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In der Nähe von Swakopmund, Namibia 2004

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»Du hast ja richtig Eier, Lemalian. Das sieht man dir gar nicht an!« Der dicke Mann lachte laut auf und sein großer runder Bauch schwabbelte dabei wie Wackelpudding hin und her. Er hatte einen Sonnenbrand im Gesicht, der selbst jetzt noch in der Dunkelheit hell zu leuchten schien. Seine schwülstigen Wangen glühten regelrecht, aber es störte ihn nicht. Vielleicht lag das aber auch an der Unmenge an Bier, die er in sich hineingeschüttet hatte.

Der alte Campingstuhl auf dem er saß, bog sich bedrohlich durch und quietschte bei jeder seiner Bewegungen. Er schien jeden Moment zusammenzubrechen.

»Ja, was ist aus dem Mann geworden, der immer nur eingeschüchtert an seinem Schreibtisch saß? Der Mann, den wir auf die Partys drängen mussten und wenn es ein bisschen nach Stress aussah, bist du der Erste gewesen, der sich vom Acker gemacht hat.« Neben dem Dicken saß ein weiterer Mann, der etwa im gleichen Alter wie Lemalian war. Sein kantiges Gesicht wirkte wie das eines US Marines. Er hatte kurz geschorene Haare und ein glatt rasiertes Gesicht. Die Oberarme, die aus dem T-Shirt ragten, ließen seine Zielstrebigkeit erahnen, denn seine Muskeln waren klar definiert und seine Bräune ging bis unter das Shirt. Er schien sich gesund zu ernähren und dennoch kippten er und seine zwei Freunde hier ein Bier nach dem anderen.

Eigentlich hätte der Junge in seinem Bett liegen und schlafen sollen. Seine Mutter hatte ihn gebeten heute ausnahmsweise mal eher in sein Zimmer zu gehen, weil sein Vater etwas Geschäftliches mit den Herren besprechen wollte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er bei dem Gespräch nicht dabei sein durfte. Er saß auf seinem Bett und horchte in die Dunkelheit hinein. Das Licht ließ er ausgeschaltet, weil er glaubte, besser hören zu können, wenn er nichts sehen konnte, da dadurch seine anderen Sinne geschärft wurden.

Seine Mutter musste gerade den Abwasch machen, weil er das Klappern der Teller und der Gläser durch die geschlossene Tür hören konnte. Ansonsten war es ruhig und das machte ihm Sorgen. Normalerweise sang sie dabei immer ein Lied vor sich hin und wenn er ihr bei der Arbeit half, sang er mit. Er versuchte, dann immer den Text mitzusingen, auch wenn er ihn nicht kannte.

Doch sie blieb still und sie wirkte auch bei der Ankunft der vier Männer heute Mittag sehr angespannt, was auch nicht normal war, denn sie war Gästen gegenüber immer sehr offen und aufgeschlossen. Es war nicht so, dass die Männer unfreundlich oder bösartig waren, aber sie war trotzdem nicht glücklich über den Besuch.

Er wartete darauf, dass es im Haus ruhig wurde und öffnete das Fenster. Er hatte diesen Weg schon oft genutzt, wenn er nicht schlafen konnte, oder wollte, um unbemerkt aus seinem Zimmer zu verschwinden. Seine Eltern hatten ihn noch nie dabei erwischt und heute würden sie es wahrscheinlich auch nicht tun, denn sie waren beide zu sehr damit beschäftigt, sich um die Gäste zu kümmern. Er kletterte hinaus und seine nackten Füße berührten den sandigen Boden. Der dünne kühle Wüstensand glitt durch seine Zehen. Er starrte in die Dunkelheit. Es schien fast so, als wenn es hier draußen noch dunkler war als in seinem Zimmer. »Tiger haben keine Angst«, versuchte er sich zu beruhigen. Er hörte das Rascheln des Steppengrases, das im leichten Abendwind hin und her schaukelte. Aus der Ferne nahm er auch die gedämpften Stimmen der Männer wahr, die sich auf der anderen Seite des Hauses miteinander unterhielten. Er kannte den Garten wie seine Westentasche und fand daher auch ohne Probleme die alte Holzleiter, die an der Wand lehnte und sich trotz ihrer hellbraunen Farbe nicht von der umliegenden Schwärze abhob.

Leise und vorsichtig kletterte er jede einzelne Sprosse nach oben. Er hatte keine Angst davor, dass er fallen könnte, sondern eher, dass die Leiter Geräusche machen würde. Das leise Quietschen, welche das Holz bei jedem Schritt von sich gab, kam dem Jungen wie ein lauter Knall vor, den jeder hören musste.

