Читать книгу Das Phantom vom Pfaffenteich - Marc Kayser - Страница 6
Оглавление4
Timmermann hob den Kopf und schob den Ordner von sich. Die Kommissarin blickte ihn weiter erwartungsvoll an. Sie strich sich eine Locke aus der Stirn.
»War ihr Bruder der Letzte, der sie lebend gesehen hat?«, fragte sie.
Timmermann blickte kurz nach oben. Zwei Fliegen umkreisten mit einem unüberhörbaren Gebrumm unermüdlich den Lampenschirm. Er senkte wieder seinen Blick und sagte: »Mathildas Mutter ging kurz nach sechs aus dem Haus, nahm Leon dann gleich mit in den Frühhort. Mathilda versandte ihre letzte Nachricht um 6.42 Uhr an ihre Schulfreundin mit der Mitteilung, dass sie jetzt losgehen würde. Welchen Weg sie zur Schule nahm, das wissen wir nicht. Ihr Mitschüler Pascal sagte aus, dass er auf Mathilda an der Bushaltestelle ab circa sieben Uhr etwa zwanzig Minuten wartete und dann allein zur ›ecolea‹ ging. Dort ist aber Mathilda nie angekommen. Seit circa einer Woche haben wir aber die traurige Gewissheit, dass Mathilda Rausch nicht mehr lebt. Die Rechtsmediziner haben die DNA des Skeletts und die Zähne eindeutig Mathilda zuordnen können. Ihr Mörder muss den Leichnam sehr sorgfältig in einen Teppich eingewickelt und irgendwo dort abgelegt haben, wo ein städtischer Entsorger Container mit Bauschutt, Sperrmüll und Holz aufnimmt und auf die Deponie abtransportiert.« Timmermann hielt jetzt inne. Er atmete durch. Die Kommissarin war etwas bleich. Solcherart Ausgang einer Tat ging ihr nahe und wühlte sie auf. Dieser Mord war alles andere als ein Routinefall.
»Was ergab die Obduktion, die sicher nicht einfach war?«, erkundigte sie sich.
»Der Kehlkopf war eingerissen, das weist auf tätliche Gewalt am Hals hin. Außerdem war ihr Hinterkopf völlig zertrümmert.«
»Keine Fremd-DNA?«
»Nichts. Dennoch können wir eine mit dem Mord einhergehende Vergewaltigung nicht ausschließen. Beweisbar wäre sie ohne DNA eh nicht.«
»Vielleicht ist sie damals ihrem Mörder auf dem Weg zur Schule begegnet …«, sinnierte die Kommissarin.
»Oder sie machte noch einen kleinen Ausflug, hatte niemals den Plan, an dem Tag zur Schule zu gehen, und begab sich vielleicht sogar freiwillig in die Hand ihres späteren Mörders, das wissen wir nicht. Wie ich eingangs schon sagte, hat die SOKO ›Mathilda‹ damals in alle Richtungen ermittelt, Suchtrupps durchkämmten die halbe Stadt und Teile des Umlands. Doch wir fanden weder ihr Handy noch Kleidungsstücke. Wir wissen also bis heute nicht, mit wem sie Kontakt über Messenger-Dienste oder Ähnlichem hatte. Ihre Chats auf ihrem Laptop waren die eines heranwachsenden Mädchens und boten keinerlei Auffälligkeiten. Wir haben auch einzelne IP-Adressen ihrer Chatgegenüber überprüft. Negativ. Und da sie wenig bis gar nicht telefonierte, eher Nachrichten schrieb, war auch die Funkzellenabfrage für ihre letzten Standorte nicht ergiebig. Allerdings …«, und hier setzte Timmermann eine sehr bedeutungsvolle Pause, »… war um 6.45 Uhr, also dem Zeitpunkt ihres mutmaßlichen Verlassens des Wohnhauses, neben ihrem Handy ein weiteres Mobiltelefon in derselben Funkzelle eingeloggt. Das Handy gehörte zu einer männlichen Person, die nebenan wohnte. Wir haben sie damals diskret überprüft. Ordentlicher Leumund, keine Vorstrafen, er war sauber.«
»Wie alt?«, fragte Eva Lindenthal.
»Siebenundzwanzig.«
»Selten, dass jemand in dem Alter Mädchen umbringt«, gab sich die Kriminalkommissarin informiert. »Warum war er sauber? Ist er es nicht mehr?«, hakte sie nach.
»Wer weiß das schon«, sagte ihr Vorgesetzter, »Menschen ändern sich manchmal rasch. Aber etwas anderes wollte ich Ihnen mitteilen. Ein Mann eines mobilen Blumenstands soll vor zwei Tagen ein gerade dreizehn Jahre altes Mädchen angesprochen haben, ob sie ihn befriedigen würde. Sie wohnt ebenfalls in der Straße, in der auch Mathilda wohnte. Die Beschreibung des Mädchens von dem Mann passt allerdings nicht zu dem, den wir damals nur oberflächlich überprüften. Wir haben die Anzeige der Mutter des Mädchens vorliegen und gehen jetzt natürlich von Amts wegen der Sache nach.«
»Aber wenn er nicht auf die Beschreibung passt, was könnte der vergleichsweise junge Mann damit zu tun haben? Und das Ansprechen eines Menschen auf der Straße ist allenfalls Belästigung, aber strafbar ist es nicht«, gab Eva Lindenthal zu bedenken.
