Читать книгу Die neue Generation der Cosa Nostra - Manuel Magiera - Страница 7

Die Höhle

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Christina fing wegen seiner Angabe zu hüsteln an. „Igitt, hier stinkt’s“, rief sie aus und ergänzte: „Es gab auch weibliche Briganten. Sie hießen Brigantessas. Eine von ihnen war Michelina De Cesare. Im Internet ist ein Bild von ihr. Sie sieht aus wie Elli am frühen Morgen, wenn sie zur Schule muss!“ Elena schnaufte wütend, aber bevor sie eine passende Antwort gefunden hatte, fragte Michael: „Ist das da drüben Ustica? Da würde ich auch gerne mal hinfahren.“ Elli setzte ein süßsäuerliches Lächeln auf. „Da müssen wir Papa fragen. Es ist eine sehr schöne Fahrt mit der Yacht. Es gibt auf der Insel ein Beinhaus mit vielen Skeletten. Die Römer fanden dort einst 6000 Leichen.“ Dann blickte sie mit zusammengekniffenen Augen zu ihrer frechen Schwester. „Vielleicht sind es ja 6001 Leichen, wenn wir Ustica verlassen.“ Tommaso konnte sich kaum noch einhalten vor Lachen. Die Mädchen neckten sich seit Michaels Ankunft ständig. Christina war wohl eifersüchtig auf die große Schwester, deren Freund sich zärtlich zu ihr umdrehte. „Ich liebe dich, kleine süße Michelina. Dein Name wurde doch schon in dieser herrlichen Landschaft verewigt. Du bist Conca d’Oro, die goldene Muschel.“ Elena beugte sich vor und hauchte ihm dankbar für das Kompliment einen Kuss auf die Wange.

Stefano und der kleine Luca hatten bereits alles vorbereitet. Die Carmen war startklar und kurz nachdem die Kids ihre Sachen an Bord gebracht und sich eng aneinandergedrängt einen Platz auf dem für sechs Personen eigentlich zu kleinen Boot gesucht hatten, legte er ab. Das Wetter war herrlich. Es gab nur eine kleine leichte Brise und das Meer lag fast regungslos vor ihnen. Als sie die Hafenspitze umfuhren, hielt Stefano direkt auf die Felsenküste zu. Nach einer knappen halben Stunde warf er gleich neben dem jetzt vom Wasser umspülten Liebesfelsen den Anker aus. Auch hier war die See ruhig. Die Kinder hingen die kleine Badetreppe, die Stefano für die Mädchen mitgenommen hatte, über die Bordwand und einer nach dem anderen ließ sich ins warme Wasser des Tyrrhenische Meeres hinabgleiten. Michael und die beiden anderen Jungen zogen sich Tauchbrillen auf und begannen zu schnorcheln. Es war, als befände man sich in einem riesen großen Aquarium und würde dort zusammen mit den Fischen schwimmen. Unzählige verschiedene Arten tummelten sich in den kleinen Grotten nahe dem Felsen. Große schwarz- weiß gestreifte Fische hatten sich in kleinen Schulen zusammengefunden, um den Boden nach Essbarem abzusuchen. Wiederum andere gehörten zu großen Schwärmen, die auseinanderstoben, wenn Michael sich auf sie zu bewegte, um sich dann, sobald keine Gefahr mehr bestand, unbemerkt, wie von Geisterhand, wieder zusammenzutun. Michael konnte sich nicht satt sehen. Er zählte in kürzester Zeit zwanzig unterschiedliche Arten. Luca stieß ihn an und zeigte ihm die bunten perlmuttartigen Schalen der Seeigel, die ein paar Meter unter ihnen lagen. Dann erblickten die Jungen eine große gelbe Medusa, eine Qualle, mit braunem Rand und sehr langen Tentakeln. Stefano gab ihnen das Zeichen, sich in sicherer Entfernung zu halten. Manche Quallen sonderten ein Gift ab, welches schmerzhafte Verletzungen auf der Haut verursachte. Die Mädchen schwammen unterdessen zum Strand und ließen sich auf einem markanten Felsen nieder, von dem eine steile Wand fast senkrecht nach oben führte. Die Jungen folgten ihnen nach einer Weile. Prustend zog sich Michael auf den Felsen und gab dann dem kleinen Luca seine Hand. Der Besuch aus dem kühlen Norden Deutschlands war überwältigt von der Landschaft. Die Sonne, die Wärme, das herrliche Wasser und die vielen Fische faszinierten ihn und Michael wollte am liebsten für immer hier bleiben. Elena zeigte erwartungsvoll nach oben zu einer kleinen Felsspalte, die nur bei Flut zugänglich war. Dort standen viele Namen in den Felsen geritzt. Stefano nahm sein Fahrtenmesser zwischen die Zähne. Dann begann er den gefahrvollen Aufstieg über die glatten Felsvorsprünge. Triumphierend suchte er sich an der Spitze zwischen zwei gegenüberliegenden Steinen einen Platz, um die Namen von ihm und Carmen dort zu verewigen. Wieder unten angekommen, reichte er das Messer an Michael weiter. Der Junge zögerte nicht einen Augenblick. Glücklich registrierte Elena, wie nun auch ihr Name auf dem Liebesfelsen Gestalt annahm. Als Michael fertig war, hob Stefano den heftig protestierenden kleinen Luca auf seine Schultern. Michael zog den schmächtigen Zwölfjährigen mit sicherem Griff auf einen Felsvorsprung und stellte sich schützend vor ihn. Dann half er ihm seinen Namen in den Fels zu ritzen. Zufrieden blickte auch Christina zu den beiden hinauf. Wieder unten angekommen gab er ihr etwas widerwillig einen Kuss und das auch nur, weil die beiden älteren Mädchen ihm erklärten, dass der Bund auf dem Liebesfelsen sonst nicht wirkte und er sich die ganze Mühe umsonst gemacht hätte.

