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In der Nähe von Swakopmund, Namibia 2004
ОглавлениеDer kleine Junge saß auf dem Dach seines Elternhauses und genoss die unendliche Weite, die er von dort überblicken konnte. Der rote Sand der Savanne und die flirrende Luft darüber wirkten so, als würde der Boden wie ein schier endloser Teppich aus kleinen Flammen ewig brennen. Die dicken Stämme der Schirmakazien ragten aus dem lodernden Boden heraus und ihre Blätterdächer, die wie grüne aufgespannte Sonnenschirme aussahen, spendeten den Gazellen, die darunter lagen, ein wenig Schatten. Einige fraßen die dürren Halme des ausgetrockneten Steppengrases, andere wiederum dösten einfach vor sich hin.
Nico konnte bis an den Horizont blicken, wo sich die Berge vom Namib Naukluft Park in den tiefen blauen Himmel erstreckten. Sie wirkten mit einer unheimlichen Anziehungskraft auf ihn. Manchmal verfingen sich ein paar Wolken an ihren weißen Spitzen und als wären die hohen Gipfel mit etwas Klebrigen eingeschmiert worden, dauerte es sehr lange, bis diese sich wieder lösen konnten. Er wusste, dass es dort einen Ferienkomplex gab, aber dieser Ort lag viele Kilometer von ihm entfernt.
Obwohl es nicht viel war, was es zwischen dem Haus, in dem er lebte und den Bergen zu sehen gab, kannte er keine schönere Beschäftigung als seinen Blick über die Wüste gehen zu lassen.
Sein Vater hatte die Lehmhütte vor vielen Jahren mit Hilfe der anderen Einwohner dieses kleinen Dorfes am Rande von Swakopmund gebaut. Es gab insgesamt zehn weitere Familien, die hier lebten. Alle hatten ihre Häuser so aufgebaut, dass sie in einem Halbkreis nebeneinander standen. Zwischen den Gebäuden gab es viel Platz, da einige Dorfbewohner Tiere hielten und andere Gemüse anpflanzten. Sie versorgten sich gegenseitig mit Nahrung und nur, wenn etwas übrig blieb, fuhren die Männer mit den Waren in die Stadt und verkauften sie an die dortigen Straßenhändler. Das verdiente Geld wurde aufgeteilt und für Material ausgegeben, um die Häuser zu reparieren oder zu renovieren.
Das Frühjahr lief gut für Nicos Familie, so dass sein Vater von dem Geld Holz kaufte und die Wände des Wohnzimmers damit verkleidete. Es sah jetzt sehr luxuriös aus und der Junge war stolz darauf. Die anderen Räume des Hauses waren von innen wie auch von außen aus Lehm. Die Fenster waren mit dreckigen Laken verdeckt, die tagsüber mit Wasser benetzt wurden, damit es in den Zimmern ein wenig Abkühlung gab. Leider gab es keine anderen Kinder in der Siedlung, so dass er sich alleine beschäftigen musste. Sein Vater hatte den ganzen Tag mit den Ziegen im Stall zu tun und seine Mutter kümmerte sich um das Gemüse im Garten.
Die Sonne brannte unerbittlich auf ihn herab, doch die Hitze machte ihm nichts aus. Seine hellbraune Haut absorbierte die Strahlen. Die Mittagszeit war die heißeste Phase eines Tages in Namibia. Das Thermometer zeigte vierzig Grad im Schatten an und auf offener Fläche herrschten bis zu fünfzig Grad.
Nicht einmal sein Vater schaffte es lange in der Wärme auszuhalten und das, obwohl er in Namibia geboren wurde. Er hatte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr hier gelebt und war dann nach Deutschland ausgewandert, um dort zu studieren.
Auch heute hatten sich ein paar Gazellen in einiger Entfernung zum Grasen niedergelassen. Die meisten von ihnen hockten auf dem Boden und hatten ihre Augen geschlossen. Nur vereinzelt standen welche und fraßen. Immer wieder streckten sie die Köpfe hoch, um nach Feinden Ausschau zu halten und wenn sie sich in Sicherheit wähnten, fraßen sie weiter.
Der Junge hatte schon oft gesehen, wie Löwen die Gazellen jagten. Erst trennten sie die schwächeren Tiere von der Herde. Es waren meistens die Jüngeren oder Kranken und dann schnappten sie gnadenlos zu. Er war fasziniert davon, wie effektiv, erbarmungslos und gezielt diese Jagd ablief. An diesem Tag jedoch schien es keinen Angriff mehr zu geben. Manchmal stellte er sich vor, dass er ein Tiger war, der auf die Jagd ging und dann die Löwen verfolgte. Er wäre der König der Wüste. Er wusste, dass es keine Tiger in Afrika gab, deshalb war er sich sicher, dass er der unangefochtene Herrscher über alle Tiere sein würde.
