verlassen und fuhr auf dem Maharlika-Highway durch die weite Ebene des Pampanga-Tales in Richtung Norden. Ich war unterwegs zu den Reisterrassen. Und zu Butzmann.
Die vergangenen Wochen in Deutschland waren irgendwie zeitlos verlaufen. Ein trister Tag hatte sich an den nächsten gereiht, jeder beherrscht von den stets gleichen Sorgen um meine Zukunft. Und es gab natürlich viele Nächte, in denen ich wach wurde, die Mühle meiner Gedanken zu mahlen begann und bis zum Morgen nicht mehr still stand. Phasenweise war es mir aber immerhin gelungen, mich wieder mehr oder weniger effektiv der Ausarbeitung meiner neuen Theorie zu widmen. Das gab mir Erfüllung und half mir wenigstens vorübergehend, meiner düsternen Stimmung zu entkommen. Umso quälender war hinterher allerdings die Vorstellung, meine ganze Arbeit könnte sinnlos sein, weil ich sie womöglich nie zu Ende bringen konnte. Dann beschäftigten sich meine Gedanken erneut mit Butzmann, und der Kreis meiner Probleme war wieder geschlossen.
Butzmann loszuwerden war der einzige Ausweg. Zumindest theoretisch. Aber wenn ich wieder einmal an dieser Stelle meiner Überlegungen angelangt war, meldete sich auch mein Gewissen.
Könnte ich wirklich alle Hemmungen überwinden, wenn es darauf ankam? Und wenn, wie konnte ich später damit leben? Sicher, Schuldgefühle würden nicht ausbleiben, und manchmal würde ich mich damit schlecht fühlen. Aber rational betrachtet, wären solche Momente leichter zu ertragen als das sorgenreiche, freudlose Dasein, das mich ansonsten erwartete. Und das bestand nicht nur aus Momenten, sondern aus dem Rest meines Lebens. So musste man das sehen. – Und wem würde es schon groß schaden, wenn Butzmann nicht mehr da wäre? Er hatte keine Kinder und nichts, da hatte ich mich extra nochmal erkundigt. Seine Frau dürfte sich als Beamtenwitwe einer guten Rente erfreuen. Damit konnte sie sich in Deutschland oder auf den Philippinen ein schönes Leben machen, wo sie lieber will.
Letztendlich führten mich alle Gedanken immer zu demselben Schluss: ich durfte diese Chance nicht einfach verstreichen lassen. Ich musste es wenigstens versuchen. Man durfte nicht immer alles als schicksalsgegeben hinnehmen. Ich musste dort hin fahren und sehen, wie sich die Dinge für mich entwickelten. Und dann musste entweder meine Idee begraben werden oder Butzmann.
Durch die getönten Scheiben betrachtete ich die Gegend. Reisfelder und einzelne Dörfer prägten das Bild der flachen Landschaft. Im Osten, wie ich von meinem Sitzplatz aus erkennen konnte, erstreckte sich eine Kette von Hügeln, die mit vertrocknetem, gelblichem Gras bedeckt waren. Ich wähnte mich bei diesem Anblick eher in einer kargen Steppe als in den feuchten Tropen und konnte mir kaum vorstellen, dass auch diese Gegend einst von üppigem Regenwald bedeckt war.