„Gut gemacht, Luca. Ich trage die Verantwortung für dich und habe deinem Vater versprochen, dich wieder unbeschadet nach Hause zu bringen. Du bist noch nicht stark genug für die Kletterpartie, deshalb haben wir etwas nach geholfen. Also, sei nicht sauer. Du wärst möglicherweise runtergefallen“, bemerkte Stefano, als Michael und Luca wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Michael pflichtete bei. „Es war auch für mich nicht so leicht auf dem glitschigen Felsen. Du kannst ruhig Hilfe annehmen. Das ist nicht gegen die Regeln. Du hast ja auch die Hauptarbeit geleistet und die Namen eingeritzt.“ Luca lächelte dankbar. Er hatte nun doch verstanden und war froh, von den beiden großen Jungen so ernst genommen zu werden. „Wir müssen wieder zum Boot schwimmen und auf die Ebbe warten. Erst dann können wir in die Grotte“, erklärte Stefano. Die Jugendlichen folgten ihm ins Wasser. Auf der Jolle zogen sich die Mädchen ihre nassen Badeanzüge aus und nahmen dann vor den erstaunten Jungen Kuchen und Cola aus ihren Rucksäcken. Die folgenden dreieinhalb Stunden mussten sie ausharren. Alle hatten ihre MP3 Player dabei und die Mädchen hatten sich auch Bücher eingepackt. Michael sprang zwischenzeitlich, wie die anderen, immer wieder in das warme Wasser und untersuchte den Meeresgrund. Am Ende zählte er sogar einundzwanzig Fischarten, hatte einige schöne Muscheln gefunden und die schmerzhafte Bekanntschaft mit einem Seeigel gemacht. Dann setzte langsam die Ebbe ein. Das Wasser ging zurück. Die ablaufende Strömung zog an der Ankerkette und zeigte dem Hamburger, welch unbändige Kraft auch hier im Meer verborgen war und wie gefährlich es sein konnte, würde man ihr keine Beachtung schenken.

Gegenüber dem Liebesfelsen erhob sich eine steile Felsenwand, die zum Monte Pellegrino gehörte. Es schien gar nicht weit zu sein. Stefano zeigte auf die See und erzählte von der tückischen Unterwasserströmung, die einen arglosen Schwimmer ins offene Meer hinaus ziehen würde. Weiter draußen gab es dann auch die Haie, nach denen Michael gefragt hatte.

