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Freitag, 14. April
ОглавлениеIch folgte der staubigen, unbefestigten Straße, die eher einem Feldweg glich, und ging im Kopf noch einmal meine Strategie durch, die ich mir für die Begegnung mit Butzmann zurecht gelegt hatte. Ich wollte einen interessierten und tendenziell naiven Eindruck erwecken, um Butzmann das Gefühl zu geben, mir aus einer fachlich überlegenen Position heraus gegenübertreten zu können. Das würde er dann, so hoffte ich, zur Selbstdarstellung nutzen. Ich würde mich von seinen Ideen beeindruckt zeigen, kritische Äußerungen vermeiden und wenn es sein musste, ihn für seinen Schwachsinn auch noch loben. So könnte dann eine Basis für weitere Geselligkeiten geschaffen werden.
Butzmanns Haus lag auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Straße und war ein einfaches, aus grauen Hohlblocksteinen errichtetes Gebäude mit Wellblechdach. Es war offensichtlich neu und sollte wohl noch verputzt werden, vielleicht aber auch nicht. Ich stieg die steile, schmale Steintreppe hinauf und öffnete das niedrige Holztörchen zu dem Grundstück. Auf der spärlichen Grasfläche vor dem Haus tummelte sich eine Schar brauner Hühner mit ihren Küken. Da auf mein wiederholtes Klopfen an der Haustür keine Reaktion erfolgte, ging ich um das Gebäude herum. Auf dem leicht ansteigenden Gelände dahinter erstreckten sich bepflanzte und abgeerntete Gemüsebeete. Das Grundstück endete an einem steilen Hang, dessen unterer Bereich terrassiert und mit Reis bestellt war.
Die dunkelblonde Gestalt, die neben einer der Feldparzellen stand und gestikulierte, musste Butzmann sein. Die Filipina, die kniend irgendwelche Setzlinge in die Erde steckte, war wohl seine Frau. Ich ging auf die beiden zu und hoffte, sie nicht zu erschrecken, aber Butzmann sah mich bereits kommen.
„Guten Tag, Herr Butzmann.“ Ich erkannte ihn kaum wieder. Er war deutlich schlanker geworden, hatte längere Haare als früher und trug einen struppigen Vollbart. Sein Gesicht wirkte eingefallen, Pausbäckchen und Doppelkinn hatten sich aufgelöst. Das hellgrün-dunkelgrün karierte, kurzärmelige Hemd und die khakifarbene Leinenhose stammten wohl noch aus alten Zeiten und hingen jetzt mehr als lässig an seinem Körper. Auch seiner Goldrandbrille war er treu geblieben. Ob die billigen Plastiksandalen nur auf dem Feld seine nackten Füße schmückten oder den permanenten Ersatz für seine in Deutschland stets getragenen braunen Treter darstellten, wusste ich nicht, vermutete aber letzteres.
Butzmanns Frau schaute kurz auf und registrierte meine Anwesenheit, grüßte aber nicht. Sie war altersmäßig schwer einzuschätzen, wahrscheinlich aber etwa so alt wie ihr Gatte. Möglich aber auch, dass nur ihr mürrisches Gesicht mit den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln zu dieser Annahme verleitete.
