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Mittwoch, 22. Februar
Оглавление„... es sei denn, er stirbt.“
Der Präsident der Universität Hohenheim lehnte sich in seinen komfortablen Bürosessel zurück und ließ seine Worte wirken. Mit dem Blick eines Forschers, der den Ausgang eines spannenden Experiments beobachtet, erwartete er meine Reaktion.
Sie folgte wie auf einen Schlag ins Genick. Meine gestraffen Schultern, die Souveränität und Selbstsicherheit ausstrahlen sollten, fielen nach vorne. Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen und starrte mit geweiteten Augen ins Leere. Das Unfassbare war eingetreten. Keine Forschung mehr, keine Stelle, kein Geld.
Aber das war noch nicht alles. Nun drohte auch die Vollendung meines großen wissenschaftlichen Werkes zu scheitern. Das Buch mit meiner neuen Theorie, die in Synthese mit Darwins Evolutionstheorie nichts Geringeres als ein neues biologisches Weltbild begründen würde.
Und jetzt versank alles in einem tiefen, schwarzen Loch.
Alle reden von mehr Bildung, aber zu viel Bildung ist auch nicht gut. Denn damit kann man sich seine Zukunft genauso verbauen wie ohne einen Abschluss. Diese Einsicht kam für mich allerdings zu spät, nach bald zwanzig Jahren an der Uni – mit Studium, Promotion und schließlich Habilitation auf einer Forschungsstelle am Institut für Tropenökologie. Ist doch eine solide Laufbahn in der Wissenschaft, denken Sie jetzt. Aber nicht im richtigen Leben. Dort bewegte ich mich auf einem schmalen Grat mit Blick in den Abgrund. Mit meinen 39 Jahren zählte ich nämlich zum akademischen Prekariat, wie man das neuerdings nannte. Eine Wortschöpfung findiger Soziologen, die fies an „Proletariat“ erinnerte, aber dennoch politisch korrekt klingen sollte. Prekariat kommt von prekär, was soviel heißt wie „ungewiss, bedenklich“. Und das traf meine Situation auf den Punkt. Mein Arbeitsvertrag war auf zwölf Jahre befristet, und mehr als elf davon waren bereits vergangen. Eine Verlängerung war nicht möglich, da meine Stelle dem wissenschaftlichen Nachwuchs vorbehalten war und entsprechend neu besetzt werden musste. Außerhalb der Uni war mein Wissen und Können – mein Fachgebiet sind übrigens die evolutionsgeschichtlichen Anpassungsprozesse zwischen Pflanzen und Insekten – nicht gefragt. Ich denke, damit ist der Kern meines Problems klar genug umrissen.
Ich musste also einen Weg finden, auf dem ich nicht nur meine materielle Existenz sichern, sondern auch die Arbeit an meiner neuen Theorie unbeschwert fortführen konnte. Von einem Wunder abgesehen, gab es dafür nur zwei Möglichkeiten: Ich konnte entweder hoffen, eine Professur und damit eine unbefristete Beamtenstelle zu erlangen oder versuchen, Forschungsprojekte einzuwerben, um mich damit selbst zu finanzieren. Echte Optionen waren das allerdings nicht. Professuren und andere wissenschaftliche Planstellen, die meinem Profil entsprachen, waren an Universitäten äußerst dünn gesät, wie Sie sich vorstellen können. Und ich war natürlich bei weitem nicht der Einzige, der seine Hoffnungen in eine der seltenen Ausschreibungen setzte. Auch bei der Beantragung von Forschungsprojekten bei Geldgebern wie der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, war ein Erfolg alles andere als garantiert. Außerdem war die Förderdauer solcher Projekte auf wenige Jahre begrenzt und eröffnete damit keine längerfristige Perspektive.
Bis vor einem Jahr sah ich dem Ende meiner Anstellung noch relativ entspannt entgegen. Bis dahin konnte sich schließlich noch einiges tun, sagte ich mir. Knapp ein Jahr später hatten sich 13 Absagen auf 13 Bewerbungen getan. Anfangs noch zuversichtlich, hatte ich mich europaweit auf sämtliche in Frage kommenden Ausschreibungen beworben, von denen auch noch fast die Hälfte nur Notlösungen darstellten. Ich wurde sogar dreimal zum Bewerbungsgespräch eingeladen, aber eine echte Chance hatte ich wohl nie. Mein Selbstvertrauen war geschwunden. Massive Zukunftsängste übernahmen die Macht. So hat das keinen Sinn mehr, wurde mir angesichts des bedrohlich näher rückenden Termins bewusst. Jetzt musste eine andere Lösung her.
Mein daraufhin entwickelter Aktionsplan sah zwei konkrete Maßnahmen vor: Maßnahme Nummer eins war ein Antrag auf Entfristung meines bestehenden Arbeitsvertrags. Ich hatte gehört, dass es in Ausnahmefällen möglich war, eine befristete Assistentenstelle, wie ich sie hatte, in eine Dauerstelle umzuwidmen. Die Befugnis dafür hatte der Präsident der Universität. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was unter einem Ausnahmefall zu verstehen war und welche Gründe dafür überhaupt in Frage kamen. Die Wahrscheinlichkeit, das durchzukriegen, war nicht besonders hoch, das war mir klar. Aber ich musste es wenigstens versuchen.