Er war erleichtert, als er über den kleinen Sims auf das Dach stieg. Jetzt konnte er wieder gut sehen. Das kleine Feuer im Garten, um das die Männer und sein Vater herumsaßen, leuchtete auf dieser Seite des Hauses so hell, dass er befürchtete, sie könnten ihn sehen, wie er über ihnen war und lauschte.

Sein Vater erzählte gerade die Geschichte davon, wie er einst mit seinem Auto auf dem Weg in die Stadt eine Reifenpanne hatte und das Reserverad anbauen musste. Er war so sehr darin vertieft, den Ersatzreifen anzuschrauben, dass er nicht bemerkte, wie sich ein Löwe von hinten an ihn heranschlich.

Er hatte diese Geschichte schon sehr oft gehört.

Lemalian fuhr gerade die sandige Straße entlang, die das kleine Dorf etwas außerhalb von Swakopmund mit der Stadt verband. Eigentlich waren es nur zehn Häuser, von denen zwei leer standen. Was mit den Bewohnern passiert war, ließ sich nicht mehr feststellen. Eines Tages waren sie einfach verschwunden und niemanden hatte es besonders gekümmert. Vielleicht waren sie von wilden Tieren getötet worden, oder sie sind einfach abgehauen, wer weiß das schon. Es interessierte auch keinen, weder die Polizei noch seine Eltern haben jemals versucht sie zu finden, dafür gab es zu viele Menschen, die hier einfach verschwanden. Selbst wenn sie ermordet vor der Haustür gelegen hätten, hätte die Polizei nur das Nötigste getan, um herauszufinden, wer sie getötet hatte und nach kurzer Zeit die Ermittlungen eingestellt. Würde so etwas jedoch in der wohlhabenderen Gegend der Innenstadt passieren, wäre die Lage anders. Die Behörden hätten so lange nach dem Täter gesucht, bis sie ihn gefunden hätte. Für den Fall, dass sie nicht den Richtigen finden würden, hätten sie einfach einen Penner aus der Gosse geholt und den dann dafür gehängt. Die Aufklärungsrate in diesem Bereich der Stadt liegt nahe der hundert Prozent, so erzählte man sich zumindest.

Die Straße hatte ihre Bezeichnung eigentlich nicht verdient. Es waren eher nur zwei parallele Spurrillen, die durch die Wüste führten. Lemalian wusste, dass es nur seine Spuren sein konnten, weil sonst niemand in die eine oder andere Richtung fahren würde. Er nutzte diesen Weg jeden Tag mindestens zwei Mal und achtete darauf, dass er die Spuren genau traf. Mittlerweile konnte er das Lenkrad seines Toyotas an einigen Stellen sogar loslassen, weil sich die Räder wie auf Schienen durch den Sand zogen.

An diesem Tag jedoch hatte sich neuer Sand über die Spuren gelegt, weil es in der Nacht zuvor einen Sturm gegeben hatte. Lemalian wusste aber, wo sie waren, dafür war er hier schon viel zu oft lang gefahren.

Es war noch immer sehr diesig, der feine Sand schwirrte durch die Luft und verursachte dadurch eine Art Nebel. Lemalian sah daher den kleinen weißen Gegenstand, der aus der frischen Sandschicht herausragte, erst in dem Moment, als er ihn auch schon fast überfahren hatte. Er trat noch auf das Bremspedal und versuchte das Lenkrad nach links zu reißen, doch es war schon zu spät. Es gab einen lauten Knall und fast zeitgleich fing der Toyota an, sich aufzuschütteln. Das Lenkrad zitterte und vibrierte, während er versuchte, das Auto zum Stehen zu bekommen. Lemalian fluchte laut und trommelte mit den Fäusten auf das Armaturenbrett. Normalerweise war er ein sehr ausgeglichener Mann, den nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte, aber an diesem Tag hatte er es eilig. Er blickte auf den Beifahrersitz. Das Paket musste unbedingt noch rechtzeitig in die Stadt. Die Post würde bald zumachen.

»Scheiße!« Er fluchte eigentlich nicht und noch seltener auf Deutsch, aber für diese Situation fiel ihm nichts Besseres ein. Er fuhr den Wagen langsam auf die freie Fläche neben seiner Spur, stieg aus und hielt sich ein Tuch schützend vor das Gesicht. Der Sand war jedoch so fein, dass er durch seinen Schutz hindurch dringen konnte. Sein Mund wurde ganz trocken und der feine Kies knirschte zwischen den Zähnen. Seine Augen brannten und er war kurz wieder versucht, einzusteigen und abzuwarten, bis sich der Nebel gelegt hatte.

