Читать книгу Monster - Manuel Blötz - Страница 9

Nordsee, 10 Seemeilen vor Brunsbüttel , 2014

Оглавление

Die Leute denken immer, dass wir Kieler, nur weil wir am Meer wohnen, alle surfen, segeln oder den ganzen Sommer über im Wasser planschen. Allerdings glaube auch ich, dass jeder Tiroler Ski fährt und die Schweizer nur Schokolade essen. So viel zum Thema Vorurteile.

Ich für meinen Teil meide das offene Meer, so gut es geht. Ich habe eine gesunde Angst vor Haien. Natürlich behaupten meine Freunde, es gäbe keine Haie vor unseren Küsten, die mich beißen könnten, aber ich traue diesen Aussagen nicht. Dass so ein Vieh mal hier auftaucht, finde ich sogar eher wahrscheinlich, da es auch schon Pottwale in die Förde geschafft haben. Und wenn es dann doch passiert, denkt sich so ein Hai vielleicht: »Cool, ich bekomme die Gelegenheit und kann deutsches Essen ausprobieren.«

Das Letzte, was ich brauchen konnte, war auf der Titelseite des Kieler Tagesblattes zu stehen. Ein großes Foto von mir in Badehose, mit zwei nach oben gestreckten Daumen, breit grinsend und dem Titel »Unfassbar! Der erste Haiangriff vor der Kieler Küste und gleich ein Todesopfer.«

Außerdem finde ich es unheimlich, dass unter mir nichts außer Dunkelheit ist und mich dann womöglich noch etwas am Fuß streift. Genauso beschissen aber wäre es, wenn ich die Zähne im klaren Wasser erkennen könnte, bevor sie sich in meinen Arsch graben. Da es in diesem Fall keine Kompromisslösung gab, musste ich dem Badespaß im offenen Meer eben fernbleiben.

Die Strände in Kiel und der Umgebung sind im Sommer eh überbevölkert, zu viele Leute auf zu wenig Raum. Da reiht sich ein Handtuch an das andere und wenn man versehentlich mal eindöst und sich dreht, kann es passieren, dass man plötzlich auf der Frau von einem Anderen liegt. Und dann sind da noch die schreienden Gören, die durch den Sand wetzen und dafür sorgen, dass ich mich später wie Schmirgelpapier fühle.

Da bleibe ich lieber in meinem Garten. In der linken Hand ein kühles Blondes, am liebsten aus der Dose! Das wirkt cooler und in der Rechten schon das Nächste. Meine Beine baumeln dabei im kühlen Wasser des Planschbeckens und dass mich in der 1-Quadratmeter großen Wasserlache etwas anknabbert, ist so gut wie ausgeschlossen. Angeblich halten die Nachbarn die Fenster und Türen geschlossen, weil sie den bissigen Chlorgeruch nicht ertragen können. Dabei halte ich 10 Multitabs durchaus für angebracht. Das Einzige, was ein bisschen komisch aussieht, sind meine weißen Haare an den Füßen, an welchen jeder genau sehen kann, wie hoch das Wasser im Becken ist.

Ich denke, ich hätte eh nicht die Strandfigur. Ich bin zwar nicht dick, habe aber auch nicht unbedingt den durchtrainiertesten Körper. Außerdem beginnt bei mir mit meinen zarten 38 Jahren so langsam die Schwerkraft zu wirken. Die Haare auf dem Rücken werden mehr und die auf dem Kopf weniger. Jemand hat mal gesagt, dass es besser ist, wenn die Haare nach hinten weggehen, als nach vorne zu kommen.

Die grauen Strähnchen zwischen meinen dunklen Haaren finde ich jedoch durchaus sexy, nur eben nicht sexy genug, um damit an den Strand zu gehen.

Mal abgesehen vom Planschbecken und der Badewanne, habe ich es bisher gut hinbekommen, meine Füße auf dem Trockenem zu lassen. Nur heute musste ich den festen Untergrund leider gegen ein Schiff der Küstenwache eintauschen.

