Читать книгу Alles ist in mir - Manuela Müller - Страница 21

Оглавление

Umbruch ~ Gewohntes loslassen

Für mich war alles Vertraute mit dem Mauerfall verschwunden. Ich spürte allerdings erst viel später, was da mit mir passierte. Denn zu Beginn brachte der Westen viel Neues in meine Welt und auch eine große Freude von dem mit sich, was ich jetzt alles kaufen, entdecken und bereisen durfte.

Ich verbrachte meine Lehrzeit, die im Herbst 1989 mit den Unruhen in der ehemaligen DDR begann, in einem Wohnheim nahe Halle / Saale und fuhr nur am Wochenende nach Hause. Schon recht bald traf ich aus unserer alten Clique dort fast niemanden mehr an. Meine besten Freundinnen hatten in ihren Wohnheimen andere Freunde kennengelernt und kamen zum Teil nicht mehr heim. Nach der Maueröffnung im November 1989 vergrößerte sich unser Reiseradius und wir lernten Deutschland neu kennen. Es war einsam auf dem Dorf. Ich fühlte mich allein. Hinzu kam, dass meine Eltern und auch mein Bruder an den Wochenenden nun auch nicht mehr zu Hause waren. Meine Eltern hatten sich selbstständig gemacht und ein Gasthaus zur Pacht übernommen. Sie kamen nun immer erst spät am Abend nach Hause. Für den gewohnten Austausch blieb nicht mehr viel Zeit. Und ich verbrachte die Wochenenden mehr oder weniger allein. Allein in einem Schloss, wo außer einer anderen Familie niemand mehr wohnte (im ehemaligen Arbeiter und Bauernstaat waren dort viele Institutionen untergebracht). Nun war plötzlich niemand mehr da. Auch das Lehrlingswohnheim, das sich in der obersten Etage befand, war mittlerweile aufgelöst worden. Eigentlich kam ich nicht mehr gern hierher, doch wo sollte ich hin? Auf der Baustelle meiner Eltern wollte ich mich auch nicht erholen an meinen freien Wochenenden, denn das Gasthaus meiner Eltern wurde zu dieser Zeit noch renoviert. Außerdem hoffte ich immer noch darauf, meine Freunde anzutreffen. (Es gab damals keine Möglichkeit, sich über Telefon oder soziale Netzwerke zu verbinden.)

Manchmal fuhr ich mit zu einer Freundin, die ich aus dem Internat kannte, doch das war nicht das Gleiche. Mich zog es immer wieder heim. Denn ich habe mich bei meiner Familie immer zu Hause gefühlt. War ich doch, außer zu Ferienlagerzeiten und den Wochenenden, die ich bei meiner Omi verbrachte, nie wirklich getrennt von ihnen. Jetzt fühlte sich alles so anders an.

Eine mir unheimlich fremde Einsamkeit fing an, mich zu bewohnen und Gefühle des Auf-mich-allein-gestellt- und Getrenntseins verstärkten sich.

~ Das Ausmaß dieser traumatischen Entwurzelung konnte ich erst viel später begreifen. Zu viel Neues, zu viel Veränderung und eigentlich noch viel zu jung für das alles, fühlte ich mich diesem ganzen Umbruch einfach nur hilflos ausgesetzt und damit völlig überfordert. ~

Meine Freunde fanden es früher äußerst spannend, im alten Schloss zu Besuch zu sein. Oft stromerten wir auf dem bruchfälligen Dachboden herum, auf dem es nach Staub und altem Kram roch. Ich erinnere mich noch an die Sonnenstrahlen, die fast schon mystisch auf mich wirkten, wenn sie zu den Dachfenstern einfielen. Wir waren oft dort oben, obwohl die Eltern es verboten hatten. Dort machte ich auch meine ersten Begegnungen mit riesigen Monsterspinnen, die an den Dachfenstern ihre Netze gewebt hatten. Ich fand sie einfach nur gruselig. Auch wenn ich sonntags in den Keller gehen sollte, um eingewecktes Obst zum Nachtisch heraufzuholen, jagten sie mir einen Schrecken ein. Irgendwann weigerte ich mich, dort hinunterzugehen.

Wir hatten sogar eine schöne kleine Bücherei im unteren Stockwerk, wo wir Kinder uns regelmäßig Bücher ausleihen durften. Dort war man immer in bester Lesegesellschaft und der Geruch alter Bücher hing in der Luft. In bisher fast allen Lebensabschnitten zeigten sich mir die Bücher. Ich fand immer Gefallen am Lesen. Waren es einst Märchen und später Romane, lese ich heute eher Naturbücher, Fachliteratur und Autobiografien.

Früher war im alten Schloss immer was los, ich fühlte mich nie allein. Meine Eltern arbeiteten die letzten Jahre, in denen wir im Schloss wohnten, mit im Haus. Meine Mama kochte für den Kindergarten in einer urigen Küche im Souterrain des Schlosses. In den Ferien durften wir dort unten zu Mittag essen und manchmal bewahrte sie für meinen Bruder und mich eine Quarkspeise auf. Ich fand es sehr schön, meine Eltern immer in der Nähe zu wissen, na ja, bis auf die pubertären Ausnahmen eben.

Mein Papa arbeitete im ansässigen Lehrlingswohnheim als Erzieher. Mit den Jugendlichen spielten wir oft Tischtennis und zugleich übten wir Mädchen uns in der Kontaktaufnahme mit dem einen oder anderen gut aussehenden Jungen. Mein Papa unternahm viele Dinge mit uns Jugendlichen.