Maßnahme Nummer zwei war ein Antrag auf Verlängerung meines derzeit laufenden, DFG-finanzierten Forschungsprojekts in China, in dem ich mich mit verschiedenen Formen der Symbiose zwischen Ameisen und Pflanzen befasste. Für die Folgephase würde ich einfach statt eines neuen Doktoranden eine Post-Doc-Stelle für mich selbst beantragen. Allerdings müsste ich dann die nächsten Jahre überwiegend in China zubringen. Nicht gerade mein seligster Wunsch, war aber nicht anders zu machen. Immerhin bestand bei dieser Maßnahme eine realistische Aussicht auf Erfolg. Forschungskooperationen mit China waren an sich gerne gesehen, weshalb ich auch auf einen gewissen Bonus bei der Begutachtung des Antrags hoffte.
Daraufhin hatte ich wieder ein ganz gutes Gefühl. Es war noch lange nichts verloren.
Den Antrag auf Entfristung meiner Stelle hatte ich mit den beiden Professoren meines Instituts abgesprochen und vor vier Monaten gestellt. Nach wie vor im Unklaren über die Kriterien für einen Ausnahmefall, zielte meine Strategie darauf ab, den Präsidenten zu der Einsicht zu bringen, dass ich, Privatdozent Dr. Manuel Biener, auf dieser Stelle unersetzbar war. Ich allein würde in der Lage sein, die erforderliche Qualität und Kontinuität in Lehre und Forschung in diesem Fachgebiet aufrecht zu erhalten. Unmissverständlich musste klar werden, dass ein junger, unerfahrener Neuling mit diesem anspruchsvollen Themenfeld restlos überfordert wäre. Im Brief an den Präsidenten verwies ich auf meine bisher erbrachten wissenschaftlichen Leistungen, die ich anhand einer durchaus vorzeigbaren Liste an Publikationen in renommierten Fachzeitschriften nachweisen konnte, sowie auf mein bereits vor Jahren veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Funktion und Bedeutung der Ameisen in den feuchten Tropen“. Desweiteren ging ich auf meine erfolgreich umgesetzten Forschungsprojekte ein und malte Pläne für die Zukunft, wobei ich meine Absicht, eine Verlängerung für das China-Projekt zu beantragen, besonders hervorhob. – Gut, stellenweise hatte ich etwas dick aufgetragen, musste ich mir beim Durchlesen der Endversion meines Schreibens eingestehen. Aber insgesamt fand ich die dreieinhalb Seiten, auf die ich meinen ersten Entwurf von über acht Seiten letztendlich heruntergekürzt hatte, ziemlich gelungen. Wie in einem guten wissenschaftlichen Aufsatz war meine Argumentationskette logisch aufgebaut und der Beweis der These (hier lautend: Manuel Biener ist unersetzbar) zwingend erbracht.
Drei Wochen später trat ein, was ich kaum zu hoffen gewagt hatte: vom Präsidenten erhielt ich die Antwort, dass mein Antrag auf Dauerbeschäftigung grundsätzlich befürwortet sei, allerdings vorbehaltlich der Erfüllung zweier Voraussetzungen. Erstens müsse ich mich bereit erklären, ein Viertel meiner Arbeitszeit für Tätigkeiten in der universitären Administration zur Verfügung zu stellen, wobei der genaue Aufgabenbereich noch festzulegen sei, und zweitens müsse ich, mit Blick auf die Zukunft, einen weiteren Nachweis meiner wissenschaftlichen Exzellenz erbringen. Im vorliegenden Fall wäre ein solcher jedoch durch die Genehmigung des in meinem Schreiben erwähnten Verlängerungsantrags des DFG-Projekts gegeben.
Sie können sich vorstellen, wie ich mich fühlte! Meine Welt war wieder im Lot, und ich war richtig stolz auf mich. Herausragende fachliche Kompetenz und das Geschick zur Selbstdarstellung ohne falsche Bescheidenheit – das war der Schlüssel zum Erfolg. Hey, das hatte ich goldrichtig gemacht.
Da ich als solcher ein besonnener Mensch bin, war mir aber durchaus bewusst, dass ich mich noch nicht ganz auf der sicheren Seite befand. Ich hatte auch nicht ernsthaft erwartet, dass mir der Präsident die Stelle quasi schenken würde. Die daran geknüpften Bedingungen waren jedoch nicht überzogen oder unrealistisch, sondern durchaus im Rahmen des Machbaren. Eigentlich ziemlich fair. Mit den auferlegten Verpflichtungen musste ich meine Bereitschaft erkennen lassen, auch etwas zum Gemeinwohl der Universität beizutragen, damit an anderer Stelle Personal eingespart werden konnte, und die geforderte Bestätigung meiner Qualifikation war ebenfalls legitim. Jetzt hing alles von dem Antrag zu meinem China-Projekt ab, den ich fristgerecht in sechs Wochen einreichen musste. Zeit genug also, um mit der frisch gewonnenen Motivation alles daranzusetzen, das Vorhaben überzeugend darzustellen. Auf die zwischenzeitlich angedachte Beantragung einer eigenen Stelle konnte ich jetzt getrost verzichten und, wie bisher, einen Doktoranden als wissenschaftlichen Bearbeiter einsetzten. Für mich definitiv die bequemere Lösung.