Es war Herbst und der kalte Wind, der über das offene Meer auf mich eindrosch, machte mir stark zu schaffen. Die See war unruhig, so dass das Boot der Wasserschutzpolizei auf eine Welle auffuhr, und anschließend vorwärts von ihr herunter kippte. Ich bin für diesen Scheiß wirklich nicht gemacht. Mir war kotzübel und ich konnte nichts dagegen machen. Wenn ich die Augen schloss, drehte sich alles, so wie man nach einer großen Sauftour im Bett noch Karussell fährt. Mit geöffneten Augen war es genauso, nur dass ich sehen konnte, wie es hoch und herunter ging. Der Kapitän versuchte, mich zu beruhigen, indem er mir erklärte, dass es am Ziel unserer Fahrt deutlich ruhigere Gewässer gäbe und ich hoffte, dass es so wäre.

Wir fuhren hinaus auf die Nordsee zu einem, wie die Küstenwache uns mitteilte, skurrilen Tatort. Die Reise dauerte etwa zwei Stunden. Der Kapitän gab mir den zusätzlichen Rat mich in der Mitte des Bootes aufzuhalten, weil es da am ruhigsten sei. Wenn dieser Ort allerdings der Platz war, der am wenigsten Übelkeit verursachte, dann würde ich mich bis zur Ankunft nicht vom Fleck bewegen. Weder nach vorne, noch nach hinten. Meine Freundin Dana sagt immer, dass ihr schlecht wird, wenn sie im Auto etwas liest. Sie sollte es mal auf einem schaukelnden Schiff ausprobieren.

Der Wind wurde stärker, aber der Seegang erstaunlicherweise nicht. Das Wasser wurde flacher, bis es am Ende nur noch unser Boot war, das wie ein stumpfes Messer die glatte Oberfläche auseinanderriss.

Ich versuchte, mich ein bisschen auf das vorzubereiten, was mich nach einer halben Stunde erwarten würde. Besonders viel gab es da nicht, aber die wenigen Informationen waren auch genug. Widerlich!

Die Wolken über uns hatten sich verzogen und links von uns versank die Sonne in einer Mixtur aus Rot- und Orangetönen sprichwörtlich im Meer. Ich sah auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass es kurz nach sechzehn Uhr war. Je tiefer die Sonne von den Fluten verschlungen wurde, desto höher wurden die Nebelschwaden, die sich auf der Wasseroberfläche vor uns auftürmten, bis die Sicht auf unter fünfzig Metern sank. So schön das Schauspiel eben auch war, jetzt wurde es unheimlich. Etwas schimmerte durch die dicke Suppe aus Wolken hindurch und als wir näher kamen, schälte sich eine große Yacht, aus der dunklen Nebelwand heraus.

Es dauerte eine ganze Zeit lang, bis ich die gesamte Größe erfassen konnte, die sich da vor mir auftat. Obwohl ich viel am Hafen von Schilksee spazieren gehe, hatte ich noch nie ein so riesiges Schiff gesehen, das sich im Privatbesitz befand. Alles an der Yacht wirkte perfekt. Von außen war sie in einem makelosen weiß lackiert und drei Stockwerke hoch. Die Fenster und Bullaugen waren in einem symmetrischen Schwung aufeinander abgestimmt worden. Der Bug lief zu einer eleganten Spitze zusammen. Das Heck war abgeflacht und lud dazu ein von dort aus direkt in das kühle Nass zu springen. Sie hing wie ein riesiger weißer Stein, der aus der pechschwarzen Erde herausguckte, in der See. Es war, als würde sie in den Fluten feststecken und als wir nah genug waren, leuchtete sie wie ein Weihnachtsbaum.

Wir fuhren vom Heck aus Steuerbord, also links, an ihr vorbei, bis wir an der Hälfte angekommen waren, wo sich die Anlegestelle befand.

Durch die Fenster konnte ich sehen, dass im Inneren reges Treiben herrschte. Vor mir befanden sich zwei Welten. Die Grausamkeiten, die sich in der Yacht abgespielt hatten, waren der absolute Gegensatz zu der wunderschönen Eleganz, welche sie von außen widerspiegelte.