Bereits aus diesen kurzen Eindrücken konnte ich meine ersten Schlüsse ziehen. Butzmann zeigte schon deutliche Anzeichen des so genannten Verbuschungssyndroms. Dieses stellt sich bei westlichen Wohlstandsbürgern zwangsläufig ein, wenn die Aufenthaltsdauer in einem exotischen Kulturkreis unter einfachsten Lebensbedingungen, speziell in abgelegenen Gebieten der Tropen, einen gewissen Zeitraum überschreitet. Der körperliche und seelische Abbau beginnt in der Regel mit Appetitlosigkeit, die durch die penetrante Einfalt der lokalen Nahrungsmittel und Speisen, gegen die sich allmählich eine Aversion entwickelt, hervorgerufen wird. Obwohl anfangs eine positive Einstellung und der Wille zur Anpassung bestehen, wird natürlich die Sitte der philippinischen Bevölkerung, morgens, mittags und abends Reis zu essen, an keinem einzigen Tag mitgetragen. Stattdessen wird zumindest das Frühstück mit Obst bestritten, was zwar gesund ist, auf Dauer aber keine echte Alternative zur gewohnten Bio-Müslimischung mit Milch, dem Fruchtjoghurt oder der deftigen Scheibe Vollkornbrot mit Käse, Wurst oder Marmelade darstellt und binnen weniger Wochen zu Frustration führt. Auch die Motivation, das selbst zubereitete Mittag- oder Abendessen mit hoher Kreativität abwechslungsreich zu gestalten, erlahmt wegen der in kürzester Zeit ausgereizten Möglichkeiten rasch, während der Wunsch nach Kartoffeln, Pizza, Spaghetti und schließlich selbst nach einer Dose Ravioli immer größer wird. In kritischen Phasen, die meist in Kombination mit anderen Widrigkeiten auftreten, wächst sich der Unmut über das Essen sogar zu einem richtigen Zorn aus, der wie bei einem Kleinkind zu einer trotzbedingten Nahrungsverweigerung ausarten kann und bei labilen Charakteren den Hang zur Selbstzerstörung offenbart, der konsequenterweise mit dem übermäßigen Konsum von Alkohol einhergeht.
Ein weiteres Merkmal des Verbuschungssyndroms ist der minimierte Selbstanspruch an das äußere Erscheinungsbild, vor allem hinsichtlich der Körperpflege. Die Vernachlässigung derselben stellt sich ein mit der Erkenntnis, dass es sowieso niemanden interessiert, wie man herumläuft. Die Notwendigkeit, sich diesbezüglich zu disziplinieren, besteht vor allem deshalb nicht, weil es im direkten Umfeld keine Frauen gibt, die man beeindrucken kann (einschließlich der eigenen) oder darf (sofern man keine unbedingten Heiratsabsichten verfolgt).
Am bemerkenswertesten an Butzmanns Zustand war sein Bart, der den eindeutigen Beweis dafür lieferte, dass seine Ehe völlig im Eimer war. Nach allen Erfahrungen, die ich zu Zeiten meiner Forschungsaufenthalte auf den Philippinen gesammelt hatte, stand dies zweifelsfrei fest. Auf keine meiner damaligen weiblichen Bekanntschaften aus den Clubs von Cebu City und Manila übte eine männliche Gesichtsbehaarung auch nur den Hauch von erotischer Anziehungskraft aus. Dies wurde mir aber erst bewusst, als ich nach einem langweiligen Empfang im deutschen Kulturzentrum in Cebu City, auf der Nachbarinsel von Leyte, einmal zufällig frisch rasiert in meiner Lieblingsbar erschien und mir dort ein bisher nicht gekanntes Maß an Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, was mehrfach bestätigten Aussagen zufolge allein auf das Fehlen meines sonst vorhandenen Drei- bis Sieben-Tage-Bartes zurückzuführen war.
Für die Abneigung der philippinischen Frauen und vermutlich auch anderer Asiatinnen gegenüber Bärten hatte ich eine einfache Erklärung gefunden: Sie beruht auf der sexuellen Prägung in ihrer Kindheit. Da philippinische Männer nur einen spärlichen Bartwuchs aufweisen und diesen auch nur in sehr seltenen Fällen sprießen lassen, kannten die Mädchen von den Bezugspersonen, mit denen sie groß geworden sind – Väter, Brüder, Onkel – keine richtigen Bärte und sahen solche deshalb auch nicht als attraktiv an. In westlichen Ländern fanden zumindest manche Frauen Bärte in irgendeiner Form reizvoll, vermutlich weil sie als Kinder damit bei entsprechend ausgestatteten Familienangehörigen vertraut wurden. Als Indiz für diese These wertete ich den wissenschaftlich erbrachten Nachweis, dass Frauen und Männer solche Partner bevorzugen, die ihrem andersgeschlechtlichen Elternteil ähnlich sehen.