Am Vormittag fuhr sein Vater ihn mit einem alten Toyota nach Swakopmund, wo er zur Schule ging. Obwohl der Wagen den Dorfbewohnern gemeinsam gehörte, war sein Vater der Einzige, der ihn nutzte.
Er ging sehr gerne zur Schule und war der Beste in seiner Klasse. Seine Lieblingsfächer waren Deutsch und Chemie. Er lernte sehr viel mit seinem Vater, der selber Chemiker geworden war und ihm alles zeigte, was er wusste. Das Periodensystem kannte er bereits auswendig, noch bevor er in die vierte Klasse ging und auch im Deutschunterricht war er allen anderen Kindern einen großen Schritt voraus. Seine Mutter kam aus Deutschland. Sie war eine hübsche Frau, wie er selber fand und obwohl sie täglich der Sonne ausgesetzt war, weil sie im Garten Gemüse anpflanzte und fast den ganzen Tag damit beschäftigt war es zu hegen, blieb ihre Haut blass. Sie war blond und damit fiel sie in der Bevölkerung Namibias natürlich auf. In der Stadt nannte man sie bloß die Duitse, was afrikaans für »die Deutsche« war. Es war jedoch nicht abfällig gemeint. Die Leute liebten sie, weil sie freundlich und warmherzig war. Sie gab den Menschen in den Geschäften immer Tipps, wie man die deutschen Gerichte würzen sollte und hin und wieder brachte sie dann einen großen Topf voller Essen mit nach Hause. Die Leute wollten, dass sie es probierte und ihnen sagte, ob sie es gut machten. Gestern gab es Königsberger Klopse und sie meinte, dass es fast wie zu Hause schmeckte.
Seine Eltern waren ausgewandert, als er ein Jahr alt war. Sein Vater ist gebürtiger Namibier und träumte immer davon eines Tages wieder zurück in seine Heimat zu gehen. Seine Mutter war anfangs nicht begeistert davon, aber nachdem sie hier beide einen Urlaub verbracht hatten, konnte sie gar nicht mehr aufhören von der Lebensfreude der Menschen zu sprechen. Der Junge wurde zwar nicht in Namibia geboren, aber seine Eltern erzählten ihm, er sei hier gezeugt worden und das machte ihn stolz.
Seine Großeltern aus Deutschland waren nicht glücklich darüber, dass sie hierher gezogen sind. Die Eltern von Antonia, seiner Mutter, waren die einzigen Großeltern, die er noch hatte. Die seines Vaters waren schon vor sehr langer Zeit gestorben.
Seine Oma und sein Opa waren natürlich besondern traurig darüber, dass sie ihren einzigen Enkel nur dann sehen konnten, wenn sie nach Namibia reisten.
Er freute sich jedes Mal, wenn sie zu Besuch kamen, und lauschte gespannt den Geschichten, die sie aus ihrer Heimat mitbrachten. Sie redeten in Deutsch mit ihm, was er sehr gut fand und sie lobten ihn immer, wie toll er die Sprache beherrschte. Sie brachten Fußballsammelkarten mit und er war ein großer Fan des FC Bayern München. In seinem Zimmer hingen Poster von der Mannschaft und er trug so oft es ging das Trikot seines Lieblingsvereins.
An einem Abend hörte er, wie sich seine Eltern mit seinen Großeltern stritten. Vorher hatten sie noch gemeinsam zu Abend gegessen. Seine Mutter hatte einen typisch afrikanischen Kürbis-Lamm-Eintopf gemacht, der sehr lecker geschmeckt hatte. Dazu gab es Rotwein, den seine Großeltern mitgebracht hatten.
»Mein Junge, du musst jetzt sehr stark sein, aber dieses Jahr wird wohl Werder Bremen die Meisterschaft gewinnen.«, sagte sein Opa mit gespielter Traurigkeit.
»Das macht nichts Opa, dann gewinnen sie eben im nächsten Jahr.« Nico stellte sich vor, wie er im Stadion sitzen und seine Mannschaft nach vorne brüllen würde.
Wie es in Namibia üblich ist, gab es als Nachtisch einen Karottenkuchen. Nachdem er diesen aufgegessen hatte, schickten seine Eltern ihn unter Protest ins Bett. Er wollte natürlich noch nicht schlafen gehen, aber sein Vater bestand darauf. Viel lieber hätte er mit seinem Opa noch über Fußball gefachsimpelt.