Der Bus war höchstens zur Hälfte besetzt und außer einem jungen Australier, von dessen Herkunftsland die auf seinem Rucksack aufgenähte Flagge kündete, war ich augenscheinlich der einzige Ausländer. Zwei Reihen vor mir saß, ebenfalls alleine, die interessante Frau, die bereits am Busbahnhof meine Aufmerksamkeit erregt hatte, wo ich sie beim Warten ausgiebig mustern konnte. Sie war für eine Einheimische auffallend groß und hatte ausdrucksvolle, fast runde schwarze Augen, die überhaupt nicht asiatisch wirkten. Ich schätzte sie auf Mitte Dreißig und hatte sie zunächst gar nicht für eine Filipina gehalten, dann aber ihre auf Tagalog geführte Unterhaltung mit dem Buspersonal mitbekommen. Mit ihren scharf geschnittenen Gesichtszügen, der markanten Mundpartie und den schmalen Lippen machte sie zwar einen etwas strengen Eindruck, war aber sehr attraktiv. Sie trug eine enge, dunkelblaue Jeans, die ihre schlanke Figur zum Blickfang machte, und ein offenes, olivgrünes Armeehemd mit einem weißen T-Shirt darunter. Einen bemerkenswerten Kontrast dazu bildeten ihre schicken roten Pumps, oder wie immer man diese spitzen Schuhe mit Absatz nannte. Mir war auch nicht entgangen, dass sich an ihren Händen kein Schmuck befand. Auch nicht an einem der Ringfinger. Alles in allem strahlte die herbe Schönheit, wie ich sie für mich nannte, ein starkes Selbstbewusstsein aus und war damit der Typ Frau, der den meisten Männern nicht gerade Mut machte, sie anzusprechen.
Jetzt, als ich ihre schwarzen, schulterlangen und leicht gewellten Haare ständig vor Augen hatte, malte ich mir aus, wie es wohl mit ihr im Bett wäre. Meiner Einschätzung nach spielte sie dort die aktive Rolle und bestimmte, wo es lang ging, damit sie voll auf ihre Kosten kam. Nach dieser Regievorgabe gestaltete sich auch der Film in meinem Hirnpornostudio. Aber kaum in Szene gesetzt, wurden die Konturen der herben Schönheit unscharf und schließlich von einer anderen Darstellerin überlagert, deren Auftritt keine Fantasie, sondern reale Erinnerung war. Ich sah jetzt Irmtraud, die mich in die Matratze drückte und sich auf mich setzte. – Und jetzt war mir auch klar, was mich an dieser Frau faszinierte: Die Ähnlichkeit mit ihr, Irmtraud. Groß, schlank, schwarzhaarig – man könnte sie fast für deren philippinische Zwillingsschwester halten, wenn so etwas biologisch möglich wäre.
Nach kurvenreicher Fahrt durch die inzwischen bergige Landschaft der Cordillera hatte der Bus eine der kleinen, einfachen Raststätten am Rande der Straße angesteuert. Mittagspause. Mir stand nicht der Sinn nach einer Schüssel Reis mit Beilage und holte mir an einem Verkaufsstand eine Cola, die mir in eine Plastiktüte abgefüllt und mit einem Strohhalm gereicht wurde. Anschließend kaufte ich bei einer Bäuerin, die verschiedene Agrarprodukte in einem Korb feilbot, zwei harte Eier und einen gekochten Maiskolben als Wegzehrung.
Als der Fahrer zum Einsteigen hupte, stand ich neben dem Bus und rauchte. In meiner rechten Hand lagen die beiden Eier, auf die ich, an meine Brust gelehnt, den Maiskolben gestellt hatte. Ich wollte warten, bis die herbe Schönheit vorbeikam und hoffte dabei auf einen Blickkontakt. Als sie sich näherte, wandte sie mir den Kopf zu und lachte plötzlich laut auf. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, die Hand am Mund, sah sie mir amüsiert und neugierig ins Gesicht. Völlig konsterniert zuckte ich eine wenig zurück; der Maiskolben kippte von meiner Hand und fiel in den Staub. Dann kapierte ich. Peinlich berüht stieg ich in den Bus und traute mich nicht, sie noch einmal anzusehen.
Es war später Nachmittag, als hinter einer letzten Bergkuppe das Tal mit den Reisterrassen erschien. In langsamer Fahrt steuerte der Bus den Hang hinunter seinem Ziel entgegen, dem Ort Banaue. Sein Anblick irritierte mich. Ich hatte ein idyllisches, kleines Dörfchen erwartet, das sich harmonisch in das Bild der grandiosen Landschaft einfügte. Was ich jetzt sah, erinnerte mich jedoch spontan an die Favelas von Rio. Lückenlos aneinander gebaute, schmutziggraue Betongebäude, teils mehrere Stockwerke hoch, bildeten die Silhouette des Ortskerns, der auf einen schmalen, steil abfallenden Hangrücken gequetscht war. Entlang der Straße und sonstwo in der Landschaft standen, anscheinend planlos errichtet, verschieden große Hütten und Häuser. Die meisten waren mit rostigen Blechdächern bedeckt, was den Eindruck, sich in einem Slum am Rande einer Großstadt zu befinden, noch verstärkte. Von den traditionellen kleinen Siedlungen der Ifugao, wie sie die Bilder im Reiseführer zeigten, war nichts zu sehen.
