Читать книгу Alles ist in mir - Manuela Müller - Страница 22
ОглавлениеOrtswechsel
Nach den Erlebnissen allein im Schloss, in dem ich es besonders während der Herbststürme ziemlich gruselig fand, entschied ich mich, künftig nicht mehr allein dort zu bleiben. Der Sturm ließ draußen die Bäume quietschen und durch die alten Fenster zog der Wind. Außerdem knarrte der Fußboden in dem alten Gemäuer überall. Manchmal kam meine Omi noch zu Besuch. Dann fand ich es richtig schön, Zeit mit ihr allein zu haben. Sie kochte für uns und später sahen wir uns etwas im Fernsehen an. Oma konnte ich immer alles erzählen, was mir auf dem Herzen lag. Ich fühlte mich sehr behütet und geborgen in ihrer Nähe. Wir hatten eine schöne Zeit, als wir alle noch zusammen im Schloss wohnten. Später bin ich dann an den Wochenenden zu meinen Eltern in das Gasthaus gefahren und noch etwas später zogen wir dann ganz dorthin.
Die Wohnung lag in der oberen Etage des Gasthauses und war nun vollständig renoviert, sodass wir die Zimmer beziehen konnten. Nun kam wieder etwas Neues auf mich zu. Ich hatte mich doch gerade erst mit der Stadt arrangiert, in der ich meine Ausbildung zur Erzieherin absolvierte. Ich kam mir vor, als lebte ich in verschiedenen Welten.
Dieses alte Lehrlingswohnheim lag direkt an einer stark befahrenen Straße. Wir drei Mädels wohnten zusammen in einem Zimmer unter dem Dach. Gemütlich war es nicht, weil es voller alter Möbel stand. Doch jede von uns brachte ein bisschen Herzblut mit hinein und wir machten es uns so schön es ging. Ich erinnere mich an die Tage, wenn wir auf unseren Betten saßen und gemeinsam sangen. Eine von uns spielte immer mit der Gitarre dazu. Manchmal lasen wir uns auch gegenseitig vor. Damals erfuhr ich zum ersten Mal vom kleinen Prinzen, von seinen Expeditionen und von seiner Liebe zur Rose. Die Weisheiten der Geschichte konnte ich allerdings erst viele Jahre später verstehen.
Ein kleiner Lichtblick war das Theatercafé, in dem wir Mädels uns öfter versammelten. Im Vergleich zu heute gab es damals noch Gemeinschaft mit dem Charme von echter Nähe. Man traf sich, saß zusammen und schaute sich in die Augen und nicht auf die Handytastatur.
Ich fuhr nun auch unter der Woche öfter zu meinen Eltern ins Dorf, da ich immer mehr das Gefühl bekam, in diesem Wohnheim und der tristen versmogten Stadt zu ersticken. Zuhause konnte ich den neuen Wirkungsort meiner Eltern allerdings noch nicht nennen.
Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass nun immer fremde Menschen da waren, wo ich ab sofort wohnen sollte.
Das Gasthaus hatte zu Beginn täglich geöffnet und meine Eltern arbeiteten die meiste Zeit. Die Kochkunst meiner Mama zog viele Gäste an. Viele von ihnen waren sehr freundlich. Sie kamen regelmäßig zum Essen und gaben ein Trinkgeld, andere wiederum waren total anstrengend und beanspruchten bei der Essensauswahl enorme Extrawünsche. An den Wochenenden half ich meinen Eltern, ich hatte ja auch nicht wirklich etwas Besseres zu tun. Ich kannte dort bisher niemanden, mit dem ich meine Zeit teilen konnte. Daher wurde dieses Gasthaus für einen gewissen Zeitraum neben dem Ort, wo ich studierte, mein Lebensmittelpunkt.
Manchmal haben wir dort Dinge erlebt, an die wir uns in der Familie nicht so gern erinnern. Da gab es diesen Samstag, wo eine Gruppe junger Leute (Anhänger einer rechtsextremen Gruppierung) durch unser Dorf marschierten. Mir wurde angst und bange, als ich sie durch den Vorhang des Gastraumes beobachtete. Mein Herz schlug schnell. Ich hatte so was vorher noch nie erlebt.