Seine Oma hatte ihm das aktuelle Poster vom FC Bayern München aus dem Kicker mitgebracht und er hatte es an die Decke über seinem Bett geklebt. Da er nicht schlafen konnte, lag er einfach nur da und starrte auf das Bild.
Als die Stimmen aus dem Wohnzimmer lauter wurden, stand er auf und schlich sich an die Tür um besser zu verstehen, worum es ging.
»Es fehlt ihm an nichts. Er geht zur Schule, bekommt regelmäßig zu Essen und fühlt sich hier wohl.« Er kannte die Stimme seines Vaters und erkannte am Klang, dass er sich bemühte, nicht die Fassung zu verlieren.
»Ihr lebt in einer verdammten Lehmhütte irgendwo im nirgendwo« Es war sein Opa. »Meine Tochter ist den ganzen Tag damit beschäftigt, draußen im Garten eure Lebensmittel zu wässern.«
»Mir geht es gut, Vater.« Seine Mutter mischte sich mit ein, wobei ihre Stimme eher verhalten klang.
»Natürlich geht es dir gut.« Der Sarkasmus war nicht zu überhören. »Wieso solltest du auch in Deutschland leben, wo dein Mann in meiner Firma arbeiten und gutes Geld verdienen könnte? Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du dieses Leben hier freiwillig vorziehst?!«
»Papa, ich liebe meinen Mann. Ich möchte, dass es ihm gut geht und außerdem lebe ich gerne hier.«
»Es ist, als würde ich gegen eine Wand reden. Du hattest früher so große Pläne, du wolltest Ärztin werden und jetzt sieh dich an. Du lebst Tür an Tür mit Ziegen.«
Er hatte diese Gespräche schon oft gehört, wenn seine Großeltern hier waren. Sie und seine Eltern tranken zu viel Wein und stritten sich anschließend immer darüber, warum sie nicht in Deutschland leben würden. Irgendwann gingen alle ins Bett und am nächsten Morgen sprachen sie nicht weiter über dieses Thema.
Er wusste nicht, ob er überhaupt in Hamburg leben wollte. Hier hatte er seine Freunde in der Schule und es fehlte ihm tatsächlich an nichts.
Aber es war auch spannend darüber zu grübeln, wie es sein würde auf eine deutsche Schule zu gehen.
Wenn er wollte, könnte er sich die Bayern-Spiele im Fernsehen anschauen und vielleicht sogar mal mit dem Zug ins Stadion fahren. Aber das würde er ja ohnehin bald machen. Sein Opa wollte ihn zu seinem dreizehnten Geburtstag abholen und für vier Wochen mit nach Deutschland nehmen.
Nach einer Woche reisten seine Großeltern wieder ab. Sie verbrachten nie viel Zeit in Namibia. Sie fühlten sich hier nicht besonders wohl. Doch dieses mal war es anders. Sie waren angespannt und er bemerkte, dass sein Opa sich seinem Vater gegenüber nicht wie üblich verhielt. Irgendetwas musste bei dem Streit doch anders verlaufen sein, denn sie sprachen kein Wort mehr miteinander.
Sie aßen noch einen weiteren Abend zusammen, aber es wurde nicht mehr viel geredet. Sie saßen still auf ihren Plätzen und hatten die Blicke auf ihre Teller gerichtet. Nachdem sie aufgegessen hatten, standen alle auf und seine Großeltern fuhren mit ihrem Mietwagen in die Stadt. Bisher hatte sie sich nie ein Hotel genommen, sondern blieben die komplette Woche im Dorf. Sie feierten die abendlichen Partys mit, die die Einwohner ihnen zu ehren gaben und machten dabei auch immer den Eindruck, als wenn es ihnen gefallen würde. Natürlich war es dann am letzten Tag immer ein tränenreicher Abschied, wenn sie zum Flughafen zurückfuhren.
Er machte sich große Sorgen um seine Großeltern, weil sie nur kurz am letzten Tag vorbeischauten, um sich zu verabschieden. Seine Oma weinte mehr als sonst und er hatte das Gefühl, dass ihre Tränen dieses mal nicht ihm galten, sondern mehr seiner Mutter. Sein Opa hingegen würdigte seinem Vater keines Blickes.
Wenn Nico seinen Vater fragte, was denn los war, bekam er stets keine Antwort.
So verstrich die Zeit und bald darauf hatte er den Zwischenfall wieder vergessen.