Als mir dann, Wochen später, beim ersten Blick auf das Schreiben von der DFG ins Bewusstsein drang, dass Wörter wie „leider“ und „bedauern“ mit einem Bewilligungsbescheid nicht in Einklang zu bringen waren, hatte mein Körper schlagartig das volle Programm der hormonellen und neuronalen Prozesse ausgelöst, die von der Natur als adaptive Reaktion auf existenzielle Bedrohungen vorgesehen waren. Der allgemeinen Theorie zufolge sollte der Organismus damit an seinen Überlebenswillen erinnert und in die Lage versetzt werden, entweder durch Flucht oder einen Angriff das relative Wohlbefinden wieder herzustellen. An viele der Situationen, die in der modernen Zivilisationsgesellschaft das Überleben des Individuums gefährden konnten – zum Beispiel Ablehnungsbescheide der DFG – hatte jedoch im Verlauf der Menschheitsentwicklung keine evolutionäre Anpassung stattgefunden, sodass das physiologisch eingeforderte Nachgeben des Fluchtinstinkts auch in diesem Fall keine dauerhafte Entspannung in Aussicht stellte. Bei mir entlud sich dieser innere Konflikt zunächst in destruktiven Zornausbrüchen, die sich allmählich in bitterer Verzweiflung erschöpften, bis ich schließlich – bereits ziemlich angetrunken – in lamentierendes Selbstmitleid verfiel und mir das baldige Ende meines elenden Scheißlebens herbeiwünschte, um nicht länger sinnlos leiden zu müssen. Bei aller Bereitschaft zur Offenheit möchte ich den genauen Ablauf dieses Geschehens hier jedoch nicht wiedergeben, um mir vor Ihnen noch einen Rest an Würde zu bewahren. Das Maß an Verständnis, das Sie jetzt vielleicht für mich aufbringen, wird ohnehin noch auf eine harte Probe gestellt.
Tags darauf, als die akuten Stresssymptome abgeklungen und der Rest der Nacht mit Unterstützung einer zusätzlichen Flasche Rotwein irgendwie überstanden war, hatte ich beschlossen, mich am Riemen zu reißen und der Gefahr, in lähmende Resignation zu verfallen, mental gegenzusteuern. Ausgestattet mit diesem Vorsatz, fühlte ich mich trotz meines immer noch leicht aufgedrehten Zustands in der Lage, halbwegs klare Gedanken zu fassen. Deshalb verzichtete ich jetzt auch auf eine Rückfrage bei der DFG, um auszuschließen, dass es sich bei meinem Ablehnungsbescheid lediglich um die folgenschwere Verwechslung mit einem anderen Antragsteller handelte. Anders als noch letzte Nacht, hielt ich einen solchen Irrtum nun für eher unwahrscheinlich.
Dennoch fragte ich mich verstört, wie es sein konnte, dass die Gutachter zu einem derart vernichtenden Urteil gekommen waren. Aus dem allgemein gehaltenen Schreiben der DFG ging dies nicht hervor, und die Möglichkeit, die zu meinem Antrag erstellten Gutachten einzusehen oder gar gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen, bestand nicht.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in meinem näheren oder weiteren wissenschaftlichen Umfeld jemanden gab, der aus Konkurrenzgründen ein Interesse an der Ablehnung meines Projekts haben könnte. Auch persönliche Feinde, die in der Position waren, mir auf diese Weise zu schaden, hatte ich mir meines Wissens nicht gemacht. – Gut, da gab es die Sache mit der Gattin eines Professors, die auf einem Hochschulfest von ihrem wichtigen Mann, der eben erst Dekan geworden war, vernachlässigt wurde. Sie, eine recht gut aussehende, elegante Mittfünfzigerin mit rotblond gefärbten Haaren, hatte mich nach einem Blickkontakt, dem ich eine Weile standhielt, angesprochen. Ich habe übrigens immer wieder festgestellt, dass ich auf ältere Frauen einen gewissen Eindruck mache. Keine Ahnung, wieso. Ich selbst halte mich, ehrlich gesagt, für höchstens mittelmäßig attraktiv. Ich bin knapp einsachtzig groß und eher schmächtig. Meine schwarzen Locken und die dunklen Augen stammen wohl aus dem Genpool meiner Schweizer Großeltern, deren Vorfahren wiederum aus Italien stammten. Was mich an meinem Aussehen stört, ist meine spitze Nase und vor allem mein unproportional breites Kinn, wodurch mein Kopf richtig eiförmig aussieht. Mit einer entsprechenden Frisur versuche ich, diese Wirkung einigermaßen zu kompensieren.