An der Reling standen ein paar Polizisten der Küstenwache und kotzten sich die Seele aus dem Leib. Einige andere, die sich zusammenreißen konnten, hielten sich daneben auf und und winkten uns zu. Ich wunderte mich ein wenig darüber, da ich davon ausging, dass die Kollegen von der Wasserschutzpolizei mit den Witterungen besser klarkommen würden als ich. Ich war stolz auf mich, weil ich es bis hierher geschafft hatte, ohne mich zu übergeben.

Der Kapitän trat neben mich.

»Wir machen gleich fest. Sie können dann umsetzen.«

Der Gerichtsmediziner erwartete mich bereits an der Anlegestelle. Wenn man eine Strickleiter, die an der Seite der Yacht runter baumelte, überhaupt so bezeichnen konnte.

»Sollten ihre Kollegen da drüben nicht ein bisschen seefester sein?« Ich zeigte auf die würfelhustenden Herren.

»Seefest sind sie alle, Herr Logat, aber ihnen wird bestimmt bekannt sein, was sich dort abgespielt hat. So etwas Abartiges haben auch meine Leute noch nicht gesehen.« Er taxierte mich mit einem und-jetzt-halt-die-Fresse-Blick und ich verstand die stumme Botschaft.

Es schaukelte und quietschte, als die Fender am Boot der Küstenwache gegen die der Yacht stießen.

In mir kribbelte es ganz widerlich, als ich daran dachte, dass ich da gleich hochklettern musste. Ich stellte mir vor, wie das Boot eine Bewegung machte, ich mich nicht mehr festhalten könnte und zack, da ist der Hai und die Titelseite zeigt mein Foto.

Wir kamen der Strickleiter immer näher und ich konnte darunter den Namen der Yacht lesen. Samphire. Ein schöner Name, ich weiß zwar nicht, was er bedeutet, aber in Anbetracht dessen, was ich aus der Akte über die Vergangenheit des Kapitäns wusste, wird es nicht der Name seiner Exfrau sein. Ich glaube, dann hätte er den Kutter versenkt.

Der Beamte der Wasserschutzpolizei warf in dem Moment, als das Boot dicht genug dran war, ein Seil hinüber zur Samphire und der Kollege, der das Tau fing, band es an eine Klampe fest. Jetzt war Showtime, meine letzten Sekunden. Noch konnte ich zurück, aber das wäre feige gewesen und ich war kein Feigling. Ich griff nach der Leiter und bemerkte, dass sie zwar flexibel, aber auch stabil war. Sie sah gar nicht danach aus, aber es ging erstaunlich einfach, sie hochzuklettern. Auf der vorletzten Stufe wedelte der junge Kollege mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum und ich griff beherzt zu. Er konnte sich gerade noch festhalten. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, zog er mich souverän nach oben. Ich wollte mich entschuldigen, aber ich fror. Meine Beine zitterten und ich musste ins Warme. Ich umkurvte den großzügigen Pool und ging durch die Glastür in den Salon.

Ich konnte zwar schon von außen sehen, was mich erwartete, aber als mir der Geruch zusätzlich in die Nase stieg, fühlte es sich an, als wenn ich ein Brett vor den Kopf geschlagen bekommen hätte. Der Begriff »skurril« war mehr als untertrieben.

Ich hatte schon viele Dinge gesehen, grausame, eklige, widerliche, Frauentausch auf RTL II, aber das hier ließ alles andere niedlich erscheinen. Sogar der Gerichtsmediziner hielt seine Hand schützend vor den Mund.

Dr. Florian Kontz, war ein schlaksiger großer Mann. Er hatte eine Harry Potter Brille, die sein schmales Gesicht, noch schmaler machte. Seinen kurzen Bürstenhaarschnitt versteckte er unter einem Baseballcap mit der Aufschrift »Coroner«, welches das englische Wort für Gerichtsmediziner war. Er hatte seinen Blick nach unten gerichtet und schüttelte den Kopf leicht hin und her. Wenn jemand, der sonst mit einer Astschere die Rippen irgendwelcher Leichen durchknackt, sich vor einem Tatort ekelt, dann soll das schon was heißen.

