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ОглавлениеPapa, mein Fels in der Brandung
Papa wirkte nicht mehr glücklich auf mich, er wurde immer schweigsamer und außerdem verlor er zunehmend an Gewicht. Mein Fels in der Brandung, der sich stets um alle wichtigen Entscheidungen kümmerte, der immer Geduld und Ruhe ausstrahlte und mich unterstützte. Dieser kraftvolle, in sich ruhende Fels wurde immer schmaler. Papa erkrankte an Diabetes und seine Nieren gerieten außer Funktion. Leider wurde die Nierenerkrankung erst in einem Spätstadium festgestellt und Papa damit zum Dialysepatienten.
~ Wieder eine Sorge, die sich tief in meinem Inneren einbrannte! ~
Ich lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bei meinen Eltern, hatte meine eigene Familie und war in meine eigenen Tagesroutinen sehr eingebunden. Es ging dann alles sehr schnell. Das Geschäft meiner Eltern lief wirtschaftlich mittlerweile überhaupt nicht mehr und Mama musste in regelmäßigen Abständen den Notarzt rufen, weil es Papa sehr schlecht ging. Da Mama uns Kinder nicht mit zusätzlichen Sorgen belasten wollte, stemmte sie viel allein in dieser schweren Zeit. Irgendwann trafen wir in der Familie die gemeinsame Entscheidung, dass meine Eltern ihren Betrieb aufgeben. Ich weiß, dass dieses Thema seit Jahren im Raum stand. Doch die Existenzängste hatten sie lange in ihrer Entscheidung behindert.
~ In gewisser Form erging es mir während meiner Selbstständigkeit ganz ähnlich. Ich bediente ein gleiches Muster, das der Existenzangst. Ich schob meine Entscheidung zu gehen so lange vor mir her, bis letztlich mein Körper für mich entschied und mir die Krankheiten sandte. ~
Papa war immer schon sehr introvertiert, wenn ihn eigene Themen beschäftigten. Anderen Menschen gegenüber war er immer ein guter Ratgeber, aber bei sich selbst konnte er schon oft ins Grübeln verfallen. Und zu viel Grübeln macht den Körper krank.
Meine Eltern verkauften ihr Haus und vollzogen einen Ortswechsel in die Stadt, um den Verwandten nahe zu sein. Dann überstürzten sich für meine Mama die Ereignisse. Mein Papa erlitt zwei Schlaganfälle und seither ist seine linke Körperhälfte gelähmt. Die Schulmediziner in der Reha-Klinik in Schwerin machten uns nicht viel Hoffnung, was Papas Zustand anging. Wir fuhren so oft es ging zu ihm und wussten nie, ob es unser letzter Besuch sein würde. Ich sehe seine leblosen Augen noch genau vor mir. Er saß oft stundenlang in seinem Rollstuhl und starrte ins Leere. Ich wusste nicht, was er fühlte oder dachte, denn er sprach nicht. Er konnte nicht einmal mehr das, sprechen. Es war doch schon schlimm genug mit anzusehen, wie er durch eine künstliche Sonde ernährt wurde. Ihm fiel das Schlucken sehr schwer. Niemand hat so ein Schicksal verdient und schon gar nicht mein Papa in seinen besten Jahren.
Wir brachten selbst gemalte Bilder meiner Tochter Laura und Familienfotos mit ins Krankenhaus und beklebten sein Bett und seinen Schrank, um ihm Kraft und Zuversicht zu geben.
Wir brauchten ihn. Wir wollten, dass er lebt!
Ich erinnere mich an diesen Sonntag, als ich mit Papa im Rollstuhl nach draußen in den Klinikpark fuhr. Ich spürte plötzlich, dass er sich nicht aufgeben wollte. Sein Geist wollte wieder erwachen. Leider sahen das einige Ärzte dort anders. Sie zerstreuten unsere Hoffnung immer wieder.
~ Frau M., sie müssen davon ausgehen, dass ihr Vater sich an nichts mehr erinnern und auch keine Fortschritte machen wird. Die Nervenzellen sind durch die Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr im Hirn abgestorben und bilden sich nicht neu. ~
Sollte das nun das Ende sein? Ich erhielt keine Antwort, nicht einmal die: Wir versuchen alles! Unsere ganze Familie bekam den bitteren Eindruck, als hätte man Papa schon abgeschrieben. Das ging eine ganze Weile so, bis Mama aktiv wurde und unseren Vati nach Hause in ein Pflegeheim umquartieren ließ. Sie hatte natürlich im Vorfeld mit dem sozialen Dienst und dem Fachpersonal des Heimes alles besprochen. Es sollte alles kein Problem darstellen und sein Transport wurde genehmigt. In der Reha konnte er sowieso nicht dauerhaft bleiben, das Krankenhaus war keine Option und zu Hause war niemand auf seine Pflege eingestellt.