Er sah durch das Seitenfenster auf sein Päckchen. Es musste heute raus, er hatte schon viel zu lange gewartet, um es in die Stadt zu bringen. Der Inhalt konnte ihn in den Knast bringen, sowohl hier in Namibia als auch in Deutschland, wo er es hinschicken wollte. Aber andererseits, war es sehr viel Geld wert.

Er ging um den Toyota herum und holte das Werkzeug aus dem Kofferraum. Er war erleichtert, als er feststellte, dass es dort war, wo es hingehörte. Auch wenn der Radmutternschlüssel und der Wagenheber schon sehr spröde und rostig aussahen, war es nicht immer selbstverständlich, dass es noch im Auto lag. Das Reserverad war unterhalb des alten Pick-ups angebracht und so musste Lemalian auf dem Rücken unter sein Auto kriechen. Auch hier hätte es gut sein können, dass es kein Rad mehr gab. Aber es war da, wo es sein sollte. Die Verbesserung seines Gemütszustandes hielt aber nur kurz an, denn er erkannte, weshalb es noch niemand gewagt hatte, das Rad zu klauen. Es war über die Jahre so fest gerostet, dass es auch nicht half, als er mit beiden Armen an dem Radschlüssel riss. Der Hebelweg, den er hier aufbauen konnte, war ohnehin nicht so groß. Er robbte weiter in Richtung Fahrerkabine, so dass er jetzt die Füße unter dem Rad hatte.

Er zog die Beine an und trat beherzt gegen den Schlüssel. Es gab ein lautes ratschendes Geräusch und die Schraube löste sich.

Geschafft, dachte er sich. Hoffentlich klappt es bei den anderen fünf Schrauben auch.

Jedes Mal musste er zurück unter das Rad rutschen und den Schlüssel wieder ansetzen, dann wieder hoch und erneut dagegen treten. Bei jeder Wiederholung löste sich die jeweilige Schraube, wobei er es schaffte, zwei komplett abzureißen.

Egal, ich werde eh bald reich sein. Wenn das Päckchen angekommen ist, wird man mich mit Geld überhäufen.

Der Schweiß rann ihm über sein Gesicht und vermischte sich mit dem Staub. Er spürte, wie es langsam unter einer dicken Kruste zu verschwinden drohte. Er robbte an der Seite heraus und begab sich auf die Knie. Mittlerweile hatte er das Gefühl, als wäre er komplett ausgetrocknet. Erst jetzt bemerkte er, wie durstig er war.

»Komm schon, zieh das durch. In der Stadt kannst du dir gleich ein schönes kaltes Bier gönnen.« Er sprach laut zu sich selbst.

Er griff unter den Pick-up, zog das Rad heraus und lehnte es an den Toyota.

Auf der Ladefläche lagen noch ein paar Holzreste, die er vor kurzen für die Heizung aus der Stadt besorgt hatte. Er nahm ein Stück herunter und legte es unter den Wagenheber, damit dieser nicht im Sand verschwinden konnte. Er nahm den Hebel in die Hand und kurbelte das Auto langsam nach oben. Das Rad hing jetzt in der Luft und er begann es abzuschrauben. Die Radmuttern ließen sich erstaunlich gut drehen, so dass er den kaputten Reifen sehr schnell abbauen konnte. Er rollte es zur Seite, ließ es in den Sand fallen und griff dann nach dem Reserverad.

Er zog gerade die dritte Radmutter an, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Es war nichts Lautes oder Auffälliges, aber es gehörte in diesem Moment einfach nicht hierher. Seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Gefühl sagte ihm, dass er in Gefahr war.

Er zählte von drei an rückwärts und drehte sich mit einem Ruck um die eigene Achse. Sein Herz fing an zu rasen und sein Blut kochte. Alles um ihn herum wurde schlagartig ausgeblendet. Die Geräusche verstummten und es gab nur noch ihn und den Löwen, der direkt vor ihm stand und mit seinen wachen Augen auf jede Bewegung von Lemalian lauerte. Ihre Blicke trafen sich, doch keiner von beiden zeigte eine Regung. Sie waren wie versteinert.