Es stank nach Blut, Urin und, sagen wir ruhig, wie es war, Scheiße. Der Fußboden, ein riesiger See aus gemischten Körperflüssigkeiten, klebte unter den Schuhen und jeder meiner Schritte hinterließ ein schmatzendes Geräusch.

Wir standen in einem Raum, den man durchaus als Herrenzimmer bezeichnen könnte. Es gab einen monströsen Holztisch aus Mahagoni, der an den Rändern abgeschliffen und mit aufwendigen Gravuren verziert worden war. Er glänzte unter dem Licht der eleganten Kronleuchter, die darüber hingen. Die Feuerstelle in der Ecke bestand aus einem Kamin, der mit handgefertigten Schnitzereien übersäht war. Er sah aus wie der aus dem Titanic-Film von James Cameron. Auf dem Fußboden lagen, zwischen den zahlreichen Holzscheiten, die Scherben der Kristallgläser und der kaputten Whiskey- und Brandyflaschen.

Obwohl der hier verschüttete Alkohol schon eine gewisse Grausamkeit hatte, stellte der restliche Inhalt des Raumes alles Andere in den Schatten. Von der Decke hingen die Leichen der Crewmitglieder wie Vieh, mit den Köpfen nach unten. Sie wurden ausgeweidet und teile ihrer Innereien lagen auf dem Fußboden direkt neben ihnen oder ragten aus ihren aufgeschlitzten Bäuchen heraus. Im ersten Moment sah es aus, als wären sie mit einem Seil aufgehängt worden, aber bei näherer Betrachtung sah ich, dass es sich dabei nicht um Seile handelte, sondern um ihren eigenen Darm.

Wie sie so mit den Köpfen nach unten hingen, erinnerte es ein bisschen an die Dokumentation, die ich eine Woche zuvor geguckt hatte, in der sie zeigten, wie Chicken Nuggets hergestellt werden. Ich beschloss, mir in Zukunft mein Geflügel nur noch beim Gockel-Horst vor dem Edeka zu kaufen.

Es waren vier Männer und einige von ihnen berührten mit den seitlich am Körper runterhängenden Armen leicht den Boden. Ich sah mir die Hände der Opfer an und mir fiel etwas Merkwürdiges daran auf.

»Florian würdest du dir das hier mal bitte ansehen?« Ich zeigte auf die Finger von einem der Toten. Dann ging ich zum Nächsten. »Und hier haben wir das Gleiche.«

»Sie sehen völlig normal aus.«, sagte er.

»Ja, ein bisschen zu normal. Aus der Akte dieses Falles, die ich auf dem Schiff der Küstenwache gelesen habe, konnte ich entnehmen, dass es sich hier um ein schwimmendes Prinzessinenschlösschen handelt, mit dem gut betuchte Menschen mitfahren. Ich gehe also davon aus, dass auch die Mitarbeiter hier gepflegt sein müssen. Manikürte Fingernägel wurde offensichtlich ebenfalls gefordert. Das Auffällige ist, dass sie keine Kampfspuren zeigen. Sie sind makellos. Wenn hier ein Irrer herum rennt, vier Männer ermordet, aufschlitzt und an die Decke hängt, würde ich zumindest vom letzten Opfer erwarten, dass es sich wehrt. Aber nichts. Es sieht aus, als hätte er sie allesamt einvernehmlich gekillt. Die Augen sind auf, sie haben also nicht geschlafen.« Ich stand auf und guckte zu Dr. Kontz. »Vielleicht hast du ja eine Erklärung, wie das geht.«

»Ich denke, so wie es hier aussieht, kann ich keine vernünftigen Schlüsse ziehen. Ich muss sie erst auf meinem Tisch haben, dann werde ich genaueres sagen können. Aber es ist seltsam, da gebe ich dir Recht.«

Ich ließ Florian weiter arbeiten und ging zu der Treppe am Ende des Raumes, die zur Brücke hoch führte. Auf dem weißen Teppich, der den Aufgang bedeckte, waren auf jeder zweiten Stufe blutige Fußabdrücke, die vermutlich vom Kapitän des Schiffes stammten. Er hatte es also eilig.