Mit jüngeren Frauen läuft es nicht so gut. Ich hatte zwar immer wieder Freundinnen, die mich „sehr nett“ fanden und meine angeblich „jungenhafte Art“ mochten. Aus verschiedenen Gründen, die jetzt nicht alle aufgezählt werden müssen, sind diese Beziehungen jedoch immer nach recht kurzer Zeit gescheitert. – Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich oft das Gefühl, von den Frauen nicht richtig ernst genommen zu werden. Sie behaupten zwar, meine Arbeit „interessant“ zu finden, aber wirklich etwas wissen wollen sie davon nicht. Während ich leidenschaftlich von meinen Erkenntnissen erzähle, fangen sie unvermittelt an, andere Sachen nebenher zu machen. Blumen gießen, Wäsche sortieren oder sowas. Nachdem ich dann meine Ausführungen beendet hatte, bedachten sie mich mit einem nicht zu deutenden Blick, tätschelten mich am Arm und sagten so etwas wie: „Mein großer Forscher.“ Sonst nichts. Toll. Als wäre ich ein Kleinkind, das entdeckt hat, dass Mami im Sitzen pinkelt und Papi im Stehen. Was ich dann allerdings früher oder später immer zu hören bekam, war der Vorwurf, dass mir meine Forschung wohl grundsätzlich wichtiger sei als die Beziehung. Selbstkritisch muss ich dazu bemerken, dass sie damit grundsätzlich recht hatten. Es gab nur eine Frau, bei der alles anders war. Ganz anders. Sie hieß Irmtraud. Merken Sie sich schon mal diesen Namen, er wird Ihnen noch öfters begegnen.
Damals, um auf das Fest an der Uni zurückzukommen, endete der Abend mit der Professorengattin in einer enthemmten Knutscherei an der Sektbar, was zumindest einige Kollegen ihres Mannes mit Befremden registriert hatten. Aber das war nun schon bald zwei Jahre her, und außerdem gehörte der betreffende Professor – sein Name braucht jetzt nicht genannt zu werden – zur wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, sodass zwischen ihm und mir auch keinerlei fachliche Verbindung bestand.
Moment mal, hatte mich dann plötzlich der Gedanke durchzuckt – natürlich gab es jemanden, der ein Interesse daran hatte, dass mein Projekt abgeschossen wurde: der Präsident! Der hatte ja schließlich die Genehmigung meiner Dauerstelle an die Bedingung geknüpft, dass mein Projektantrag durchging. Logisch! Dieser Hund hatte nie vorgehabt, sein Angebot wahr zu machen, sondern war von Anfang an davon ausgegangen, dass mein Forschungsantrag abgelehnt wurde. Weil er nämlich selbst dafür gesorgt hatte!
Der Präsident war von Hause aus Naturwissenschaftler und mit Sicherheit auch schon des Öfteren als Gutachter für die DFG tätig gewesen. Folglich kannte er auch die Vertreter des für meinen Antrag zuständigen Fachkollegiums, die maßgeblichen Einfluss auf die Förderentscheidung hatten. Der eine oder andere von ihnen mochte sich durch loyales Verhalten dem Präsidenten gegenüber gewisse Vorteile erhoffen oder war ihm zu Gefälligkeiten verpflichtet, damit dieser zum Beispiel sein Wissen um die Spesenrechnung vom Besuch der estländischen Partneruniversität, auf der die Ausgaben für die Bewirtung bestimmter junger Damen unter „Einladung von Studentenvertretern“ verbucht waren, für sich behielt. Somit war es für den Präsidenten ein leichtes, in einem mit kameradschaftlich-jovialem Unterton geführten Telefongespräch sein Anliegen durch dezente, aber unmissverständliche Andeutungen zielführend zu vermitteln.
Klar, der Präsident hätte meinen Antrag auch direkt ablehnen können, was aber seinem scheinheiligen, nach außen hin gepflegten Image des fürsorgenden Universitätsleiters nicht zuträglich gewesen wäre. Jetzt konnte er so tun, als hätte er redlich gehandelt, und sagen: Ich hab` dem Biener ja eine Chance gegeben. Mehr konnte ich doch nicht machen. Aber wie sich gezeigt hat, kann er nicht als erstklassiger Wissenschaftler gelten. Das muss man leider so deutlich aussprechen. – Dann würde er sich innerlich die Hände reiben und einmal mehr das Gefühl seiner Macht auskosten.
Dieses Schwein. Ich würde schon noch rauskriegen, wer bei meinem DFG-Antrag die Gutachter waren. Schließlich hatte ich ja auch ein paar Kontakte. Jetzt ging es aber erst mal darum, den Versuch zu unternehmen, alles wieder zum Guten zu wenden. Das hieß, erneut an den Präsidenten heranzutreten. Aber diesmal persönlich. Damit er mir in die Augen sehen musste.