Als das Boot nach einer Weile auf Grund saß, kletterten die Jugendlichen zum festen Strand hinüber. Der Boden hatte nun eine andere Gestalt angenommen. Michael watete zusammen mit Elena durch einen Priel und spürte erneut, wie sogar das kleine Rinnsal ihm fast die Beine wegriss. Wer bei einsetzender Flut auf diesem Weg ginge, würde unweigerlich ins Meer gezogen werden. Die Gruppe kletterte um die Felsen herum und erreichte den Eingang in eine Grotte. „Sind sie hier ertrunken?“, fragte Michael und dachte mit großer Anteilnahme an die Juden, die damals auf dem Weg ins rettende Heilige Land einen so tragischen Tod fanden. Christina nickte ergriffen und bekreuzigte sich. Auch die anderen beiden Mädchen taten es ihr gleich und sprachen leise das Requiem für die Unglücklichen. „Es ist schon sehr schlimm, wenn man es schafft, den Mördern Hitlers zu entgehen und dann auf eine so traurige Weise ums Leben kommt.“ Stefano dachte an den kleinen Alfredo, der ungefähr so alt wie Luca gewesen war, als er seine Mutter und seinen kleinen Bruder in dieser Höhle verlor. Es war kein Wunder, dass sein Verstand aussetzte und er kaum mehr ein normales Leben führen konnte. Stefano mochte den alten Mann sehr. Sie betraten die Höhle, in deren hinterem Teil sich ein kleiner See befand, dessen Wasser auch jetzt nicht ablaufen konnte. Michael sah Stefano an, zog sich seine Taucherbrille über und ließ sich vom Rand ins dunkle Wasser gleiten. Gurgelnd spie er etwas davon aus und stutzte.

„Was ist?“, fragte Stefano. „Es schmeckt gar nicht salzig. Ob da unten eine Süßwasserquelle ist?“ „Schon möglich“, antwortete sein Freund. „Wir sollten mal eine Tauchausrüstung mitnehmen. Ich hätte große Lust zum Höhlentauchen.“ Michael versuchte auf den Grund des kleinen Sees zu blicken und bemerkte einen Spalt etwa zwei Meter unterhalb des Randes. Er war so breit, dass bequem ein Erwachsener durchpasste und der Junge holte tief Luft. Einen Augenblick später tauchte er wieder auf. Die Umgebung hatte sich verändert. Er befand sich in einer neuen Höhle. Er blickte interessiert nach oben. Ein kleiner Sonnenstrahl stammte aus einer Spalte an der Höhlendecke und tauchte die Grotte in mattes Licht. Nach ein paar Minuten holte er abermals tief Luft. Nervenstark blickte er sich unter Wasser um und fand erleichtert den Weg zurück. Elena und die beiden Schwestern standen mit ängstlichen Gesichtern am Rand des Sees und waren froh, als Michael wohl behalten wieder zu ihnen hinauskletterte. Stefano sah ihn erwartungsvoll an. „Wir sollten wirklich Tauchanzüge und Pressluftflaschen mitnehmen“, antwortete der darauf hin. „Wie sind die Leute damals überhaupt hier hereingekommen?“, fragte er. Elli erzählte es, während sie mit der Hand auf die gegenüber liegende Seite wies. „Dort ist der Eingang, siehst du? Er führt nach oben. Da sind sie heruntergeklettert. Es war der Weg, den früher auch die Schmuggler und Banditen genommen haben. Der Zugang wurde von der Polizei verschlossen.“ „Ja, so hat Alfredo mir den Weg auch beschrieben“, erzählte Stefano. Lasst uns wieder zum Strand gehen. Es gibt an der Seite noch ein paar kleine Grotten mehr, in die wir jetzt hinein können.“

Auch auf der Heimfahrt sprach Michael nicht von seiner Entdeckung. Am Abend verabredete er sich noch einmal mit Stefano vor dem Anwesen seines Onkels. Dort saßen die Jungen am Straßenrand und Stefano erfuhr von der zweiten Höhle. Er überlegte nicht lange. „Der Eingang, der jetzt unter Wasser ist, lag früher höher. Von dieser Grotte, gelangt man zur Schatzkammer der Piraten. Es werden nach Stürmen immer wieder Kisten und Holz aus vergangenen Jahrhunderten an den Strand gespült, wenn das Wasser die hoch gelegenen Plätze erreicht. Alfredo hat mir davon berichtet. Es gibt noch einen Zugang, der von dem engen Gang abzweigt. Alfredo war weggelaufen und hatte die Umgebung erkundet. Er befand sich ziemlich weit oben, als die Flut einsetzte, so überlebte er den Wassereinbruch und dann hörte er über Öffnungen im Fels die verzweifelten Todesschreie seiner Leute. Es muss grauenvoll für ihn gewesen sein, sie sterben sehen zu müssen und nichts für sie tun zu können. Er hat ja darüber auch den Verstand verloren. In einer der Höhlen lagerten alte Fässer mit Rum und Alfredo fand neben einem eine Goldmünze. Er konnte nicht weiter hineingehen und die anderen Räume erkunden, weil er durch die Flut abgelenkt worden war. Aber er vermutete dort oben den Seeräuberschatz der Piraten.“ „Dann werden wir jetzt die Arbeit für ihn übernehmen. Wenn wir den Schatz gefunden haben, sagen wir es ihm und beten gemeinsam das Requiem für seine Familie. Wir werden sonst niemand etwas davon erzählen. Er gehört uns beiden und wird der Grundstein für unser Vermögen sein. Dann brauchen wir auch das Geld meines Onkels nicht. Wir suchen Leute, die uns einen Teil des Goldes abkaufen und die schönsten Stücke behalten wir selbst. Ich bin gespannt, was wir alles finden werden. Abgemacht?“ Michael sah Stefano in die Augen. „Du weißt, dass dein Onkel Tonio in krumme Geschäfte verwickelt ist? Er gehört zu den heimlichen Bossen der Cosa Nostra. Sein Vater wurde in den achtziger Jahren während des letzten großen Bandenkrieges erschossen. Und sein Großvater saß nach 1963 einige Jahre im Gefängnis. Die ganze Familie gehört seit Generationen zur Mafia“, sagte Stefano. Michael reichte ihm die Hand. „Wir beide, du und ich, wir werden die neue Generation sein. Ich habe mir alles überlegt. Wir werden eine Organisation aufbauen, die es noch nie gab. Und wir werden aus den Fehlern unserer Väter und Großväter lernen. Das einundzwanzigste Jahrhundert bedarf einer anderen Form der Führung.“ „Einverstanden, und ich bin ab sofort dein Consiglieri.“ Stefano schlug ein.