„Herr Biener.“ Butzmann ergriff nur zögerlich meine Hand, die ich ihm auffordernd entgegenstreckte, sah mir flüchtig ins Gesicht und dann auf den Boden. Irgend eine emotionale Regung, die so etwas wie Erstaunen oder gar Freude ausdrückte („Ja sowas! Das ist doch der Herr Biener? Ich glaub’s ja kaum! Das nenn` ich aber eine Überraschung!“), zeigte er nicht.
„Wie geht’s ihnen denn? Ich sehe, sie haben sich hier eine kleine Idylle geschaffen“, versuchte ich ein lockeres Gespräch zu eröffnen und ließ meinen Blick über die Beete schweifen, auf denen Bohnen, Zwiebeln, Tomaten und andere Gemüsesorten gediehen.
„Ja, ja. Macht viel Arbeit.“, gab Butzmann von sich. Vor allem deinem Weib, ergänzte ich in Gedanken.
„Ist aber sehr schön gepflegt. Gefällt mir wirklich gut. Das da drüben ist doch Spinat, wächst der gut hier?“ plapperte ich.
„Das ist Petsay. Ein Kohlgemüse.“
„Aha. Was machen sie mit den ganzen Sachen? Das ist ja sicher auch für die Bauern hier interessant. Mit Gemüse lässt sich doch gutes Geld verdienen. Ich habe gehört, dass es mit dem Reis hier nicht mehr so gut läuft.“
„Nein, Reis läuft hier nicht mehr so gut.“
„Sie arbeiten hier doch als landwirtschaftlicher Berater, wie ich mitbekommen habe. Was empfehlen sie denn den Bauern?“
„Ich leite ein Projekt von Food-for-Asia. Das habe ich auch selbst entwickelt. Der traditionelle Reisanbau hier ist nicht mehr zeitgemäß. Muss man ganz klar sehen. Die Bauern wollen auch am Fortschritt teilhaben. Sie müssen profitabel wirtschaften. Mit der intensiven Produktion marktfähiger Kulturen. Gemüse und Hochertragssorten von Reis.“
Butzmann war zwar immer noch etwas mundfaul und seine verschränkten Arme signalisierten Distanz, aber immerhin hatte er jetzt schon mehr als einen Satz am Stück von sich gegeben. Ich tat so, als würde ich kurz über seine revolutionäre Idee nachdenken und gab mich dann beeindruckt. „Das ist sicher ein guter Ansatz. Eigentlich ganz logisch! Und eröffnet völlig neue Perspektiven. Gerade jetzt, wo auch noch dieses komische Unkraut Probleme macht. – Was ist da eigentlich los?“
Butzmann gab seine starre Körperhaltung auf und kratze sich unter den Achseln, wo sein Hemd untertassengroße Schweißflecken aufwies.
„Dieses Unkraut, ja.“ Er rieb sich die Hände an den Hosenbeinen ab. „Es überrascht mich nicht. Warum? Weil es die ganze Situation hier bestätigt. Die Felder werden nicht mehr ordentlich gepflegt. Es wird nur schlampig gejätet. Wenn man da nicht hinterher ist, wuchert alles zu. So ist das.“
„Und in ihren Reisfeldern da oben ist nichts?“
„Nein. Alles bestens.“
„Kommt ihre Frau eigentlich von hier aus der Gegend?“ erkundigte ich mich, damit der dünne Gesprächsfaden nicht abriss.
„Nein. Sie ist nicht von hier.“
Mein Elan flachte ab wie eine Welle am Strand. Alle Bemühungen, Butzmann in Plauderstimmung zu versetzen, liefen ins Leere. Einen letzten Versuch wollte ich aber noch unternehmen.
„Diese verschiedenen Sorten Gemüse, die sie hier anbauen. Zeigen Sie mir, was das alles ist? Sie sind ja der Experte.“
„Ich habe im Moment wenig Zeit.“ Butzmann hob den linken Arm und schaute auf sein Handgelenk, an dem sich aber keine Uhr befand. „Ich bin gerade erst von einer längeren Reise zurückgekommen.“
„Ach so, wo waren Sie denn?“, fragte ich dreist, um wenigstens noch eine interessante Information zu erhalten.