Ich konnte davon ausgehen, dass der Präsident mit diesem Schritt rechnete und erwartete, dass ich wie ein Wurm angekrochen kommen und um meine Stelle betteln würde. In der gnädigerweise gewährten Audienz würde er mir dann mit gespielter Geduld seine Sicht der Welt erklären und mich damit zu dem Schluss führen, dass meine Existenz auf derselben überflüssig war: „Sehen Sie, Herr Biener, ich habe durchaus Verständnis für ihre Situation... aber Sie wissen doch auch, worauf es heute ankommt. Auch an der Universität müssen wir uns den Herausforderungen des globalen Wettbewerbs stellen. Was wir brauchen, ist zukunftsorientierte Spitzenforschung mit klarer Prioritätensetzung im Bereich neuer und nachhaltiger Technologien. Kompetenznetzwerke mit der Wirtschaft zur Erschließung von Leitmärkten. Das schafft Wachstum, Arbeitsplätze und dient der Steigerung unseres Wohlstands. Ich kann nicht erkennen, Herr Biener, wo Sie dazu einen Beitrag leisten. Was Sie unter Forschung verstehen, ist nicht mehr Stand des 21. Jahrhunderts. Mit ihrer Ameisenzählerei kommen Sie nicht länger durch. Diese Zeiten sind vorbei, das hat Ihnen ja jetzt auch die DFG bescheinigt.“
In diesem Tenor würde mich der Präsident abkanzeln und dann mit demonstrativem Blick auf die Uhr wieder vor die Tür setzen, ohne dass ich überhaupt richtig zu Wort gekommen wäre. – Nein, in dieses offene Messer durfte ich nicht laufen. Deshalb musste die Sache völlig anders aufgezogen werden. Entscheidend war, dass ich gar nicht erst versuchen durfte, weiter um die Entfristung meiner derzeitigen Stelle zu kämpfen. Vielmehr musste ich den Präsidenten mit einem völlig neuen Vorschlag überraschen und so die befürchtete Diskussion um meine Qualifikation schon im Keim ersticken. Es galt also, eine Lösung herbeizuführen, die einerseits mir eine Zukunftsperspektive eröffnete und andererseits dem Präsidenten einen Ausweg aus der Situation aufzeigte, den er ohne Gesichtsverlust beschreiten konnte.
Diesen Überlegungen lag bereits ein konkreter Plan zu Grunde, den ich einer glücklichen Fügung zu verdanken hatte: Unter der Hand hatte ich nämlich erfahren, dass die Stelle des Forschungskoordinators am Zentrum für Angewandte Landschaftsforschung, kurz ZAL genannt, wieder besetzt werden würde. Das ZAL ist eine Wissenschaftsinstitution der Universität, in der interdisziplinäre Projekte, die sich mit ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekten der Landschaftsplanung befassten, initiiert und umgesetzt werden. Die Aufgaben des Forschungskoordinators bestanden in erster Linie darin, fachliche Kooperationen mit Institutionen im In- und Ausland aufzubauen, Programme zu entwickeln und die dafür notwendigen Finanzmittel einzuwerben. Der frühere Koordinator, Dr. Walter Butzmann, hatte das ZAL zum Jahresende verlassen, um eine neue Tätigkeit im Ausland, auf den Philippinen, anzunehmen. Und jetzt hatte man entschieden, die Stelle nach Ablauf einer als Sparmaßnahme verhängten sechsmonatigen Sperre wieder freizugeben, also voraussichtlich zum 1. Juli.
Dieser Job wäre meine Rettung. Eine Stelle mit solidem Einkommen auf Lebenszeit. Wenn ich es geschickt anstellte, konnte ich dann nicht nur meine Freizeit, sondern auch einen guten Teil meiner Bürostunden für die Arbeit an meiner neuen Theorie nutzen. Bei den Forschungsprojekten, die ich dann zu koordinieren hätte, könnte ich eigene Akzente setzen und dadurch weitere Erkenntnisse gewinnen, die ich für die Ausarbeitung meiner Theorie noch benötigte. Da dies so oder so noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde, war die Stelle dafür wie geschaffen. – Sicher, ich hätte nebenbei gewisse Routineaufgaben zu erledigen, und ab und zu müsste mal ein wenig Schaum geschlagen werden – hier eine Tagung organisieren, dort einen Vortrag halten oder ein Diskussionspapier in die Welt setzen, solche Sachen. Aber alles in allem könnte ich den weitaus größten Teil meiner Arbeitszeit darauf verwenden, mein Ding zu machen. Eine solche Möglichkeit würde ich im Leben nicht mehr bekommen. Soviel stand fest.