„Sag mal, stimmt das mit dem Aufnahmeritus? Müssen neue Mitglieder ihr Blut auf Heiligenbilder tropfen lassen und dann einen Eid auf die Familie ablegen?“ Michael blickte Stefano amüsiert an. Der grinste. „So genau weiß das ja niemand, weil es eigentlich geheim ist. Aber ein Freund erzählte, dass sich dessen Bruder einem derartigen Ritual unterziehen musste. Als ich meinen Vater fragte, meinte er nur, ich solle mich überraschen lassen. Doch, ich denke schon. Es wird immer wieder von besonderen Bräuchen gesprochen.“

„Findest du das nicht reichlich kindisch? Winnetou lässt grüßen. Also, für erwachsene Männer ist so etwas doch ziemlich albern, oder?“, meinte Michael. Ohne Stefanos Bestätigung abzuwarten fuhr er fort: „Wir sollten uns etwas Moderneres überlegen. Vielleicht ein gemeinsames Tattoo, was meinst du?“ Stefano dachte nach.

Er fand die Idee auf Anhieb gut. Es war wirklich an der Zeit, die verstaubten Rituale etwas aufzupolieren und dem einundzwanzigsten Jahrhundert anzupassen. Fast jeder trug heute Tattoos oder Piercings. Auf jeden Fall sollten die Umrisse Siziliens darauf zu sehen sein. Er erzählte Michael, der sofort begeistert zustimmte, von seinen Vorstellungen. Es war die Geburtsstunde für ein gemeinsames Erkennungszeichen, wo immer sich Mitglieder der einzelnen Familien auch begegnen würden. Die Umrisse ihrer Heimatinsel musste sie zusammen schweißen. Auch sollte kein Sizilianer nach Michaels Willen einen anderen Sizilianer bekämpfen, nur, weil sie verschiedenen Familien angehörten. Geschäftsfelder sollten die Oberhäupter in regelmäßigen Abständen festlegen und alles gerecht unter einander aufteilen. Auch Streitfragen würden nur noch in der Chefetage entschieden. „Was hältst du davon, wenn wir in die Umrisse das Bild des Monte Pellegrino, als Zeichen unserer Familie, setzen? So kann jede Familie innerhalb der Umrandung ihren eigenen Herkunftsort festlegen. Buchstaben finde ich nicht gut, weil sie zu leicht zu entschlüsseln sind. Aber, so ein Bild ist unverfänglich und sagt nur aus, dass der Träger von Sizilien kommt“, meinte Michael. Die beiden überlegten fieberhaft weiter. Möglicherweise fand die Idee auch Anklang bei Touristen, die sich das Tattoo als Liebeserklärung an ihre Insel stechen ließen. Auf diese Weise erhöhte sich die Zahl der Träger und die Polizei hätte Schwierigkeiten das Tattoo als Erkennungsmerkmal einer Mafiafamilie zuordnen zu können. Die Planungen bereiteten den Jungen so viel Spaß, dass Stefano erschrocken kurz vor Mitternacht auf die Uhr sah. Er verabschiedete sich schnell. Als er auf seinem Mofa saß und nach Hause fuhr, fühlte er sich plötzlich viel erwachsener.














Die neue Generation der Cosa Nostra

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