„Laos.“
Laos, so, so. Was er da wohl gemacht hat? Auf diese Frage wollte ich es jetzt nicht mehr ankommen lassen, um Butzmann nicht zu verstimmen. Das durfte ich im Moment noch nicht riskieren.
„Gut, Herr Butzmann. Dann will ich sie auch nicht länger aufhalten. Ich bin ja noch ein paar Tage hier, dann schaue ich einfach ein anderes mal wieder vorbei. Bis dann!“, kündigte ich an und vermied es, Butzmann die Hand zu reichen.
Da sich Frau Butzmann, weiter Setzlinge pflanzend, inzwischen zu weit entfernt hatte, um einen verabschiedenden Gruß noch in normaler Gesprächslautstärke übermitteln zu können, verzichtete ich darauf und wandte mich zum Gehen.
Das lief nicht besonders gut. Verdammt. Es war zwar klar, dass mein erster Besuch bei Butzmann nicht mit einer Blutsbrüderschaft enden würde, aber dass es so schwierig war, einen Zugang zu ihm zu finden, hatte ich nicht erwartet.
Vielleicht hätte ich ihm eine Kleinigkeit mitbringen sollen, eine Flasche Wein aus Deutschland oder so. Quatsch, dann hätte ja alles nicht mehr nach Zufall ausgesehen, fiel mir ein. Egal jetzt, ich musste mir etwas anderes überlegen. Ein Ansatzpunkt wäre vielleicht seine Frau. Wenn sie zum Einkaufen ging oder so, könnte ich mit ihr ein Gespräch anfangen, um auf diese Weise an weitere Informationen zu kommen. Eine große Aussicht auf Erfolg versprach das allerdings nicht, nach meinem Eindruck von ihr. – Nein, kann man vergessen.
Dann kam mir ein neuer Gedanke. Wie wäre es denn, wenn man Kitty darauf ansetzen würde. Genau. Gute Idee. Ich würde Butzmann noch einmal besuchen, dann aber mit Kitty im Schlepptau. Wenn es noch jemanden gelingen konnte, die Atmosphäre dort aufzulockern, dann ihr. Sie würde mit Sicherheit auch einen Draht zu seiner Frau bekommen, und die würde dann etwas zutraulicher werden. Meine Stimmung hellte sich wieder auf.
Ich war soeben in die Lodge zurückgekehrt, als mir mein Handy den Eingang einer SMS signalisierte. „Manuel, habe Neuigkeiten zum Unkraut. Komme mit Nachtbus, bis morgen früh, Erik“, lautete die Botschaft. Da kann man ja mal gespannt sein. Wenn sich Erik extra hier her bemühte, hielt er die Sache wohl für ziemlich bedeutend.
Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit frisch rasiert und geduscht in Richtung Marktplatz begab, geschah dies natürlich in der Hoffnung auf eine weitere Begegnung mit Kitty. Wenn sie mich aus einer spontanen Laune oder einem tiefen Bedürfnis heraus heute noch einmal sehen wollte, konnte sie davon ausgehen, mich dort zu finden. Ich würde mich also eine Weile dort herumtreiben, denn schließlich hatte ich ihr ja auch etwas mitzuteilen. Die Nachricht von Erik.
Ich hielt den verstaubten, mit einem Geflecht aus Rattan verzierten Schädel eines Schweins in den Händen, der, wie mir der Inhaber des Souvenirladens erklärte, früher ein Ifugaohaus schmückte. Ganz früher allerdings, zu Zeiten der Kopfjagd, verwendete man dafür die Schädel der getöteten Feinde, die dann leider gegen solche Ersatzteile ausgetauscht werden mussten. Wenn Interesse bestünde, könne er, der Inhaber, mir aber auch eine Original-Kopfjagdtrophäe besorgen. Verfügbar seien noch solche von japanischen Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg, die in den Wäldern der Gegend aufgespürt wurden, wohin sie nach der Kapitulation von General Yamashitas Armee, hier im benachbarten Tal, geflohen waren. General Yamashita übrigens war im Besitz eines enormen Goldschatzes, den er nicht mehr außer Landes bringen konnte, sondern irgendwo hier in der Nähe ...