Meine Hoffnungen waren durchaus berechtigt. Ich brachte die notwendigen Voraussetzungen mit und hatte eine Chance, die es zu nutzen galt: ich musste meinen Anspruch auf die Stelle anmelden, bevor andere Bewerber ins Spiel kamen. Die offizielle Ausschreibung war nämlich noch nicht erfolgt. Ich wusste, wie es in solchen Fällen lief: meistens war man sich schon im Vorfeld über die Besetzung einig, weil es bereits einen Kandidaten gab, den jemand Einflussreiches gerne in der entsprechenden Position sehen wollte. Die Mitglieder des Entscheidungsgremiums hatten in der Regel ihre Gründe, sich nicht dagegen zu sträuben, und die Ausschreibung war dann nur eine Formalität, um den Schein eines objektiven Auswahlverfahrens zu wahren. (Was sicherlich auch bei einigen meiner erfolglosen Bewerbungen so gelaufen war). Nach diesem Kalkül wollte ich mich beim Präsidenten für diese Stelle empfehlen. Ich würde ihm erklären, dass ich nun, vor dem Hintergrund der Ablehnung meines DFG-Antrags, beruflich eine strategische Neupositionierung vorzunehmen gedachte. Um meine Karriere weiter voranzutreiben, wolle ich mich deshalb einer neuen Herausforderung stellen, nämlich dem Management von Forschungsprojekten. Ich sei zu der Überzeugung gelangt, dass meine Potenziale und Ressourcen in diesem Aufgabenbereich effizienter nutzbar waren als in der reinen Grundlagenforschung, wobei meine dort gesammelten Erfahrungen die optimale Basis für die gestellten Anforderungen lieferten und damit synergistische Impulse bei der Realisierung der Projekte setzen würden.
Mit diesem Lösungsvorschlag hätte ich nicht nur mein Gesicht gewahrt, sondern auch dem Präsidenten einen Königsweg gewiesen: er müsste nicht von der abschlägigen Entscheidung zu meinem Entfristungsantrag abrücken und konnte gleichzeitig soziale Verantwortung zeigen, indem er mir aus meiner schwierigen Lage heraushalf und mich nicht ins existenzielle Elend stürzen ließ. Er bräuchte sich keine Blöße zu geben, seine Autorität bliebe gewahrt, und es war gut für sein Image. Eine kluge Lösung, wie ich fand. Ich, an Stelle des Präsidenten, würde jedenfalls so handeln. Andere, ebenfalls geeignete Bewerber würden jetzt zwar in die Röhre gucken, aber die Welt war nun mal nicht dazu da, alle Menschen glücklich zu machen.
Bereits übermorgen würde ich dem Präsidenten in einer Kommissionssitzung begegnen. Diese Gelegenheit musste ich nutzen, ihn um einen zeitnahen Termin für ein Gespräch zu bitten, damit der Albtraum so schnell wie möglich beendet werden konnte.
Dieses Gespräch hatte soeben stattgefunden.
Lass es nicht wahr sein, flehte ich innerlich, als die schwere Flügeltür des prunkvollen Saales von Schloss Hohenheim, der dem Präsidenten der kleinen Universität vor den Toren Stuttgarts als Dienstzimmer diente, mit dumpfen Schlag hinter mir zu fiel. Meine letzte Hoffnung war zerstört. Ich musste nämlich erfahren, dass die Stelle des Forschungskoordinators nur befristet für zweieinhalb Jahre besetzt werden konnte, da ihr bisheriger Inhaber, Butzmann, nicht etwa gekündigt, sondern lediglich eine dreijährige Beurlaubung ohne Bezüge angetreten hatte. Dies, so hatte mit der Präsident erklärt, war Beamten möglich, sofern die Freistellung im Interesse der Hochschule beziehungsweise im öffentlichen Interesse liege. Begründet habe Butzmann seinen Antrag mit dem Wunsch, eine Aufgabe im Rahmen der Entwicklungspartnerschaft auf den Philippinen zu übernehmen. Er, der Präsident, habe Butzmanns Antrag befürwortet, der dann auch vom zuständigen Landesministerium für drei Jahre genehmigt wurde. Butzmann hat damit die Möglichkeit, nach Ablauf der Beurlaubung seinen Dienst wieder aufzunehmen und muss nicht befürchten, arbeitslos zu werden. Nach Stand der Dinge, so der Präsident, kann die Stelle also nicht vor Eintritt Butzmanns in den Ruhestand – das heißt in ungefähr 15 Jahren – auf Dauer neu besetzt werden, es sei denn, er stirbt.
Ich trat aus dem Hauptportal des Schlosses ins Freie und stand da, als ob ich auf einen fremden Planeten versetzt worden wäre. Vor mir erstreckte sich die weitläufige Anlage des botanischen Gartens. Sie lag an diesem frostigen Februartag in einem trüben Dunst, in dem sich die kahlen Bäume und Sträucher nur schemenhaft abzeichneten. Die Rasenflächen waren von Reif bedeckt. Mechanisch zog ich ein Päckchen Tabak aus der Gesäßtasche meiner Hose, drehte mir eine Zigarette und rauchte. Mit versteinerter Miene entließ ich große Dampfwolken in die Luft. Ich war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass Butzmann zurückkehren könnte. Als es hieß, er habe einen neuen Job auf den Philippinen, war ich logischerweise davon ausgegangen, dass er gekündigt hatte.
Alles kam mir unwirklich vor. Ich fühlte mich wie in einem dieser Horrorträume, die mich in letzter Zeit heimgesucht hatten. Einmal befand ich mich in China auf einer schwankenden Hängebrücke über einer tiefen Schlucht und musste hilflos mit ansehen, wie Irmtraud ein paar Meter vor mir abrutschte und in die Tiefe stürzte. Ein anderes Mal saß ich in einem Gerichtssaal, wo ich wegen einer weggeworfenen Zigarettenkippe angeklagt war, was ich absurd fand und dem Richter Nazi-Methoden vorwarf, worauf dieser mich einen schäbigen Lump nannte und mich zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Aber diesmal war es kein Traum, von dem ich schweißgebadet befreit wurde. Diesmal war es die Wirklichkeit.