»Das ist richtig«, gab Timmermann zu. »Aber was ist, wenn doch mehr dahintersteckt? Es gibt zu Mathilda möglicherweise drei Übereinstimmungen: Das Mädchen ist minderjährig, vaterlos aufgewachsen, sagt, es kenne den Mann vom Sehen, und es hat eine sehr ähnliche Figur wie Mathilda: sehr schmal, kaum Brust, eher noch jungenhaft als fraulich.«
Timmermann beugte sich aus seinem Sessel zur Kommissarin vor. Seine Stimme bekam jetzt einen etwas härteren Klang: »Also, die Ermittlungen verliefen im Sand. Wir haben damals fast alle Sexualstraftäter aus der Region und darüber hinaus überprüft. Entweder saßen sie im Knast oder konnten physisch nicht vor Ort sein oder hatten ein Alibi. Aber die Öffentlichkeit fragt sich natürlich weiter, warum der Mädchenmörder bis heute nicht enttarnt und gefasst wurde. Wir sind geradezu dazu verurteilt, neuen Spuren nachzugehen, auch wenn es vielleicht keine gibt, und müssen wortwörtlich jeden Sandkrümel umdrehen, ob sich darunter ein noch kleinerer Sandkrümel befindet.«
»Was sagt die Staatsanwaltschaft?«, fragte die Kommissarin und hatte sich um einen ruhigen Ton bemüht. Sie wusste, dass zu großer Druck auf Ermittlungsbehörden auch schnell das Gegenteil von dem bewirken konnte, was er eigentlich erreichen sollte.
»Wir haben von der Staatsanwaltschaft zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein grünes Licht für verdeckte Ermittlungen, welcher Art auch immer. Wir laden den Mann vor, und er soll uns erklären, ob oder warum er das Mädchen angesprochen hat. Es gilt ja die Unschuldsvermutung. Vielleicht übertreibt das Mädchen, und die Mutter reagiert hysterisch.«
»Oder er ist der Falsche«, sagte Eva Lindenthal trocken. »Wenn es so läuft wie bei solchen Anzeigen oft, dann erscheint er gar nicht persönlich, sondern sein Anwalt verlangt Akteneinsicht, die Zeit vergeht, und am Ende streitet er alles ab, weil niemand Zeuge war.«
»Ja«, sagte Timmermann etwas konsterniert, »das befürchte ich auch.«
»Hmm«, ließ sich die Kommissarin vernehmen. »Was tun wir?«
»Wir laden ihn vor, das ist der offizielle Weg. Parallel dazu observieren wir ihn.«
»Das ist illegal«, platzte es aus Eva Lindenthal heraus, sie ahnte aber bereits Timmermanns Antwort.
»Deshalb sind Sie hier, Frau Kommissarin. Überprüfen Sie doch mal außerordentlich diskret das Umfeld dieses Mannes. Mich lässt einfach der Gedanke nicht los, dass dieser Typ zur gleichen Uhrzeit mit Mathilda in einer Funkzelle war und in ihrer Nachbarschaft wohnt. Und nun diese Anzeige. Wieder eine Minderjährige aus der Hospitalstraße, wieder dieser Unbekannte.«
Die Kommissarin schwieg einen Moment lang.
»Warum glauben Sie immer noch, dass er als Täter in Frage kommt? Müssen wir nicht völlig neu denken? Was ist mit einer Schülerbefragung an Mathildas Schule, Aufarbeitung des Falles für ›Aktenzeichen XY … ungelöst‹, eine Recherche in den benachbarten Bundesländern? Vielleicht kommt der Mann ab und an in die Schweriner Provinz, versucht, ein Mädchen abzugreifen, und verschwindet wieder?« Die Kommissarin erhob sich bewegt, stellte sich an Timmermanns Bürofenster und blickte hinunter auf die Straße. Zwei gelbe Plastiktüten eines Discounters mit Hund tanzten miteinander ausgelassen im Wind.
»Das arme Mädchen«, sagte sie leise. »Sie war, wie viele Jugendliche sind. Verträumt, verspielt, verliebt.«
»Verliebt?«, fragte Timmermann.
»Ganz sicher hatte ihr ein Verehrer eine Nachricht gesandt, und sie genoss es. Jedenfalls schlussfolgere ich das aus Ihrem Bericht.«
»Das mag sein«, antwortete ihr Vorgesetzter. »Doch aus ihrem Umfeld gibt es auch nicht den leisesten Hinweis darauf, dass ihr jemand wehtun wollte oder gar plante, sie zu töten. Nichts, rein gar nichts.«
»Ich würde gern rauchen«, sagte Eva Lindenthal, »das beruhigt mich.« Und im Moment bereute sie ihre Worte. Sie hatte eben ohne wirkliche Not eine Schwäche von sich preisgegeben, und das ausgerechnet gegenüber ihrem Vorgesetzten.
»Rauchen Sie aus meinem Fenster«, sagte Timmermann jovial, »ich brenne mir ein Zigarillo an. Meine Sekretärin schützt uns, sie kennt meine heimliche Passion.«
Die Kommissarin grinste überrascht und fröhlich. Ihr war Timmermann sympathisch, auch wenn ihm der Ruf vorauseilte, ein eitler Tropf zu sein, der sich mit seinen guten Beziehungen ins Innenministerium brüstete. Angeblich gingen er und der Innenminister zusammen am Wochenende golfen. Und wenn schon, hatte sie bei ihrer Bewerbung auf die Kommissariatsstelle in Schwerin gedacht, jeder, der Chef war, sollte einen Spleen haben dürfen. Und bei einem Blick durch Timmermanns Arbeitszimmer wurde sie in ihrer Ansicht bestätigt, dass dessen Merkwürdigkeiten ausgewachsen waren.
Einträchtig standen sie nebeneinander und dampften. Timmermann beobachtete sie kurz von der Seite, vermaß ihr Gesichtsprofil mit den Augen.