Der Bus schwenkte auf den Marktplatz ein. Ich war ein wenig nervös und hoffte inständig, dass sich Butzmann nicht unter den Leuten befand, die dort wartend herumstanden. Ihm jetzt gleich zu begegnen, wäre denkbar ungünstig. Ich drückte mich in meinen Sitz und spähte vorsichtig hinaus. Kein Butzmann. Aber die herbe Schönheit hatte wirklich einen süßen Hintern. Ich stieg als letzter aus und nahm meine Reisetasche in Empfang, die inzwischen aus dem Gepäckfach ausgeladen worden war. Zügig strebte ich zurück zur Straße, an der sich irgendwo die Lodge befinden musste, die ich anhand meines Reiseführers als Bleibe ausgewählt hatte.
Das Bett war ein Kasten aus Spanplatten mit einer dünnen Schaumstoffmatraze darauf. Ich legte mich hin und streckte die Beine aus, die sich nach der langen, unbequemen Fahrt schon fast taub anfühlten. Ich sollte jetzt anfangen, mir etwas konkretere Gedanken zu meinem weiteren Vorgehen zu machen. Die Vorstellung, dass ich Butzmann wahrscheinlich schon bald treffen würde, machte mich allmählich unruhig. Ihm sofort einen Besuch abzustatten nach dem Motto „ich schau` mir gerade die Reisterrassen an und hab gehört, dass Sie auch hier sind, da wollte ich doch wenigstens mal kurz hallo sagen“ wäre wohl keine so gute Idee. Ich sollte mich besser nicht gleich zu erkennen geben, sondern versuchen, etwas mehr über ihn und seine Lebensverhältnisse in Erfahrung zu bringen. Worum ging es in seinem Projekt, und was dachten die Bauern darüber? War er auch ab und zu mal unterwegs, und wenn ja, wo? Solche Dinge.
Um mir davon ein Bild machen zu können, müsste ich ein wenig den Kontakt zu den Einheimischen suchen. Darin hatte ich ja Erfahrung. Ich wusste, wie man am besten mit ihnen ins Gespräch kommt und welche Scherze man machen muss, damit sie ihre Distanziertheit mir, dem Americano gegenüber, überwinden. Ein paar gelernte Worte auf Tagalog beziehungsweise Filipino, der Nationalsprache, kamen dabei immer gut an, obwohl man normalerweise auch problemlos auf Englisch, der zweiten Amtssprache, kommunizieren konnte. Ich müsste allerdings aufpassen, dass ich nicht zu direkt vorging. Es durfte keinesfalls der Eindruck entstehen, als wolle ich über Butzmann Erkundigungen einziehen. Ich sollte mich wie ein harmloser Tourist verhalten, der sich für die Kultur und den Reisanbau interessiert, und dabei die Unterhaltung in die gewünschte Richtung lenken. Damit sie von ganz alleine darauf kamen, mir von Butzmanns Projekt zu erzählen. Also nicht gezielt nach ihm fragen und bloß nicht seinen Namen erwähnen. Niemand sollte sich später daran erinnern können.
Natürlich musste ich auch darauf gefasst sein, Butzmann zufällig irgendwo zu begegnen, was in so einem kleinen Ort nicht unwahrscheinlich war. Dann würde ich eben den Überraschten spielen. Aber es wäre natürlich besser, es selbst in der Hand zu haben. Zu gegebener Zeit. Wenn ich mich ein wenig umgehört hatte. – Okay. Mehr lässt sich im Moment nicht planen.