Ich bekam nicht mehr mit, was der Alte weiter erzählte, da ich aus dem Augenwinkel heraus Kittys Anwesenheit registriert hatte. Sie stand wenige Meter neben mir und beobachte mich amüsiert.
„Danke, das mit dem Schweineschädel werde ich mir überlegen“, sagte ich höflich, gab das Stück zurück und wandte mich Kitty zu, die mich mit ihrer typischen Art – den Kopf leicht zur Seite geneigt – anlächelte.
„So ein Zufall aber auch“, bemerkte ich schmunzelnd. Ich freute mich.
„Nicht wahr? Und das in einer so großen Stadt!“, erwiderte sie munter.
Ihre offenbar gute Laune ausnutzend, wagte ich es, sie kurz am nackten Arm zu tätscheln.
„Darf ich dich zum Essen einladen?“, fragte ich.
„Die Vielfalt der einheimischen Küche genießen. Gerne. Dort wo wir letztes Mal waren oder am Stand nebenan?“
„Beehren wir doch zur Abwechslung mal die andere Wirtin. Damit es keinen Neid gibt zwischen den beiden.“
„Tja, wenn das so einfach wäre. Wenn wir jetzt woanders hingehen, denkt unsere erste Köchin, dass es uns bei ihr nicht geschmeckt hat. Dann ist sie gekränkt und die andere schadenfroh.“
„Wenn das so ist, dann dürfen wir gar nichts essen. – Vielleicht sollten wir einfach nur an uns denken?“, meinte ich und hoffte, dass Kitty diese Bemerkung nicht allein auf das Essen bezog. Ich muss jetzt aufs Ganze gehen, nahm ich mir vor. Morgen steht dieser Erik auf der Matte und dann würde ich kaum noch mit Kitty allein sein können.
Auf unserem Weg zum Küchenstand fegte eine heftige Windböe über den Platz und wirbelte Staub und Abfälle auf. Donnergrollen und Wetterleuchten hinter den Bergen kündigten ein nahendes Gewitter an. Ich legte überflüssigerweise schützend den Arm um Kitty und zog sie an mich.
Nur wenige Sekunden nach den ersten dicken Tropfen, die uns noch während des Essens am Tisch trafen, kam es zum Wolkenbruch. Der wahre Sinn dieses Wortes offenbart sich einem nur in den Tropen. Gigantischen, schwebenden Wasserbehältern gleich, entladen die Gewitterwolken schlagartig ihren Inhalt. Dabei entstehen keine Tropfen, sondern dicke Wasserstränge, die sich wiederum zu wasserfallartigen Schleiern verbinden und mit einem gewaltigen Tosen herabstürzen. Mittendrin hat man das Gefühl der völligen Isolation, da selbst die unmittelbare Umgebung optisch und akustisch plötzlich verschwindet. Auf ebenem Gelände, wie jetzt auf dem Marktplatz, staut sich das Wasser binnen kürzester Zeit auf mehrere Zentimeter, da die auftreffende Menge weit größer ist als die, die irgendwo abfließen kann.
Wir sprangen auf und suchten Zuflucht hinter dem Wasserfall, der vom schmalen Dachvorsprung eines nahen Gebäudes herabschoss. Im trüben Licht der Neonleuchte, die unter dem Wellblech angebracht war, richtete sich mein Blick zunächst auf Kitty Brust, an der das durchnässte, weiße T-Shirt klebte. Darunter befand sich aber leider noch ein dunkles, eng anliegenden Oberteil aus einer Art Stretchstoff, für das es sicher auch einen Fachbegriff gab, den ich aber nicht kannte.
Dann schaute ich Kitty in die Augen und strich ihr zärtlich das nasse Haar aus dem Gesicht, während ich mit der anderen Hand an ihrem Rücken rieb. Kitty ließ beides einen Moment lang geschehen, bis sie meine Hände in ihre nahm und sie drückte, während sie mich mit ihren großen Augen ansah. Ein deutliches Zeichen. Ich erwiderte den Druck ihrer Hände und überlegte krampfhaft, was ich Kitty auf diese Geste hin bedeutsames sagen sollte. „Du hast wunderschöne Augen“, wollte ich schließlich romantisch flüstern, musste ihr diese Worte im tosenden Lärm aber beim dritten Versuch der Übermittlung ins Gesicht brüllen, damit sie bei ihr ankamen.
