Читать книгу Ich bin nur normal - Manuel Wagner - Страница 11
Essen gut, alles gut?
ОглавлениеGerade ist mein geliebtes »Haustier« verstorben. Kann ich ohne Hündchen jemals wieder glücklich werden? Ich starte einen Versuch, Glück zu erhaschen und gehe Lebensmittel shoppen. Das war ich schon lange nicht mehr, denn meistens lasse ich mir Lebensmittel liefern oder Hündchen bringt mir was vorbei, das heißt, brachte mir was vorbei. Bringen lassen, so praktisch es auch ist, bietet nicht das selbe Einkaufserlebnis, wie ein Besuch im Supermarkt. Wenn ich die frischen Produkte mannigfaltig im Supermarkt sehe, rieche, fühle, Obst und Gemüse in prächtigen gesunden Farben und aufregenden Formen bewundere, dann durchflutet mich ein Schwall atemberaubender Ideen für meine abwechslungsreichen Mahlzeiten. Neue Geschmäcker ausprobieren, mit avantgardistischer Leidenschaft neue Gerichte kreieren und mich dann an ihrem Geschmack selbst zu berauschen, scheint mir eine gute Möglichkeit, etwas Glück zu finden.
Unspektakulär bringt mich ein A.S.T. zum Supermarkt. Sanft setzt es mich vor dem Eingang ab. Dann gleitet es zu irgendeinem nächsten Kunden. Ich frage mich, wie die Fahrzeuge immer so sauber und aufgeräumt sein können. Es muss so etwas wie ein automatisches Reinigungssystem geben. Vandalismus habe ich sowieso schon ewig nicht mehr gesehen. »Schöne neue Welt«, denke ich ohne jede Ironie.
Im Supermarkt hat sich eine Menge verändert. Nur noch zwei Personen arbeiten dort gleichzeitig in einer 2-Stunden-Schicht. Die Maschinen und Automaten hingegen sind 24 Stunden, 365 Tage im Jahr im Einsatz. In der 1000 m² Halle begegnet man nur wenigen Menschen. Anscheinend verteilt sich die Kundschaft über den ganzen Tag, weil jeder nur zum Supermarkt geht, wenn er vorher mit der App gecheckt hat, ob der Markt leer genug ist. Es gibt dadurch keine absurden Verhaltensweisen von schrulligen Menschen, über die ich berichten könnte. Alles läuft erfreulich logisch, kühl und gelassen ab. Interessant ist allerdings das Lebensmittelangebot. Natürlich habe ich online schon Veränderungen im Sortiment festgestellt, aber es ist etwas anderes, wenn man den Supermarkt besucht und die Regale plötzlich mit komplett anderen Produkten gefüllt sind.
Ich hätte nicht gedacht, dass sich so schnell neue Gewohnheiten herausbilden. Da Menschen immer weniger von Soziomanie abgelenkt werden, treffen sie auch bei Lebensmitteln kaum noch dumme Entscheidungen. Ich sehe quasi kein Junkfood mehr. Stattdessen sehe ich bestens sortierte, hochwertige, gesunde Lebensmittel in Hülle und Fülle. Ich schaue mich in den Regalen genauer um und entdecke nur noch rohe, vegane Lebensmittel, die gemäß modernster Gesundheitsforschung konzipiert sind. Aber warum? Warum sollten jetzt auf einmal alle rohvegan leben? Ist das nicht total merkwürdig? Für Soziomanen sicherlich, aber für vernünftige Menschen keineswegs. Gewohnheit und schlechte Vorbilder hindern sie ja nicht mehr daran, andere ungewohnte und vor allem bessere Lebensmittel zu verlangen. Da sich Menschen durch Image und optisches Design nicht mehr täuschen lassen, sehen die Lebensmittel zwar einerseits unspektakulär, aber andererseits erfrischend authentisch aus. Auf jegliche Designelemente wird verzichtet. So etwas wie Marken gibt es nicht mehr. Viel wichtiger sind die wahren Informationen zu Herkunft, Nachhaltigkeit, Zutaten, Gesundheit und Qualität. Die meisten Produkte, egal ob frisch oder verarbeitet, sind mit kleinen Codes gebrandet, die man mit dem Nanophone scannen kann. Etiketten braucht man so nicht. Außerdem wird alles, was eine Verpackung braucht, in Mehrwegbehältern angeboten. Es gibt deswegen praktisch keinen Müll mehr. Gläser und Behälter aus BPA-freiem aus Pflanzen hergestellten, biologisch abbaubaren, transparenten Kunststoffen lassen den Blick frei auf die gesunden Wunder der Natur: Jackfrucht, Linsen, Bohnen, Quinoa, Sprossen, nahezu alle Sorten von Gemüsen und Pilzen, vielfältig gewürzt oder ganz pur, unmöglich aufzuzählen, was es alles gibt. Man muss es selbst sehen. Ich sehe es gerade und staune nicht schlecht, was ich dort finde.
Als ich so durch die Regale schlendere, entdecke ich sogar roh-veganes Katzenfutter, welches ausdrücklich vom Tierschutzbund empfohlen wurde. Diese Empfehlung muss er auch abgeben, denn bis vor kurzer Zeit wurde ausdrücklich davor gewarnt, Katzen rein pflanzlich zu ernähren. Diese Regel ist seit neustem Geschichte und die neue Empfehlung prangt gut sichtbar auf den Verpackungen. Die Empfehlung stammt vom vormals größten Kritiker rohveganer Ernährung, damit die neue Realität von wirklich allen Katzenbesitzer*innen angenommen werden kann.