Nach einer kalten, belebenden Dusche regte sich bei mir der Hunger und ich beschloss, diesen an einem der Garküchenstände, die ich am Marktplatz gesehen hatte, zu stillen. Außerdem wollte noch etwas Alkoholisches auftreiben, um mir dann mit dem Buch über Rilkes Leben und Werk den Abend in der kleinen Kammer so erträglich wie möglich zu gestalten.
Als ich ins Freie tat, war es bereits dunkel. Die Luft war, im Vergleich zu der drückenden Schwüle in Manila, angenehm frisch und mit gefühlten 25 Grad vergleichsweise kühl. Ich überquerte den leeren Marktplatz und steuerte auf eine Reihe von spärlich beleuchteten Läden und Ständen zu, an denen sich Leben abspielte.
Abrupt blieb ich stehen. Kein Zweifel, sie war es. Mir den Rücken zugekehrt, stand die herbe Schönheit an einer Esstheke und inspizierte den Inhalt der Töpfe und Schüsseln, aus denen man sich sein Menü zusammenstellen konnte. Ich schlug einen Bogen, um sie aus einem sicheren Winkel zu beobachten. War sie wirklich allein? Dann sollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ich war allerdings noch ziemlich verunsichert wegen ihrer Reaktion am Mittag und wusste nicht so richtig, wie ich mich deshalb verhalten sollte. Soeben hatte sie sich mit einem Teller an einen der schmalen Holztische im Freien gesetzt. Ohne Begleitung.
Einfach fragen, was sie mir zum Essen empfehlen könnte, beschloss ich und schlenderte los, da ich mich nun in ihrem Sichtfeld befand. Als mein Schatten auf sie fiel, blickte sie auf und lächelte mich an. Ein wenig spöttisch, wie mir schien.
„Möchtest Du mir nicht Gesellschaft leisten? Ich esse ungern alleine.“ Sie machte eine einladende Geste.
„Ja, klar, gerne!“ erwiderte ich eilig. „Ich, äh, hole mir auch noch schnell was.“ Mann, diese unglaublichen Augen, dachte ich nur, als ich mich blindlings zur Theke wandte. Abrupt wurde mein Hungergefühl von einem anderen biologischen Trieb unterdrückt und ich überlegte kurz, ob ich nur ein Bier trinken sollte, um bei der erwarteten Unterhaltung lockerer zu werden. Aber das würde vielleicht keinen guten Eindruck machen und wäre unhöflich. Ich hob den Deckel des ersten Topfes. Dessen Inhalt sah ich als so etwas wie eine geronnene Blutsuppe an. Im nächsten schwammen verkrampfte Hühnerfüße in der Brühe und aus dem Dritten drang ein penetranter Fischgeruch. Ich wählte schließlich eine vegetarische Komposition aus grünen Bohnen und Wasserspinat, zusammen mit der obligatorischen Portion Reis, und nahm mir noch eine kleine Flasche Wasser.
Ich setzte mich ihr gegenüber. Jetzt sollte mir etwas Geistreiches einfallen. Tat es aber nicht.
„Und was machst Du hier in Banaue?“ Ich bemühte mich um ein offenes Lächeln, damit meine Interessensbekundung nicht allein von diesem Satz geprägt wurde.
„Was vermutest Du denn?“ fragte sie schnippisch zurück zwang mich damit zu einer weiteren Äußerung.
Während ich mir etwas ausdachte, fiel mein Blick auf das kleine goldene Kreuz, das sie an einer dünnen Kette am Hals trug und durch ihre Bewegungen im Licht der nahen Gebäude immer wieder aufblitzte.
„Zum Vergnügen wahrscheinlich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass du Ärztin bist. Oder Journalistin vielleicht?“
„Sozialanthropologin“, verkündete sie ohne weitere Erklärung und schmunzelte. Sie spielte mit mir. Zu Recht ging sie davon aus, dass ich von diesem Berufsbild keine Ahnung hatte, aber diese Blöße durfte ich mir nicht geben. Ich nickte vermeintlich wissend. „Und jetzt machst du hier deine Arbeit“, sagte ich.