~ Ich fragte mich, in welchem Land ich hier lebe und ob ich mich hier noch sicher fühlen kann. ~
Als sie dann geschlossen ihre rechte Hand hoben, kam ich mir vor, als sei ich stille Beobachterin eines Drehbuchs für einen Film über das wohl dunkelste Kapitel Deutschlands. Unglaublich war diese Angst, die ich da fühlte und sie steigerte sich noch, als die Gruppe sich geradewegs auf unser Gasthaus zubewegte. Ich hatte totale Panik. Meine Eltern waren sich einig, diesen jungen Wilden den Zutritt nicht zu verwehren. Das einzige Beruhigende an dieser nervenzehrenden Situation war, dass ein Typ dieser Truppe der Sohn eines Dorfbewohners war, mit dem man außerhalb der Gruppe gut zurechtkam. Er war allerdings nicht das Gruppenoberhaupt und der Verlauf der gegenwärtigen Situation war nicht einzuschätzen. Wir mussten uns darauf einlassen und das Beste hoffen.
Ich vertraute meinem Vater und bin heute noch über seine Souveränität erstaunt, die er damals an den Tag legte. Ich erinnere mich daran, dass er ihnen genauso freundlich begegnete, wie allen anderen Gästen auch. Als sie etwas lauter wurden und anfingen, nationalsozialistische Propaganda zu verbreiten, bat mein Papa sie freundlich und bestimmend, sich im Gastraum ruhig zu verhalten, um die Ruhe der anderen Gäste nicht zu stören. Ich hatte Angst um meinen Papa. Wir konnten die Lage überhaupt nicht einschätzen und ich spürte in diesen jungen Menschen eine hohe Gewaltbereitschaft. Mein Vater hatte schon immer einen guten Draht zu Menschen.
In meinem Heimatdorf hat er die Jugend immer für sich begeistern können und viel für sie getan während seiner langjährigen Funktion als Bürgermeister. Oft war er nachsichtig mit ihnen, wenn sie irgendeinen Mist anstellten und auch ein richtiger Kumpel, wie ihn meine Freunde oft nannten. Wenn ich meine alte Heimat besuche, fragen die Menschen nach ihm und lassen ihn herzlich grüßen.
~ Ein schöneres Geschenk kann man einem Menschen nicht machen, als ihm zu zeigen, dass er immer im Herzen bleiben wird. ~
Die beängstigende Situation mit den Jugendlichen im Gasthaus hat sich damals glücklicherweise friedlich gelöst.
~ Doch auch diese alte Angst hatte sich tief in mir einquartiert! ~
Meine Eltern hatten in den ersten Jahren immer mal Hilfe im Service. Später, als der Kundenstrom schleichend weniger wurde, bewirtschafteten sie dann alles allein. Der Bau der A14 nahm meinen Eltern die Stammkundschaft. Die Fernfahrer bevorzugten nun die Autobahn und mieden die Bundesstraße. Treue Gäste nahmen einen Umweg in Kauf und kamen bis zur Schließung des Gasthauses. Meine Mama kochte mit Leib und Seele für ihre Gäste. Sie ging in ihrer Aufgabe völlig auf. Für meinen Papa, den Eindruck hatte ich oft, war diese neue Tätigkeit weniger erfüllend. Immerhin stand er nun von früh bis abends hinter dem Tresen, um die Gäste zu bedienen. Oft musste er geduldig warten, bis der letzte Gast, der sich seit Stunden an seinem Bier vergnügte, endlich den Gastraum verließ. Mein Papa ist nämlich kein Typ, der einfach jemanden vor die Tür setzt. Er hat ein geduldiges Wesen.
Ich glaube, dass meinem Papa, ebenso wie mir, sein vertrautes Lebensumfeld abhandenkam mit dem Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung. Sein Lebensort, seine Freunde und seine Aufgaben waren nicht mehr die gleichen, die ihn zuvor sehr erfüllt und stolz gemacht hatten. Irgendwie wirkte er immer mehr in sich gekehrt und nachdenklich. Er folgte einer Aufgabe, die nicht wirklich für ihn bestimmt war, und sein inneres Licht schien langsam zu verglühen. Außerdem hatten meine Eltern kein Privatleben mehr.
Mit der Zeit lernte ich die Jugend des Dorfes immer besser kennen. Manchmal nahmen sie mich in eine Disco mit oder wir trafen uns am Dorfteich. Später hatte ich dort dann eine Freundin. Mit Alex halte ich heute noch lockeren Kontakt. Meine Eltern arbeiteten in den ersten Jahren fast rund um die Uhr, gönnten sich später allerdings einen Ruhetag. In den ersten Jahren machten sie noch ihren jährlichen Erholungsurlaub und reisten umher. Später, als die Geschäfte dann nicht mehr so gute Zahlen schrieben, trieben sie sich immer mehr an und gönnten sich keine freien Tage mehr.
~ Manchmal denke ich, Papa spürte intuitiv, dass sein Leben und auch das meiner Mama bald schon eine andere Wendung nehmen sollte. ~