Auf dem Linoleumboden der Kommandobrücke verschwand die Gradlinigkeit der Spuren. Ich konnte erkennen, dass Herr Svensson in die Richtung der Steuerkonsole gelaufen sein musste, sich dort wieder umdrehte und dann anschließend versuchte das Funkgerät zu erreichen. Auch hier wuselten bereits zwei Kollegen der Spurensicherung umher und untersuchten die blutigen Abdrücke auf dem Boden und am Hörer des Funkgerätes. Sie stellten bei allem, was sie finden konnten kleine gelbe Hinweisschilder auf, machten Fotos und notierten ihre Kenntnisse auf einem Klemmbrett.

Johann Schmied, ein Kommissaranwärter, saß an einer Kommandokonsole und studierte das Logbuch des Kapitäns. Er hatte es sich im Stuhl des Chefs gemütlich gemacht und die Beine auf den Kartentisch direkt vor ihm gelegt. Obwohl er erst fünfundzwanzig Jahre alt war, konnte ich die Kopfhaut gut durch die dünnen, schütteren Haare sehen. Wahrscheinlich würde ihm in drei oder vier Jahren nur noch der Griff zum Rasierer vor einer sehr peinlichen Frisur retten. In seinem Gesicht waren die Zeiten der Pubertät wie ein mahnendes Denkmal praktisch eingraviert worden. In seinem kalkweißen Gesicht hatte er tiefe Furchen, die daran erinnerten, dass Pickelcreme besser ist, als jeden einzelnen Hügel auf Teufel komm raus auszudrücken.

»Soll ich Ihnen ein wenig Musik anmachen und einen Wein zu Ihrer Lektüre reichen?«

»Herr Kommissar.« Er reagierte sofort und zog hastig die Beine runter. »Ich wusste ja gar nicht, dass Sie schon da sind.« Seine Blässe änderte sich augenblicklich in ein tiefes Rot.

»Irgendwelche Besonderheiten?«

»Allerdings.« Er hielt mir das Buch hin. »Die letzten Einträge sind interessant«.

Ich nahm das dünne, in Leder geschlagene Logbuch in die Hand und öffnete die vorletzte beschriebene Seite.

Logbucheintrag 20 Oktober 2014

Wir haben die Samphire heute Morgen pünktlich um 9 Uhr aus der Werft in Southampton abgeholt. Die Inspektion lief reibungslos. Wir sind wie geplant auf Kurs in Richtung Kiel. Die Fahrrinne scheint heute eine Gegenströmung zu haben, denn trotz voller Maschinenkraft erreichen wir nicht die Höchstgeschwindigkeit von 24 Knoten. Sollte das Problem morgen noch bestehen, werde ich der Werft in Kiel wohl noch einen Besuch abstatten müssen.

Logbucheintrag 21 Oktober 2014

Heute Morgen haben wir einen Schiffbrüchigen aus dem Wasser gezogen. Er behauptet, dass sein Schiff plötzlich leck geschlagen hat und vollständig versunken sei. Wir werden ihn mit nach Kiel nehmen und ihn dort absetzen. Das Problem mit der Geschwindigkeit besteht weiterhin. Ich werde in Kiel eine Untersuchung veranlassen, bevor wir die nächste Reise nach Afrika antreten.

»Eigenartig nicht wahr?« Fragte Johann Schmied, als ich meinen Blick hob.

»Stimmt. Der Typ, den sie aus der Nordsee geholt haben, fehlt auf dem Schiff.« Ich reichte ihm das Buch rüber. »Oder haben Sie noch eine weitere Leiche entdeckt, von der ich nichts weiß?«

»Nein. Nur die vier in der Lobby.«

»Ich sehe mich mal in der Kajüte um.«

»Verstanden.«

Ich ging nach links und bog um die Ecke in die Kapitänskajüte. Sie war sehr spärlich eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch und an der Wand ein Bild vom Chef persönlich. Er schien ein bisschen selbstverliebt zu sein.