Sie hielt den Kopf schief und lachte, weil sie mich durchschaut hatte. „Genau. Ich bin von der Diliman-Universität in Manila und mache eine Studie über die Reisbauern. Ich führe Interviews mit ihnen.“
„Aha? Und was willst Du da wissen?“
„Im Prinzip geht dabei um die Zukunft der Reisterrassen. Ich weiß nicht, inwieweit du darüber informiert bist, aber diese Region hier befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Ursprünglich lebten die Ifugao allein vom Reisanbau, der auch eng mit ihrer Kultur und allem was damit zusammenhängt, verbunden war. Dementsprechend wichtig waren natürlich die Reisterrassen, die mit hohem Aufwand bewirtschaftet und instand gehalten werden müssen. Die Wasserversorgung muss funktionieren, die Deiche ständig ausgebessert werden und so weiter.“
„Ich war ziemlich überrascht, wie der Ort hier aussieht“, unterbrach ich sie. Das Thema interessierte mich. „Hier leben doch keine Reisbauern, oder?“ Ich wies auf die umliegenden Gebäude.
„Stimmt. Das hat sich erst in den letzten Jahren bis Jahrzehnten so entwickelt. Ein Faktor dafür war der zunehmende Tourismus, der vielen hier ein gewisses Einkommen beschert. Und die Holzschnitzerei. Souvenirs, die in größerem Maße auch auswärts verkauft werden, zum Beispiel in Manila oder in Japan. Viel Kitsch, aber auch Kunst. Hinzu kommt, dass der Reisanbau den jungen Leuten keine Perspektive mehr bietet, logisch. Hier werden nur traditionelle Sorten angebaut, und man hat nur eine Ernte im Jahr. Das hat früher für die Eigenversorgung gereicht, aber nicht um etwas zu verdienen. Die meisten Jugendlichen gehen deshalb weg, arbeiten in den Städten oder in Übersee, und unterstützen mit dem Geld ihre Familien. Andererseits können immer mehr Eltern ihren Kindern jetzt auch eine gute Ausbildung ermöglichen.“
„Und dann gibt es bald niemanden mehr, der hier noch Reis anbauen will“, folgerte ich und freute mich, dass ein anregendes Gespräch in Gang gekommen war. Es könnte durchaus noch ein längerer und netter Abend werden. Vielleicht sogar ein sehr netter.
„So ist es. Um die Felder kümmern sich jetzt fast nur noch die Alten. Und damit besteht die paradoxe Situation, dass die Reisterrassen durch den Tourismus zwar neue Einkommensquellen geschaffen haben, aber gerade deshalb immer weniger für ihren Erhalt gesorgt wird. Wenn sie verschwinden, kommen auch keine Touristen mehr. Außerdem gehören die Reisterrassen zum Weltkulturerbe der UNESCO, und dieser Status droht dann auch verloren zu gehen. Es sind eben keine steinernen Pyramiden, die ohne weiteres die Jahrhunderte überdauern. Durch meine Befragungen will ich in erster Linie herausfinden, wie dieses Problem in den Familien wahrgenommen wird und welche Konsequenzen sich daraus für ihre Zukunft ergeben. – Und du?“, schob sie unvermittelt hinterher. „Nur auf siteseeing hier?“
„Ich?“ entfuhr es mir überrascht. Ich musste mich räuspern. „Ja ja, ich, äh, komme gerade von Leyte und will mir jetzt endlich mal die Reisterrassen ansehen. Hat bisher nie gereicht, von der Zeit her.“
Um mich interessant zu machen, holte ich gleich weiter aus und berichtete von meiner Lehrtätigkeit an der Visayas State University, erwähnte meine früheren Aufenthalte auf den Philippinen, um meine Erfahrungen mit Land und Leuten zu belegen und erzählte von meinen wissenschaftlichen Aktivitäten. Zumindest am Anfang machte das bei Frauen Eindruck.