Der Alltag sah für meine Mama in den folgenden Jahren so aus, dass sie bis auf kleine Ausnahmen fast täglich für mehrere Stunden an seiner Seite im Heim war. Sie unterstützte die Pflegeschwestern sehr, indem sie sich vorab selbst ins Thema einweisen ließ und viele pflegerische Tätigkeiten an Papa schon selbst verrichtete. Sie brachte ihm auch jeden Tag selbstgekochtes Essen mit. Das erste Weihnachten im Heim war das Schwerste und zugleich das Glücklichste für uns alle. Die Familie war vollständig da und wir hatten unseren Vati inmitten von uns. Mama hatte sogar einen kleinen Weihnachtsbaum aufgestellt. Papa war nicht mehr der Alte, doch er war auf dem Weg zurück ins Leben. Seine Augen zeigten wieder Emotionen, oft auch Tränen. Er konnte sich auch zunehmend deutlicher artikulieren, was er durch die Hilfe seiner Ergotherapeutin komplett neu erlernen musste. Zum Essen war keine Sonde mehr nötig. Er musste sich jedoch daran gewöhnen, gefüttert zu werden.
~ In diesen schweren Zeiten empfand ich es als sehr heilsam, eine große Familie zu sein. ~
Oft kam Besuch ins Heim. Papa hatte immer jemanden um sich. Einige unserer Familienmitglieder können sehr witzig sein und heiterten ihn auf. Auch einige der Therapeuten oder Pflegeschwestern unterstützten uns durch ihren aufbauenden Humor. Manchmal nahmen wir die Gitarre mit ins Heim und sangen gemeinsam. Das war immer sehr schön. Meistens begann Papa schon nach den ersten Versen zu weinen, weil er so emotional berührt und glücklich war. Für meine Mama entwickelte sich dadurch ganz latent eine Selbstverständlichkeit, dauerhaft präsent zu sein für ihn, da sie voller Angst und Sorge war, dass Papa es falsch verstehen könnte, wenn sie mal nicht bei ihm ist. Papas Verlustängste sind nach wie vor stark ausgeprägt.
~ Einige Jahre später hat Mama, nachdem die Wohnung behindertengerecht umgebaut wurde, unseren Papa zu sich nach Hause geholt. Sie macht das ganz großartig und wir alle sind sehr stolz auf sie. Es ist unglaublich mit anzusehen, wie sie sich jeden Tag fast aufopferungsvoll um ihn kümmert und im Grunde kein eigenes Leben mehr hat. ~
Papa ist immer noch halbseitig gelähmt und seine Nieren sind nur noch durch die Dialyse, die dreimal in der Woche stattfinden muss, funktionsfähig. Mama hat sich in den letzten Jahren sehr viel Wissen angeeignet und neue Pfade betreten.
~ Meine Mama hat diese Krise als Chance genutzt und ist daran enorm gewachsen und mutiger geworden. ~
Wie oft sie jedoch geweint hat, ohne dass wir Kinder es merkten, möchte ich nicht einmal erahnen. Unsere Mama ist eine wunderbare starke Frau und sie hat mir vorgelebt, dass man es schaffen kann, durch Krisen zu gehen! Mama ist ein Segen für uns alle.
Ich bin sehr dankbar, dass sie meine Mama ist.
Papa ist glücklich, wieder zu Hause zu sein, und es fühlt sich so an, als hätte er sein Schicksal akzeptiert. Die Übungen mit den Therapeutinnen befolgt er brav, jedoch haben wir mittlerweile nicht mehr die Hoffnung, dass seine linke Körperhälfte wieder intakt wird. Mama und Papa haben sich eingerichtet in ihrer Welt.
~ Der Arzt hat kein Recht behalten. Glaube versetzt Berge und Liebe kann so viel möglich machen. ~
Papa kann mittlerweile wieder richtig gut sprechen. Er nimmt seine Nahrung selbstständig zu sich und ist geistig, meistens zumindest, voll auf der Höhe. Wir sind dankbar, dass alles so ist.