Plötzlich erfasste mich ein unkontrolliertes Zittern, das nicht von der Kälte kam. Ungläubige Verzweiflung machte sich breit. Die vielen Jahre, die ich unter Verzicht auf freie Wochenenden, Urlaubstage und Privatleben in meine wissenschaftliche Arbeit investiert hatte – alles vergebens? Mein Dienstzimmer, also mein eigentliches Zuhause, bald von einem Nachfolger besetzt, das Einkommen weg, und meine neue Theorie nie veröffentlicht?
Ich wog bei diesen Gedanken ständig den Kopf hin und her und bekam das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Dann konnte ich mich auch gleich aufhängen. So hatte das Leben doch keinen Sinn mehr.
Unvermittelt erinnerte ich mich an den bewegenden Moment, als ich einst an Charles Darwins Grab stand, einer schlichten Steinplatte in der Westminster Abbey. Anlässlich einer Konferenz in London hatte ich es mir nicht nehmen lassen, meinem großen wissenschaftlichen Vorbild einen Besuch abzustatten. Ich seufzte. Damals war ich jung und sorgenfrei und steckte voller Tatendrang. Auf der Konferenz hatte ich gerade die Ergebnisse meiner Diplomarbeit präsentiert und dafür viel Anerkennung erhalten. Und ich hatte auch schon ein Forschungsstipendium des DAAD, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, in der Tasche. Für meine Doktorarbeit auf den Philippinen. Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Die Welt stand mir offen. Für mich war es kein Zufall, dass ich gerade jetzt an Darwins letzter Ruhestätte verweilen konnte. Sondern ein Wink des Schicksals.
Charles Darwin, wie Sie wissen, ist der Begründer der Evolutionstheorie, die in der kürzesten Version besagt, dass alle Arten von Lebewesen veränderlich sind und im Verlauf von Generationen einer Entwicklung, also der Evolution, unterliegen. Darwin entdeckte die Prinzipien, die zur Entstehung neuer Arten führen und lieferte die Erklärung dafür, warum überhaupt so viele verschiedene Lebewesen auf der Erde vorkommen. So weit, so gut – aber daraus ergibt sich sogleich eine neue entscheidende Frage: Wie ist es überhaupt möglich, dass so viele Arten gemeinsam existieren können? Obwohl die Arten im „Kampf ums Dasein“, einem scharfen Wettbewerb ausgesetzt sind, wie Darwin erkannte, passiert es in der Regel nicht, dass sich einige wenige Arten erfolgreich durchsetzen und andere dadurch wieder aussterben. Eine Diskrepanz, die auch Darwin beschäftigte. „Kampf um Kampf muss mit wechselndem Erfolg wiederkehren, aber allmählich halten die Kräfte einander so vollkommen im Gleichgewicht, dass die Natur sich während langer Perioden nicht verändert, obschon der kleinste Umstand ausreichen würde, einem organischen Wesen den Sieg über ein anderes zu ermöglichen“, schrieb er in Die Entstehung der Arten. In den Lebensgemeinschaften müssen also Mechanismen existierten, die die Populationsgrößen der einzelnen Arten in irgendeiner Weise begrenzen. Aber, so Darwins Feststellung, „die Ursachen, die das natürliche Streben einer jeden Art nach Vermehrung beschränken, sind vollkommen unaufgeklärt“. Zu suchen seien sie unter anderem in den „verwickelten Beziehungen“ zwischen den Arten. Darwin musste jedoch einsehen, „dass wir von den Wechselbeziehungen der organischen Wesen so gut wie gar nichts wissen.“
Und genau diese Aussage war es, die mich bei meinen Forschungen nicht mehr losließ.
Was zum Verständnis des großen Ganzen jetzt noch fehlte, war eine Theorie, die außer der Entstehung der Arten auch das Zusammenleben der Arten erklären konnte. Nämlich meine Theorie. – Sie werden sicher verstehen, dass ich auf Details nicht eingehen kann, möchte Ihnen aber die wesentlichen Grundzüge dennoch nicht vorenthalten.
Mein Ausgangspunkt war die Frage nach der biologischen Bedeutung der Fülle an organischen Verbindungen, die in der Natur vorkommen und vor allem von Pflanzen und Pilzen gebildet werden. Jede Art produziert ihre eigenen, charakteristischen Inhaltsstoffe, die ihr einen unverkennbaren Geruch und Geschmack verleihen. Manche von ihnen nutzen wir aufgrund dieser Eigenschaften als Gemüse, als Gewürz oder wegen ihrer anregenden Wirkung. Bestimmt haben Sie heute schon Kaffee, Tee oder Kakao getrunken oder vielleicht eine Zigarette geraucht und dabei Koffein, Theobromin oder Nikotin zu sich genommen. Diese sogenannten sekundären Inhaltsstoffe von Pflanzen und Pilzen bereiten uns aber nicht nur Genuss, sondern nehmen auch als Arzneimittel und Drogen Einfluss auf unser Befinden und können sogar das Bewusstsein verändern. Seit Urzeiten von Schamanen, Priestern und Heilern genutzt, prägten psychoaktive Wirkstoffe sogar die Glaubensvorstellungen und Normen ganzer Gesellschaften.