„Ich bin übrigens Manuel Biener. Aus Deutschland“, stellte ich mich vor, nachdem ich etwa so lange geredet hatte, wie auch ein Werbeblock im Fernsehen dauert. Es war an der Zeit, sich ein Stück näher zu kommen.
„Und ich bin Kitty. Kitty Mendoza.“
Sieh an, dachte ich. Ihr Familienname war ein Erbe aus der spanischen Kolonialzeit, die offensichtlich auch in ihren Genen Spuren hinterlassen hatte.
Sie schob ihren Teller mit den abgenagten Hühnerkrallen beiseite und zog mit langsamen Bewegungen ihr Armeehemd aus, unter dem sie jetzt ein rotes T-Shirt trug. Dabei drückte sie ihre Schultern zurück und reckte mir so ihre kleinen, festen Brüste entgegen. Ich guckte automatisch hin und genoss den Anblick der Rundungen. Weitere Details blieben leider unter etwas BH-artigem verborgen.
„Bist du öfters hier in Banaue?“ Ich richtete meinen Blick wieder auf ihr Gesicht und tat so, als hätte mich diese Frage gerade intensiv beschäftigt.
„Immer mal wieder. Die Studie hier mache ich im Auftrag der Regierung. Mein Hauptprojekt befasst sich mit den Agta in der Sierra Madre, drüben im Osten von Luzon.“
„Agta?“
„Die Ureinwohner der Philippinen. Sie werden auch ‚Negrito’ genannt.“
Unter diesem Namen waren sie auch mir ein Begriff. Mir war bekannt, dass es sich um eine ethnische Minderheit handelte, deren Angehörige dem Aussehen nach mehr mit den afrikanischen Pygmäen gemein hatten als mit den Filipinos asiatischen Ursprungs. Sie waren klein, hatten eine dunkelbraune Hautfarbe, krauses Haar und lebten als Jäger und Sammler in den verbliebenen Regenwaldgebieten, sofern sie noch nicht von den Zwängen der modernen Welt eingeholt worden waren. Ich hatte mich selbst schon gefragt, woher diese Menschen eigentlich stammten und wollte es jetzt wissen.
Kitty legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit einer langsamen Handbewegung durchs Haar. „Die Agta stammen von den frühesten Gruppen der Menschen ab, die vor etwa 60.000 Jahren Afrika verlassen haben und nach Süd- und Südostasien eingewandert sind. Einzelne Gruppen haben sogar Australien erreicht, wie die Vorfahren der Aborigines“, antwortete sie auf meine Frage hin und lehnte sich wieder vor. Eindeutige Signale des Interesses, aber vermutlich alles noch eher unbewusst, bewertete ich ihr bisheriges Verhalten. „Die Agta waren die ersten Menschen auf den Philippinen, lange vor der asiatischen Bevölkerung. Die hat die Inseln erst vor etwa 5000 Jahren besiedelt, vom asiatischen Festland aus. Agta leben heute auch noch in Malaysia, Thailand und auf den Andamanen. – Möchtest Du auch ein Bier?“
Ich äußerte umgehend meine Zustimmung und Kitty rief der Frau hinter dem Essenstand die Bestellung zu. Diese leitete den Auftrag an einen kleinen Jungen weiter, der daraufhin mit nicht erkennbarem Ziel verschwand. Minuten später standen zwei Flaschen auf dem Tisch. In beiden steckte ein Strohhalm.
„Toller Service!“ bemerkte ich belustigt.
„Ja, das ist Kultur! Damit du dein Bier auch würdig zu dir nehmen kannst. Zuhause macht ihr es doch bestimmt genauso? Im Hof-brau-haus?“ Kitty lachte rauh, was ich ziemlich erotisch fand. Plötzlich wurde sie ernst, neigte den Kopf leicht nach unten und sah mir tief in die Augen. Ich schluckte reflexartig, unterdrückte mühsam einen Hustenreiz und spürte den Adrenalinstoß in den Adern. An meiner Kopfhaut begann es zu kribbeln. Austretende Schweißperlen vermutlich.
