Читать книгу Ich bin nur normal - Manuel Wagner - Страница 10
Alles löschen, sofort!
Оглавление»Sehr gut. Da haben wir ja den Übeltäter, der dich einfach nicht in Ruhe lassen wollte und dich nicht schlafen ließ«, kommentiert der Neurologe sein Tun in meinem Kopf.
Ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich, jetzt wo ich die Prozedur hinter mir habe. Kennt ihr auch das Gefühl, dass ihr gerade einen unglaublich spannenden, erzählenswerten Traum hattet, aber ihr ihn Sekunden nach dem Aufwachen wieder vergessen habt? Genau so fühle ich mich jetzt, als ob ich etwas seltsames geträumt hätte, an das ich mich nun nicht mehr erinnere. Wenn auch ein wenig anders, empfinde ich das Gefühl als vergleichbar. Jedoch geht es bei besagter Prozedur nicht um das Vergessen absurder, witziger oder gar erotischer Träume, sondern um Gedanken, die einen wach gehalten haben, Gedanken, die jede ruhige Minute im Kopf nutzten, um vermeintliche Probleme derartig aufwendig in Szene zu setzen, dass man meinte, man könne nicht weiterleben, wenn man diese vermeintlichen Probleme nicht sofort löst. Das tückische ist nur, dass es sich dabei immer um Probleme handelt, die im Moment des Nachdenkens unlösbar sind, weil das Hirn mit irgendwelchen vergangenen Ereignissen im Kopf herumjongliert und dabei zum Beispiel vermeintliche Missverständnisse oder sogar Peinlichkeiten aufdeckt, die einem bei der Kommunikation mit Menschen passiert sein sollen. Hat man sich vielleicht aus Versehen in der Bäckerschlange vorgedrängelt? Wurde man beim Wechselgeld betrogen? Hatte man sich im Meeting derart unklar ausgedrückt, dass niemand wusste, was man sagen sollte? Ich weiß auch nicht, welcher dumme Umstand in der Evolutionsgeschichte unserem Gehirn diese sinnlose Angewohnheit des unlösbaren Gedankenkreisens verpasst hat.
Allerdings, was mich zuletzt um den Schlaf hätte bringen können, kann ich euch jetzt nicht mehr sagen. Ich sitze hier mit einer Haube auf dem Kopf, die voller Elektroden ist, die sowohl Gehirnströme empfangen als auch Strahlung und Wellen verschiedenster Art zielgerichtet in alle möglichen Bereiche meines Gehirns senden können. Die Prozedur, bei der man bestimmte Gedanken genauer gesagt Emotionen löscht, ist etwas unangenehm, denn das zuvor eingenommene Konzentrin sorgt dafür, dass man die fehlerhaften Gedanken zuerst einmal sehr intensiv erlebt, so dass man wirklich kein Stück mehr vom Unangenehmen abschweifen kann. Aber nur so kann garantiert werden, dass der Arzt den zu löschenden Gedanken im Gehirn richtig erkennen kann und nicht aus Versehen einen Gedanken entfernt, der eigentlich nicht gelöscht werden sollte. Ohne das Konzentrin könnte zu viel, zu wenig oder falsch gelöscht werden.
»So, waren das alle Gedanken aus deiner fürchterlichen Schulzeit?«
Ich überlege kurz. »Im Moment fallen mir keine dieser kleinen aber stetig nervenden Gedanken mehr ein, die in letzter Zeit unerträglich in meinem Kopf gekreist sind.«
»Jetzt, wo du weißt, wie es sich anfühlt, können wir uns an die tiefer sitzenden traumatischen Gedanken wagen.« Der Neurologe sieht mich besorgt an. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass es jetzt heftig wird. Ich kenne schließlich deine Geschichte, aber danach kannst du schlafen wie ein komatöses Baby.«
Ich weiß, was der Arzt meint, aber eigentlich raubt mir das Attentat nicht mehr den Schlaf. Jedoch gehe ich davon aus, es hat nachhaltig etwas in mir verändert. Auch wenn ich noch oft daran denke, wie man versuchte, mich zu töten, andere unbedeutende Kleinigkeiten wie ein doofer Spruch von einem Lehrer vor langer Zeit oder von irgendeinem Mitschüler, dessen Namen und Gesicht ich längst vergessen habe, fand ich bisher viel schlafraubender. Trotzdem kann es nicht schaden, dieses wahrscheinlich tief sitzende Trauma, was von weit unten immer wieder versucht, nach meiner Seele zu greifen, zu vernichten. Ich konzentriere mich also mit aller Kraft auf den Moment, als ich von der jungen Frau niedergestochen wurde. Mir wird schnell klar, der Arzt hat mich zu Recht gewarnt, es wird geradezu unerträglich intensiv, aber selbst wenn ich wollte, ich bin durch das Konzentrin nicht mehr fähig den Gedanken zu stoppen.