Aber warum werden diese Substanzen überhaupt gebildet? Eine beabsichtigte Wirkung auf den Menschen kann man den Pflanzen und Pilzen schwerlich unterstellen, da sie daraus ja keinerlei Nutzen ziehen. Auch im Organismus der Produzenten selbst haben sie größtenteils keine physiologische Funktion und bieten auch keinen umfassenden Schutz gegen Fressfeinde. Im Gegenteil. Die meisten pflanzenfressenden Insekten sind auf bestimmte Arten spezialisiert und werden von deren Inhaltsstoffen nicht abgeschreckt, sondern nutzen sie als Erkennungsmerkmal bei der Futtersuche. Die Pflanzen sorgen damit also zu ihrem eigenen Nachteil für den Erhalt solcher Insekten. Sie streben demnach – im Unterschied zum Menschen – nicht die Vernichtung dieser Schädlinge an, sondern sind gleichzeitig für deren Fortbestand verantwortlich. Von ihren Fressfeinden befallene Pflanzen geben aber auch flüchtige Substanzen an die Luft ab, die wiederum verschiedenen räuberischen Insekten, zum Beispiel Ameisen, die Anwesenheit einer Beute signalisieren und leisten damit einen weiteren Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt. Darüber hinaus wurde entdeckt, dass Pflanzen mit bestimmten Inhaltsstoffen auch untereinander kommunizieren können, woraus sich wiederum verschiedene Beziehungen zu anderen Organismen ergeben. – Sie sehen, ich bin in meinem Element, aber ich will jetzt nicht ausschweifend werden.
Nach und nach begann ich zu verstehen, dass sich hinter solchen Beziehungen ein übergeordnetes, bislang unerkanntes biologisches Prinzip verbarg: die Kommunikation zwischen den Arten durch biochemische Signale. Jedes Lebewesen ist Sender, Empfänger oder Transformator von Signalstoffen, die über die Nahrung, die Luft, das Wasser oder den Boden in die Biosphäre gelangen und andere Arten beeinflussen. Insgesamt, so der Kern meiner Theorie, stehen über dieses biochemische Kommunikationsnetzwerk sämtliche Arten zwischen Tiefsee, Tundra und den Tropen direkt oder indirekt miteinander in Beziehung. Dabei steuern die Signalstoffe das Verhalten der Arten, wodurch insgesamt ein biologisches Gleichgewicht entsteht, das gleichzeitig für den Erhalt der durch Evolution entstandenen Artenvielfalt sorgt. Dies, um bei Darwins Worten zu bleiben, ermöglicht keinem organischen Wesen den Sieg über ein anderes.
So war das. Man muss die Dinge nur aus einer neuen Perspektive betrachten, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.
Meine Theorie war gedanklich ausgereift, und vom Aufbau meines Buches hatte ich auch schon ziemlich konkrete Vorstellungen. In beabsichtigter Anlehnung an den Titel von Darwins Werk Die Entstehung der Arten, wollte ich es Das Zusammenleben der Arten nennen und damit die Anknüpfung an die Evolutionstheorie deutlich machen. Es entstünde dann quasi ein Gesamtwerk in zwei Bänden. Die große Synthese von allem.
Freilich, bis dahin war es noch ein weiter Weg. Meine bislang gewonnenen Daten reichten noch nicht aus, um diese Theorie hieb- und stichfest zu begründen. Für ihre wissenschaftliche Akzeptanz musste, wie für jede große Theorie, der Nachweis erbracht werden, dass sie universelle Gültigkeit besaß. Das hieß nicht nur, bestehende Forschungslücken zu schließen, sondern auch die gesamte Fachliteratur, die weitere Belege dafür liefern konnte, zu erfassen und zu analysieren. Inzwischen waren es schon weit mehr als 2000 Publikationen, die sich in den Regalen meines Büros stapelten und noch ihrer Auswertung harrten. Aber Darwin hatte schließlich auch mehr als 20 Jahre an seiner Evolutionstheorie gebrütet und Fakten gesammelt, bis sein rund 500 Seiten umfassendes Buch endlich fertig war. Im Unterschied zu mir hatte Darwin allerdings genügend finanzielle Mittel und damit die Muße, sich voll und ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. Ich brauchte dafür die Stelle als Forschungskoordinator.
Aber dieser Traum war jetzt ausgeträumt. Ich ließ meine Zigarettenkippe auf den Boden fallen und trat sie aus. Ein bitterer Schmerz durchströmte mich. Ich schloss die Augen.
Nach einem Moment des Verharrens ging plötzlich ein Ruck durch meinen Körper. Nein, entschied ich mit geballter Faust. Ich würde mir mein Lebenswerk nicht kaputt machen lassen. Ich würde dafür kämpfen. Und heute war Tag eins des Kampfes.