Ich durfte ihrem Blick jetzt auf keinen Fall ausweichen, sonst hatte ich das Spiel verloren. Mir war bewusst, dass es sich dabei um eine – evolutionspsychologisch gesehen – vertrauensbildende Maßnahme handelte, mit der sie sich meiner Sympathie und meines Interesses versichern musste, bevor sie eventuell zu mehr bereit sein würde. Also hielt ich tapfer stand, bis sie nach einigen, mir endlos erscheinenden Sekunden den Augenkontakt abbrach und nach ihrer Bierflasche griff, als wäre nichts gewesen.
Langsam ließ ich die unbewusst angehaltene Luft entweichen. Prüfung bestanden. Ich zog den Strohhalm aus der Flasche, setzte sie an den Mund und leerte zügig, aber beherrscht, fast die Hälfte ihres lauwarmen Inhalts.
Im weiteren Verlauf der Unterhaltung wurde ich zusehends entspannter, lachte öfter und ließ ab und zu eine relativ originelle Bemerkung fallen. Das Gespräch drehte sich nun hauptsächlich um die jeweiligen Lebensläufe und ich erfuhr, dass Kitty in den USA, in Berkeley, studiert hatte und 32 Jahre alt war. (Ich hatte sie zuvor ein wenig älter geschätzt.) Die Kontaktaufnahme war damit in eine Phase getreten, in der die ersten persönlichen Daten ausgetauscht wurden, intimere Themen wie Beziehungserfahrungen oder aktuelle Liaisonen aber noch ausgespart blieben. Dass sie höchstwahrscheinlich nicht verheiratet war, hatte ich ja bereits aus dem fehlenden Ehering geschlossen, und demselben Indiz zufolge, konnte sie davon auch bei mir ausgehen.
Gerade als ich anfing, mir Gedanken zu machen, wie dieser Abend wohl enden könnte – ich überlegte, ob ich ihr noch einen kleinen Spaziergang vorschlagen sollte, bei dem ich ihre Reaktion auf zunächst unverfänglichen Körperkontakt testen konnte – stand Kitty kommentarlos auf, ging zur Theke und bezahlte. Sie drehte sich kurz zu mir um, wünschte mir lächelnd eine gute Nacht und entschwand in die Dunkelheit.
Ich saß da wie ein begossener Pudel.
Verdammt, was war denn jetzt schon wieder schief gelaufen? In welchem entscheidenden Punkt hatte ich versagt? Das hatte doch so gut angefangen. Ich unterdrückte den spontanen Impuls, ihr hinterher zu rennen und griff nach meinem Tabak. Ich hatte es natürlich völlig versäumt, sie zu fragen, wo sie übernachtete und auch nicht erwähnt, wo ich mich einquartiert hatte. Herrgott nochmal. Jetzt würde ich sie höchstens zufällig nochmal treffen. Aber selbst wenn – was gäbe es nach diesem Abgang noch zu sagen? Das war ja wohl mehr als deutlich.
Jetzt unterhielt ich schon seit bald 25 Jahren geschlechtsbasierte Beziehungen zu Frauen, aber trotz aller Erfahrungen hatte ich bisher nicht herausgefunden, worauf sich deren Motivation, Sexualkontakte zu schließen, eigentlich begründete. Bei allen anderen Tierarten, von der Küchenschabe bis zur Seekuh, folgt das Werbe- und Paarungsprozedere bestimmten erblich koordinierten und ritualisierten Gesetzmäßigkeiten und ist damit vorhersagbar. Aber die sexuellen Verhaltensmuster von Frauen scheinen, wie übrigens auch sämtliche anderen Stimmungen und Launen, zufallsbedingten Schwankungen ihres komplexen Hormonhaushaltes unterworfen zu sein. Bekannt war nur, dass Frauen zur Zeit ihres Eisprungs eine besondere Schwäche für betont maskuline Attribute zeigen und während der Menstruation das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit vorherrscht. Da ich zum einen nicht mit einem übermäßig männlichen Körperbau gesegnet war, andererseits aber auch nicht gleich als treusorgender und einfühlsamer Partner fürs Leben gelten wollte, hatte ich deshalb immer gehofft, dass sich eine Frau beim Kennenlernen in einer dazwischen liegenden Phase ihres Zyklus befand.