»Wo ist eigentlich der Kapitän? Er hing nicht mit seinen Kollegen im Kaminzimmer rum.« Ich sprach etwas lauter, damit Herr Schmied mich hören konnte.

»Wir fanden ihn hier bewusstlos auf dem Boden. Er wurde mit einem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen.«

»Stimmt es, dass er von einem Monster gesprochen hat?« Ich ging wieder zurück auf die Brücke und stellte mich neben Johann.

»Das behauptet zumindest die Küstenwache. Er hat gefunkt, dass ein Monster alle getötet hat und bevor er zusammengebrochen ist, hat er beschrieben, dass es vor ihm stehen würde. Aber es scheint doch sehr unwahrscheinlich, dass es ein Monster war, oder?«

»Ich bin mir da gar nicht so sicher, wenn ich mir das da unten angucke. Wer macht so was?«

»Kein Plan. Aber ich denke nicht an ein Fabelwesen.«

»Das hoffe ich. Ich habe mein Kreuz und die Beretta mit den geweihten Silberkugeln zu Hause gelassen.«

Ich kniete mich neben den Kapitänsstuhl und begutachtete das Blut, das an der Halterung klebte. Ich folgte der Blutspur bis hin zum Funkgerät. Ich drehte mich zur Tür um und versuchte mir vorzustellen, was Herr Svensson in diesem Moment gesehen haben konnte.

»Wieso hat er die Küstenwache nicht in Kenntnis gesetzt, dass sie jemanden aufgelesen haben?«

»Davon steht hier nichts.«

»Das weiß ich, ich hab es gelesen. Aber ein junger Mann kommt an Bord und nur einen Tag später hängt die gesamte Crew an der Decke, nur der Chef selbst wird verschont und träumt von einem Monster. Irgendwie ergibt das keinen Sinn. Wie haben wir das Schiff überhaupt gefunden?«

»Svensson hat die Küstenwache angefunkt und während des Gespräches konnten sie plötzlich das AIS-Signal orten, was merkwürdig ist.«

»Wieso merkwürdig? Das AIS ist doch immer an.«

»Richtig, aber das war es am Anfang nicht, als er begann seinen Hilferuf abzusetzen. Es schien, als wenn er es erst im Laufe des Notrufs eingeschaltet hätte.«

»Geht das denn?«

»Soweit ich weiß, nicht. Aber die Kollegen der Wasserschutzpolizei prüfen das gerade.«

»Na schön.«, sagte ich und ließ meinen Blick über die Konsole schweifen. Ich muss zugeben, die ganzen Instrumente, Knöpfe und Anzeigen waren böhmische Wälder für mich. Aber lesen kann ich. Eine der vielen Informationen, die ich sehen konnte, betraf sowohl die Position, als auch die Verfügbarkeit der Rettungsboote. Und dass was dort angezeigt wurde, passte nicht ins Gesamtbild dieses Tatortes. »Wie viele Rettungsboote hat die Samphire?«

»Zwei und beide sind hier.« Er klappte das Buch zu und sah mich an. »Sie denken vermutlich das Gleiche wie ich, oder?«

»Möglich, was denken Sie denn?«

»Wenn es kein Monster war, sondern ein Mensch, wie ist er dann von Bord gekommen?«

»Vielleicht hat der Killer das Schiff nie verlassen.«

»Die Kollegen haben alles durchsucht, wenn sich jemand hier versteckt hätte, hätten wir ihn gefunden.«

»Was ist mit Svensson? Er war hier.«

»Er ist als Verdächtiger nicht auszuschließen, aber warum sollte er nach der Tat einen Notruf absetzen?«

»Um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er erfindet einen Schiffbrüchigen, schreibt das ins Logbuch, killt anschließend seine Leute und setzt einen Hilferuf ab. Wir tauchen auf und suchen nach dem mysteriösen Fremden, den es nicht gibt und er ist raus aus der Nummer.«