Regelmäßig fuhr er mit uns schwimmen an den Badesee mit echtem Sandstrand. So was kannte ich bisher nur von unserem Ostseeurlaub auf Rügen. Wir Kinder waren sehr gern dort am See, alberten herum oder sonnten uns im Strandkorb. Später, als wir flügge wurden, gingen wir dort am See unsere eigenen Wege und hielten Ausschau nach den Jungs. Meistens sind wir dann erst zum Abendessen heimgekommen, das meine Mama dann schon vorbereitet hatte.

~ Ich möchte meinen Eltern an dieser Stelle dafür danken, dass sie stets eine offene Tür für meine Freunde und die meines Bruders hatten. Egal ob zum Essen oder Übernachten, es gab immer einen Platz für sie. ~

Wir hatten einen Garten in der Nähe des Parks und einige Hühner, Enten und Meerschweinchen. Die Hühner sicherten uns für den Sonntagmorgen immer ein frisches Ei.

Ich mochte unsere ausgiebigen Familienfrühstücke, die sich schon mal bis zu zwei Stunden hinziehen konnten. Meine Eltern waren in dieser Hinsicht sehr entspannt. Zum Frühstück gab es immer Musik. Entweder aus dem Kofferradio meines Papas oder er legte eine Schallplatte auf. Ich liebte es, wenn wir alle zusammensaßen.

Leider sind die Schallplatten und auch so manches Ritual aus Kindheitstagen heute aus meinem Alltag verschwunden. Das bedauere ich sehr. Bei uns gab es auch keine Verpflichtung den Teller leer oder Nahrungsmittel aufzuessen, die man nicht mochte. Die Regel war, probieren ohne Zwang. Auch dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar.

~ Ein Mensch sollte vom Kleinkindalter an dazu ermuntert werden, aussprechen zu dürfen, wenn er etwas nicht mag. ~

Ich erinnere mich an Momente, in denen ich Angst hatte. Das Schloss stand zum Verkauf und an den Wochenenden reisten immer wieder Leute an, um den alten Stein zu besichtigen. Wildfremde Menschen spukten im Haus umher. Rückblickend ist das ein echt schrecklicher Gedanke für mich. Ich weiß noch, wie ich immer den Moment abpasste, nach draußen zu gehen, um diesen Fremden nur nicht begegnen zu müssen. Ich war damals 17 Jahre alt.

~ Wir hatten kein Telefon und ich hatte Angst! ~

Ich erinnere mich auch noch an einen Abend, an dem meine Eltern nicht zur gewohnten Zeit nach Hause kamen. Es war bereits dunkel und es war Spätherbst. Es war stürmisch und ungemütlich da draußen und die Straßen waren rutschig vom herabfallenden Laub. Außerdem war es bereits sehr spät. Ich lauerte die ganze Zeit am Fenster und wartete darauf, unseren Trabant endlich den Schlossberg hinunterfahren zu sehen. Eigentlich schlief ich sonst um diese Zeit schon und fand es irgendwie unheimlich, die halbe Nacht auf dem dunklen Flur herumzustehen. Diese Wartezeit wurde für mich zur Qual. Ich fühlte mich so allein und hilflos und machte mir große Sorgen, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte.

Mein Papa war ein guter Autofahrer und ich fühlte mich während unserer Ausflüge auch immer sicher. Jedoch hatte er bereits einen Autounfall erlebt, woran ich genau in diesem Moment denken musste. Ich war damals noch sehr klein und sehe ihn heute noch im Wohnzimmer sitzen, mit einer Platzwunde am Mund.

Unser Auto hatte damals noch keinen Haltegurt und das wurde meinem Vati zum Verhängnis. Es war Eisglätte und er rutschte mit unserem Wagen von der Straße direkt auf einen Baum zu. Er knallte aufs Lenkrad. Es tat mir damals so leid, ihn so zu sehen. Ich sah ihn da so hilflos sitzen und konnte nicht wirklich etwas für ihn tun.

~ Diese Bilder kamen an jenem Abend immer wieder in mir hoch und verstärkten meine Angst noch umso mehr. ~

~ Hätte ich damals schon über Tools wie Mindset-Arbeit und die wirkungsvolle Kraft meines Atems verfügt, dann wäre die Angst nicht zu so einem großen Monster in meinem Kopf mutiert. ~

Irgendwann viel später leuchtete oben am Berg ein Licht auf. Es kam näher und blendete mich. Ich hoffte und bangte zugleich.

Waren es meine Eltern? Mein Kopfkino erzählte mir die schlimmsten Geschichten. Noch jetzt beim Schreiben spüre ich diese uralte Angst. Doch heute tut sie mir nichts mehr!

~ Weshalb denkt man in den Momenten, in denen man sich sowieso schon ängstigt, oft an Situationen oder Filme, die das Gefühl von Angst noch weiter verschlimmern? Kennst du das auch? ~

Plötzlich erkannte ich den Wagen meines Papas. Ich war wütend und froh zugleich. Wütend, weil ich so lange im Ungewissen war, und total beruhigt, sie alle gesund und in meiner Nähe zu wissen.

Alles war damit gut.

Meine Familie hat übrigens keine Erinnerung mehr daran, weshalb sie an diesem Tag so spät nach Hause kam.

~ Diese alte Angst hatte sich in meinen Zellen abgespeichert und erst nach vielen Jahren innerer Arbeit und dem Betrachten meiner Ängste, wurde mir bewusst, weshalb ich das Alleinsein so lange nicht aushalten konnte. Dieses Erlebnis hat eine totale Angst in mir ausgelöst, meine vertraute Familie zu verlieren und plötzlich ganz ohne sie zu sein. Allein! ~


Alles ist in mir

Подняться наверх