Lemalian ging in Gedanken seine Optionen durch. Noch nie hatte er einem Löwen so nahe gestanden. Nicht einmal im Zoo hätte er es gewagt so dicht an den Käfig zu treten, wie er jetzt vor dem Raubtier stand. Er wusste, dass er keine Chance haben würde, auch nicht mit dem Radmutternschlüssel, den er noch in seiner Hand hielt. Aber vielleicht würde es den Löwen verwirren, wenn er nach ihm schlagen würde und gab ihm die Möglichkeit die Flucht nach hinten zu wagen.

Er hielt die Luft an und riss die Hand nach oben, um auszuholen. Der Löwe reagierte augenblicklich und machte einen Satz nach vorne. Lemalian erschrak und verlor das Gleichgewicht. Sein linkes Bein rutschte weg und er kippte zur Seite. Er krallte sich so sehr an dem Werkzeug fest, dass er es nicht schaffte, den Sturz mit den Händen abzufangen.

Während er zu Boden fiel, konnte er den weißen Bauch des Löwen sehen, der über ihn hinweg glitt. Seine großen Pfoten samt Krallen trafen auf das Metall der Tür und es gab ein lautes kreischendes Geräusch, als diese sich dort einbohrten. Lemalian reagierte blitzschnell und rollte sich unter den Pick-up. Er lag reglos da und hielt die Luft an. »Vielleicht hat er mich aus den Augen verloren.« Er spürte, wie ihn die Panik beschlich. Er saß in der Falle. Wenn der Löwe unter das Auto kroch, würde er sein Leben verlieren, so viel stand fest.

Das Raubtier löste seine Krallen aus der Tür und seine Vorderpfoten landeten wieder im Sand. Es verharrte ein paar Sekunden. Lemalian stellte sich vor, wie der Löwe den Kopf nach links und rechts drehte und nach ihm suchte. Nach einer schieren Unendlichkeit setzte der Löwe langsam eine Pfote vor die Andere. Er verschwand jedoch nicht, sondern umkreiste langsam das Fahrzeug. Lemalian versuchte, sich zu drehen, so dass er immer auf einer Höhe mit dem Tier war. Er wollte es nicht riskieren, dass der Löwe ihn entdeckte und er in einer ungünstigen Lage war. Er wollte schnell auf der entgegengesetzten Seite davon eilen, falls er seinen Kopf unter das Auto steckte.

Er hatte das Gefühl, dass das Tier genau wusste, wo er sich befand. »Wahrscheinlich spielt er mit mir und wird gleich zum Ende kommen.« Er war mittlerweile auf der Beifahrerseite angelangt und blieb wieder stehen. Lemalian hielt erneut die Luft an und wartete. »Bitte geh. Verschwinde einfach und lass mich in Ruhe.«

Der Löwe drehte sich um und ging einen Schritt zurück. Lemalian atmete auf und sah im nächsten Moment, wie er kehrtmachte und sich duckte. Wieder trafen sich ihre Blicke und dieses Mal wartete der Löwe nicht ab, was passieren würde, sondern sprang mit einem Satz unter den Pick-up. Lemalian schlug mit dem Radmutternschlüssel zu und traf den Löwen direkt auf die Nase. Dieser schüttelte sich, was ihm die Chance gab sich auf der rechten Seite des Autos herauszurollen. Er sprang auf und öffnete die Fahrertür. Mit einem Satz landete er auf dem Sitz und drehte den Zündschlüssel um. Der Löwe kam ebenfalls unter dem Toyota hervor und bäumte sich zur nächsten Attacke auf. Die rechte Pfote traf auf das Seitenfenster, das sofort zersprang. Lemalian schlug erneut mit dem Radschlüssel zu und traf dieses mal den Kopf des Tieres. Der Löwe schreckte kurz zurück und Lemalian trat auf das Gas. Der Pick-up schüttelte sich, immerhin stand er noch aufgebockt auf dem Wagenheber. Die anderen drei Räder gruben sich in den Sand und mit einem Mal machte der Wagen einen Satz nach vorne. Er hatte kurz die Sorge, dass sich das Rad lösen könnte, weil es nur mit drei Schrauben festgemacht war, aber es hielt. Er trat das Gaspedal durch und schon bald hatte er die geteerte Hauptstraße erreicht. Erst jetzt fing er wieder an, sich zu beruhigen.

Er bekreuzigte sich dreimal hintereinander und nahm sich vor, statt nur einem Glas, gleich ein ganzes Fass in der Kneipe zu bestellen. Aber erstmal musste er zur Post.

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