»Unwahrscheinlich.« Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mir einer überheblich kam. »Als die Kollegen von der Küstenwache ihn gefunden haben, lag er wohl bewusstlos vor dem Funkgerät da drüben. Der Notarzt hat gesagt, dass er irgendeine Droge im Körper hatte, aber was es ist, wusste er nicht. Er war von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt, so als hätte er in der Lobby auf dem Fußboden von beiden Seiten Schneeengel gespielt.«

»Der Mann war stinkreich. Vielleicht hat er irgendeine neue Sorte von Modedroge in sich reingepumpt, ist durchgedreht und hat seine Leute zum Abhängen in die Lobby gebracht. Dass er ein Monster gesehen hat, war nur eine Halluzination, die als Nebenwirkung von dem Zeug hervorgerufen wurde. Und zum Schluss ist er wie nach jedem guten Rausch hier oben eingepennt.«

»Und während seines völlig abgedrehten Trips hat er einen fehlerfreien und völlig rationalen Logbuch Eintrag gemacht?«

Ich sah ein, dass dieser Punkt wenig Sinn ergab. Er hätte wohl kaum einen Text mit einem geretteten Passagier erfunden und in sein Logbuch eingetragen, nur für den Fall, dass er nach seinem Rausch neben einem Haufen Leichen aufwacht.

»Sie haben recht. Wir übersehen etwas. Nur was?«, gab ich zu.

»Keine Ahnung.« Schmied zuckte mit den Schultern.

»In welches Krankenhaus haben sie den Kapitän denn geflogen?«

»Uniklinik Kiel.«

In mir zog sich alles zusammen. Genau in diesem Krankenhaus wurde ich vor zwei Jahren aus dem Koma geholt. Aber es nützte nichts, ich musste mit Svensson sprechen. Mir fiel das Boot der Küstenwache wieder ein und auch die Strickleiter und der darunter kreisende Hai drängten sich in mein Gedächtnis. Mir wurde schlecht.

»Rufen Sie mir einen Heli. Er soll auf dem Dach landen. Ich erwarte ihn dort.« Johann Schmied grinste mich an. »Leider müssen wir alle mit dem Boot fahren. Budgetkürzungen.«

»Schöner Scheiß. Aber wenn ich gefressen werde, dann war das Ihre Schuld!«

Er sah mich verwirrt an. »Gefressen, Herr Kommissar?«

»Vergessen Sie´s.«

Widerwillig ging ich die Treppe wieder hinunter zurück in die Lobby. Die Kollegen nahmen unter den wachsamen Augen von Florian langsam und behutsam die Leichen von der Decke und steckten sie in die dafür vorgesehenen Säcke. Ich zupfte zur Verabschiedung an meinem imaginären Hut und ging mit diesem stillen Gruß hinaus auf das Außendeck. Ich sog die kalte salzige Seeluft ein. Zum ersten Mal an diesem Tag genoss ich den Geruch des Meeres.

Ich ließ die gesammelten Informationen Revue passieren und versuchte mir ein einigermaßen sinnvolles Bild zu machen. Die Besatzung des Schiffes betrug vier Mann plus Kapitän. Laut Logbuch hatte die Samphire vor zwei Tagen einen zusätzlichen Passagier aufgenommen, der im Wasser trieb. Beide Rettungsboote waren da, und dennoch fehlte uns jetzt ein mysteriöser Mann. Vielleicht hat der Kapitän den Eintrag nur gefälscht, um von sich abzulenken. Den blinden Passagier konnte er wieder über Board geschmissen und seinem Schicksal überlassen haben. Aber dann wäre das Ganze eine geplante Tat gewesen und das passt irgendwie nicht zum Rest der Geschichte. Wieso hat er sich nicht aus dem Staub gemacht? Ich musste ihn befragen, also hieß es Arschbacken zusammenkneifen, Strickleiter runter und in der Nussschale zurück nach Kiel fahren.

Monster

Подняться наверх