Nicht nur für Katzen, sondern in ihrer Gesamtheit produziert die Lebensmittelindustrie, obwohl sie früher die Möglichkeit geleugnet hat, nur noch ernsthaft gesunde und preiswerte Nahrung. Die Verantwortlichen für die früheren Lügen der Lebensmittelindustrie wurden zur Rechenschaft gezogen. Wäre es nach mir gegangen, wären nur zwei Maßnahmen für diese Lügner in Frage gekommen; sie hätten sich entscheiden können, sich entweder einer sozionormalen Behandlung zu unterziehen oder wegen Betruges und kalkulierten Mordes von Mensch und Natur lebenslang mit anschließender Sicherheitsverwahrung ins Gefängnis zu gehen. Keine Ahnung, ob so verfahren wurde. Die Lebensmittelindustrie propagiert jedenfalls keine hoch verarbeiteten, tierischen Produkte mehr und auch keine Unmengen von Zucker. Ich bin erstaunt, dass Lebensmittel, die vorher als überteuerte Nischenprodukte galten, auf einmal Massenprodukte sind und der Einkauf für mich viel billiger geworden ist. Hingegen sind ungesunde Lebensmittel wie ölige Kartoffelchips oder Süßigkeiten zu teuren Nischenprodukten geworden. Wahrscheinlich werden sie irgendwann ganz aus dem Angebot verschwinden, weil niemand mehr so dumm ist sie zu kaufen.
Beinahe niemand vermisst tierische Produkte, denn durch das genetische Verfahren CRISPR lassen sich pflanzliche Produkte erzeugen, die nicht nur genauso gut oder besser schmecken als zum Beispiel saftige Steaks, sondern die gleichzeitig gesünder und besser verdaulich sind. Rindersteak oder andere Tierleichenteile schmecken im Vergleich zu den Fleischpflanzen wie vergammelter Abfall. Das ist nur möglich geworden, weil die meisten Menschen endlich befreit sind von den Zwängen in ihren Köpfen. Ernährung auf pflanzlicher Basis ist viel ressourcenschonender und günstiger geworden. Auch Tierleid wird immer weiter minimiert. Bauern und Verarbeiter, die in Abhängigkeit zu der Herstellung tierischer Produkte stehen, werden selbstverständlich vom Staat entschädigt, beziehungsweise ihre Umstellung auf pflanzliche Produktion wird großzügig gefördert. Diese Entwicklung hat ihre Ursache in der gewachsenen Empathiefähigkeit der Menschen. Nicht mehr nur unmittelbar nahe Menschen, wie Verwandte, Freunde und Nachbarn sind für den Einzelnen von Bedeutung, sondern auch alle anderen fühlenden Wesen haben den gleichen hohen Wert.
Was ist daran gerade so gut, dass ein rohveganes Schnitzel in meinem Einkaufswagen liegt? Wieso muss es überhaupt roh und vegan sein? Ist das nicht Blödsinn? Das können eigentlich nur soziomane Idioten fragen, aber ich erkläre es euch: Sowohl roh spart Ressourcen als auch vegan. Somit sind die Produkte günstiger und kosten weniger Energie, als wenn sie direkt oder indirekt von einem Tier stammen oder sonst wie hochenergetisch verarbeitet werden müssen. Außerdem ist die Qualität und der gesundheitliche Wert der Produkte zu 100% konstant. Mangelernährung und schlechter Geschmack gehören der Vergangenheit an, denn es herrscht jetzt eine »Alles geht, wenn man nur will«-Philosophie. Oder besser gesagt: Es herrscht eine »Alles geht, wenn einen das geheilte Hirn wollen lässt.«-Philosophie. Auf jeden Fall werde ich mir mein »Eiweißschnitzel« mit Basilikumschaum, Rote Beete-Mus und Fichtenparfait schmecken lassen. Früher fühlten sich Fleischesser von Veganern bevormundet. Faktisch wurden sie aber nur von der Lebensmittelindustrie bevormundet, die ihnen hochwertige, gesunde Produkte verweigerte.
Als ich schon zur Kasse gehen will, bin ich plötzlich geschockt, weil ich Fruchtsaft entdecke. Wieso gibt es so etwas Ungesundes wie Saft? Erst denke ich: »Naja, es sind bei weitem noch nicht alle sozionormal.« Dieser Gedanke war aber völlig daneben. Ich sollte mit den oberflächlichen Vorurteilen aufhören, denn was bin ich? Etwa ein Soziomane? Ich lache in mich hinein. Dann sehe ich mir das Produkt genauer an, lese den Code mit Nanophone und werde aufgeklärt: »Nährstoffschonend bei Niedrigtemperatur verarbeitet, ausschließlich fruktosereduzierte Früchte aus regionalem Anbau verarbeitet.«
Ich müsste glücklich sein, denn die Welt hat sich meinen Wünschen angepasst. Mein Einkaufswagen ist ein Füllhorn des gesunden, guten Genusses, aber stattdessen möchte ich laut aufschreien: »Hättet ihr mir nicht einen Arm nehmen können oder ein Bein, statt Hündchen für diese perfekte Welt zu opfern? Warum verlangt das Schicksal einen derart hohen Preis?«