Daraufhin ging ich wieder zur nonverbalen Kommunikation über und streichelte Kitty an der Wange. Ihr scheu und verletzlich wirkender Blick verlangte nach Vertrauen. Ich verstand. Ich durfte nicht zu direkt vorgehen. Sie wollte spüren, dass ich es nicht nur auf Sex anlegte. Ich zog meine Hand, die langsam in Richtung ihrer Brust hinuntergleitete, wieder zurück und kraulte Kitty im Nacken. Dann drückte ich ihr den Mund auf die Stirn und ließ ihn einen Augenblick lang dort verweilen. Genießerisch schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, dachte ich spontan an eine heimtückische, Blindheit verursachende Tropenkrankheit, weil ich plötzlich von völliger Finsternis umgeben war.
„Stromausfall“, schrie Kitty. Natürlich. Auch das gehörte zu den Begleiterscheinungen eines Unwetters auf den Philippinen, vor allem in abgelegenen Ortschaften mit einem maroden Kabel- und Verteilersystem. Aber ich war für eine solche Situation gewappnet. In meinem Rucksack befand sich neben zwei Kerzen und einer in Plastik eingeschweißten Streichholzschachtel, womit ich auch nach Katastrophen größeren Ausmaßes noch in der Lage war Licht zu machen, falls ich dann noch lebte, auch eine dieser kleinen, praktischen LED-Taschenlampen. Und Ersatzbatterien.
„Lass uns auf mein Zimmer gehen, du brauchst was Trockenes zum Anziehen“, bot ich brüllend an, als ich merkte, dass Kitty zu frösteln begann. „Sonst erkältest du dich noch.“ Mein Vorschlag beruhte zu etwa gleichen Anteilen auf Fürsorge und Hintergedanken. Um Kitty gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, irgendwie darauf zu reagieren, nahm ich sie an die Hand, marschierte los und zog sie durch die Fluten hinter mir her. Das Unternehmen gestaltete sich schwieriger als gedacht. Das Licht der Taschenlampe drang nicht weit genug durch die Wasserwand, um eine Orientierung zu ermöglichen. Um Zusammenstöße mit Hausmauern und anderen Hindernissen zu vermeiden, tastete ich mich im knöcheltiefen Wasser langsam voran. Schließlich erreichten wir den Fluss, in den sich die leicht abschüssige Straße verwandelt hatte, und folgten der Fließrichtung, die den Weg zur Lodge wies.
Ohne jemandem begegnet zu sein, betraten wir mein Zimmer im ersten Stock. Durch die hohe Feuchtigkeit war der ständig im Raum stehende Schimmelgeruch noch intensiver geworden. Ich zündete eine Kerze an und befestigte sie mit flüssigem Wachs am Rand des Waschbeckens. Dann zog ich das frische Handtuch, das ich zum Glück noch hatte, aus meiner Reisetasche und reichte es Kitty. Um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, schaute ich weg und wühlte in der Tasche unnötig lang nach einem sauberen T-Shirt. Als ich mich wieder umdrehte, hatte Kitty nichts mehr an und machte keinerlei Anstalten, ihre Nacktheit vor mir zu verbergen. Sie stand einfach da, mir zugewandt, und hielt das Handtuch in der herabhängenden Hand. Ihren Blick konnte ich im schwachen, flackernden Licht der Kerze nicht deuten, was mir jetzt aber auch egal war. Für mich bedurfte es jedenfalls keiner weiteren Aufforderung, mir meine nassen Kleidungsstücke vom Leib zu zerren und auf Kitty zuzugehen. Mein Vorhaben, sie an mich zu drücken, um ihren warmen Körper auf meiner Haut zu spüren, vereitelte Kitty mit ausgestrecktem Arm. Die Hand gegen meine Brust gedrückt, schob sie mich so weit rückwärts, bis ich mit den Waden an die Bettkante stieß und nach hinten fiel. Dann setzte sie sich auf mich.