Ist doch alles Scheiße. Frustriert stand ich auf und bezahlte ebenfalls. Jetzt hatte ich das Bedürfnis nach etwas Hochprozentigem. In einem Sari-Sari Store, einem der typischen kleinen philippinischen Dorfläden, besorgte ich mir eine Flasche Rum der Marke Tanduay und dazu, zwecks Herstellung einer trinkbaren Mischung, noch zwei kleine Flaschen Cola sowie eine große Flasche Wasser.
Was soll’s, lautete mein Fazit, als ich im trüben Licht der nackten Glühbirne unter dem quietschenden Deckenventilator auf dem Bett lag und mir verschiedene Szenen des Abends noch einmal vor Augen geführt hatte. Ist doch sinnlos, sich über die Tussi noch irgendwelche Gedanken zu machen. Die wollte einfach nur etwas Unterhaltung beim Essen, und ich kam eben zufällig vorbei, mehr nicht. Wahrscheinlich macht sie das immer so, wenn sie unterwegs ist. Dazu gelegentlich noch ein kleiner Flirt, aber nur, um ihre Wirkung auf Männer zu testen. Blöde Schlampe.
Klar, es wäre natürlich nicht schlecht gewesen, sie ins Bett zu kriegen, aber schließlich hatte ich jetzt weißgott andere Sorgen und konnte mir nicht auch noch eine Frauengeschichte aufhalsen. Wer weiß, was das wieder für einen Rattenschwanz an Problemen nach sich gezogen hätte. Ist eigentlich sogar besser so. Schließlich war ich wegen Butzmann hier, und darauf musste ich mich jetzt konzentrieren. Und damit sollte ich diese Episode jetzt auch abhaken. Und zwar endgültig.
Ich setzte mich auf und füllte zum dritten Mal meinen blauen Plastikbecher, den ich auf Reisen stets dabei hatte, zu gleichen Anteilen mit Cola und Rum. Beim trinken starrte ich auf den rissigen, hellblauen Verputz der Wand mit den rostbraunen Flecken und Streifen darauf, die von erschlagenen, vollgesaugten Moskitos stammten. Dann nahm ich seufzend die dicke Rilke-Biographie, die ich als Reiselektüre mitgeschleppt hatte, zur Hand und schlug das letzte, noch nicht gelesene Kapitel auf. Nach wenigen Zeilen stellte ich fest, dass ich jetzt nicht in der Verfassung war, in Rilkes Welt einzutauchen und blätterte nur noch die Fotoseiten durch. „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern“, las ich auf Rilkes Grabstein und klappte das Buch zu. Weltschmerz kroch in mir empor.
Ich guckte über den Bettrand auf den Fußboden. Keine Cola mehr. Die eine Flasche war leergetrunken, die andere halbvoll umgekippt und auf dem welligen Linoleumbelag ausgelaufen. Egal. Dann eben Rum pur. Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, verzog das Gesicht und ließ mich wieder zurück aufs Bett fallen.
Der Blick auf den geräuschvoll kreisenden Deckenventilator weckte bei mir plötzlich die Erinnerung an eine Szene aus dem Film „Apocalypse now“. Es war die, in der Martin Sheen alias Captain Benjamin Willard in einem schäbigen Hotelzimmer in Saigon – in einem ähnlich psychisch labilen und alkoholisierten Zustand wie ich jetzt – herumhing und auf einen Einsatz wartete. Draußen tobte der Vietnamkrieg. Willard bekam schließlich den Auftrag, den abtrünnigen und anscheinend durchgeknallten amerikanischen Colonel Kurtz, der sich irgendwo im kambodschanischen Dschungel sein eigenes, surreales Reich geschaffen hatte, aufzuspüren und zu eliminieren.
Mein Auftrag lautet, den Bi-Ba-Butzemann aufzuspüren und zu eliminieren, lallte ich vor mich hin, bevor ich in den Schlaf wegdämmerte.