Der Arzt tippt und wischt ein wenig auf seinem Tablet herum, damit der Gedanke und die Emotionen dazu gelöscht werden.
»AAAAHHH! Wieso steckt ein Messer in mir? Dieses Blut! Warum ist überall Blut! Ich will nicht sterben!« Ich spüre wie mich irgendjemand oder irgendetwas festhält, was sich aber in meinem Kopf kurzzeitig so anfühlt, als würde jemand auf mir liegen, um mich endgültig mit einem erneuten Messerstich zu töten.
»Es ist gleich vorbei«, höre ich eine dumpfe Stimme aus der Ferne. Plötzlich ist dieser intensive Gedanke einfach weg. Ich erkenne eine freundliche Krankenschwester über mir, die mich sanft und ein wenig besorgt anlächelt. Doch so richtig weiß ich nicht mehr, was passiert ist. Na ja, ich weiß schon noch von allem, aber es fühlt sich so an, als hätte, das was Schlimmes passiert ist, nichts mit mir zu tun. So als wäre das Passierte eine Erinnerung an einen Film, in dem ich mich selbst als eine Art Schauspieler sehe. Ich empfinde keinerlei Emotionen zu diesem Vorfall oder sonst irgendeine Verbindung zu meinem Sein. Ich kenne nur noch die sachlichen Fakten. Es ist ein angenehmes Gefühl. Wobei mir für diesen Text, den ich euch gerade schreibe, der Arzt einiges über meine eigene Vergangenheit erzählen musste, sonst hätte ich nicht aufschreiben können, wie es sich damals angefühlt hatte.
Auf einmal bekomme ich Angst, weil der Arzt fragt: »Was ist mit Hündchen? Die aufwühlenden Gedanken daran sollen doch bestimmt auch weg?«
Wie so oft, wenn ich Angst habe, scherze ich: »Wer ist Hündchen?«
Der Arzt guckt nur ein wenig genervt und tippt weiter auf seinem Tablet herum.
Dann auf einmal bewegen sich ungewollt meine Lippen: »Die Sozialversicherungsnummer von Hündchen lautet 75949... WAAAH!!!« Ich versuche verzweifelt, den außer Kontrolle geratenen Teil meines Gehirns zu unterdrücken. »Hündchen heißt nicht Hündchen. Der Name lautet.... AAAH! Stopp!«
Der Arzt guckt aufgesetzt grimmig mit einem verspielten Funkeln, das ganz klar zum Ausdruck bringt, dass er sich seiner Allmacht bewusst ist. »Ich mag diese Scherze nicht.«
Erst jetzt verstehe ich, was gerade passiert ist. Ein kleiner Trost ist, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch der Job eines Neurologen von einer künstlichen Intelligenz uneingeschränkt übernommen werden kann.
»Die Technik ist faszinierend oder?«
Spüre ich in der plumpen Frage Reue, die mich wieder beruhigen soll? Es funktioniert.
»Sie ist gruselig. Warum in aller Welt kenne ich Hündchens Sozialversicherungsnummer?«
»Dein Hirn kennt sie oder glaubt sie zu kennen, aber du hast die Nummer nicht im Bewusstsein. Also soll ich Hündchen löschen, nein oder ja?«
»Ja!« Ich schlucke kurz. »Nein, Hündchen nimmt quasi mein gesamtes emotionales Gedächtnis ein. Sein Verschwinden würde mich total verändern. Das geht nicht.«
»Doch es geht, aber was du sagst, stimmt. Seine emotionale Löschung würde dich zu einer völlig anderen Person machen, aber deine Trauer, deine chronische depressive Verstimmung kann entfernt werden, wenn wir Hündchen entfernen.«
Eine Träne kullert über meine Wange.
»Der Gedanke an Hündchen quält dich auch jetzt noch.«
»Nein! Es ist der Gedanke, dass ich Hündchen jemals vergessen könnte. Hündchen darf mir für alle Zeit den Schlaf rauben. Es muss für immer in meinem Kopf bleiben.«